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„Aufheben, was nicht vergessen werden darf".

Oepen, Joachim
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 378-380
Online review

BESPRECHUNGEN „Aufheben, was nicht vergessen werden darf"  DIETMAR SCHENK: "Aufheben, was nicht vergessen werden darf". Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart: Franz Steiner 2013, 273 S. ISBN: 978-3-51510396-1.

,Archivkunde',,Einführung in die Archivarbeit', … -- an solchen und ähnlichen Titeln, die meist als Handbücher einen Überblick über das Fach vermitteln, besteht wahrlich kein Mangel. Warum dann aber noch eines, das sich mit "der ,Geschichte der Archive' -- einer im wahrsten Sinne des Wortes denkwürdigen, jahrhundertealten Kultur des ,Aufhebens'" (S. 9) befasst, zumal der Autor selbst bereits 2008 eine ,Kleine Theorie des Archivs' vorgelegt hat, 2014 bereits in 2. Auflage erschienen? Weil seit einer allgemeinen Archivgeschichte' tatsächlich schon mehr als sechs Jahrzehnte ins Land gegangen sind, wenn man denn darunter weniger die Geschichte einzelner Archive, Archivverwaltungen oder -sparten, sondern mehr die historische Entwicklung der "Archivpraxis und ihre[r] Bedingungen insgesamt" (S. 9) versteht. Gemeint ist die 1953 posthum erschienene ,Archivkunde' des preußischen Staatsarchivars Adolf Brenneke (1875-1946), an die Dietmar Schenk anknüpfen möchte, so dass er sich in einer recht ausführlichen Einleitung (S. 13-37) zunächst mit dem Thema , Archivgeschichte' als solches auseinandersetzt und dabei nicht zuletzt auf dessen jüngere Positionsbestimmung durch Wilfried Reininghaus rekurriert. Dabei teilt Schenk Reininghaus' "Orientierung an der deutschen Geschichtswissenschaft" (S. 17), postuliert aber eine stärkere Einbeziehung der historischen Kulturwissenschaften. Das schlägt sich konkret in der Betrachtung von Archiven als Erinnerungsorte und dem Themenkreis ,Erinnern und Vergessen' nieder, mithin alles Funktionen, welche der Institution Archiv überhaupt erst in den letzten Jahrzehnten zugewachsen sind. Zudem setzt Schenk sich mit Reininghaus' Diktum auseinander, Brennekes Archivgeschichte lasse eine leitende Fragestellung vermissen (S. 20-23).

Die Studie unternimmt es also, "Konstellationen, Zwecke und Formen des Archivs im Kontext von Politik und Gesellschaft, Kultur und Wissen" (S. 31) zu untersuchen, beginnend mit den antiken Voraussetzungen und einsetzend "im alten Europa". Dass der Autor dabei eine grundsätzlich optimistische -- keineswegs apologetische! -- Sicht der Geschichte, auf die Gesellschaft sowie auf Bedeutung und Möglichkeiten von Archiven vertritt, verschweigt er nicht. Leise Zweifel seien gleichwohl angemeldet, ob sich manche Vorstellungen nicht doch an den Realitäten etwa des Stellenwerts von Geschichte in Schule und Universität brechen, wenn die Rede ist etwa vom "Verständnis der Geschichte", das dabei hilft, "die komplexen Probleme der heutigen Informations- und Wissensgesellschaft gedanklich zu bewältigen" (S. 26). Oder wenn Aleida Assmann mit "das historische Archiv [ist] eine wichtige Errungenschaft der Zivilgesellschaften" (S. 11) zitiert wird und Schenk aus dem Zustand der Archive auf die kulturellen Befindlichkeiten einer Gemeinschaft schließen möchte (S. 164), dann stellt sich die keineswegs nur zynisch gemeinte Frage, ob dies alles etwa auch der Kölner Zivilgesellschaft vor dem 3. März 2009 bewusst war. Auch bei der Beschreibung von Phänomenen des modernen archivischen Alltags fragt sich der Rezensent, ob bisweilen nicht mehr das Theorem oder der -- verständliche und sogar geteilte! -- Wunsch die Feder bzw. Tastatur geführt haben, wenn etwa sinkende Benutzerzahlen mit neuen Nutzungsformen und -gewohnheiten begründet und sogar das Hinzutreten neuer Gruppen von Benutzern konstatiert werden (S. 106).

Insofern sich die Studie weniger mit der konkreten Historie einzelner Archive befasst, sondern eine ,Geschichte des Aufhebens' problemorientiert und innerhalb ihrer jeweiligen Kontexte schreiben möchte, ist ein gewisses Abstraktions- und Reflexionsniveau unvermeidbar, was leicht zu einer theoriegesättigten, aber schwer lesbaren Darstellung führen kann. Dieser Gefahr erliegt Schenk in dessen nicht, wozu auch der essayistische Stil beiträgt. Dass es dabei einleitend bisweilen zu Allgemeinplätzen kommt (z.B.: "Gewiss, es gibt eine fatale Eigengesetzlichkeit der Bürokratie […]" [S. 63]; "Das kulturell Ferne wird allzu oft in verzerrten Bildern wahrgenommen, die letztlich nur dazu dienen, dem Nahen und Eignen einen Spiegel vorzuhalten […]" [S. 82]; "Viel wurde zerstört und ging verloren, ehe sich das Aufheben der Reste als Aufgabe aufdrängte" [S. 85]), wird man dem Autor nicht vorwerfen wollen. Eine Auflockerung erfährt das Essay sodann durch die mehr oder weniger ausführlichen Einschübe. Da sind die beiden Exkurse in ferne Welten, zu den Archiven im China der Kaiserzeit (S. 79-84) sowie zu den Jungferninseln in der Karibik (S. 165-168) als "Gesellschaft fast ohne Archivalien" (S. 165). Ebenso gerne und mit Gewinn liest man die vielen Beispiele, die oft einen biographisch-personengeschichtlichen Zugang bieten, wie etwa ein Porträt des jungen Ranke den "Prototyp des "Historikers im Archiv'" (S. 93) anschaulich macht (S. 92-99) oder die Skizze des Marburger Archivars Gustav Könnecke (t 1920) den klassischen Historiker-Archivar (S. 112-115).

Notwendigerweise werden in zeitlicher wie in geographischer Hinsicht Schwerpunkte gesetzt. Insbesondere rücken die beiden letzten Jahrhunderte in den Fokus, für die vor allem die deutschmitteleuropäische Archivwelt betrachtet wird, hier immer wieder auf die preußische Archivverwaltung rekurrierend. Bisweilen wünschte der Leser an Stellen die stärkere Einbeziehung, den Vergleich beispielsweise mit dem französischen und dem italienischen bzw. kurialen Archivwesen mit nicht minder reichen, aber eben anderen Traditionen. Doch dies nachdrücklich einzufordern oder gar eine entsprechende Kritik zu formulieren, würde die von Dietmar Schenk erbrachte Leistung verkennen.

Bevor sich der Autor auf den Weg durch die Archivgeschichte macht, geht es zunächst um die Entwicklung des Begriffes ,Archiv', was selbst schon eine Geschichte der Archive "in nuce" (S. 42) darstellt. Dass nach verschiedenen Wandlungen spätestens Ende des 20. Jahrhunderts die Bedeutung des Wortes so sehr zu verschwimmen scheint, dass sich selbst die Fachwelt schwertut, eine klare Definition zu geben, ist keine neue Erkenntnis. Schenk spricht hier von der "Nutzung des Wortes als Sprachbild" (S. 46). Mit dem verstärkten Eindringen von einstmals antonymen Begriffen wie Sammlung' und Dokumentation' in die Archivwelt verliert "der Begriff des Archivs […] von innen her […] seine einst klaren Umrisse" (S. 52).

Schwerpunkt der Darstellung ist sodann die in vier große zeitliche Blöcke aufgeteilte Geschichte der Archive. Im ersten Block geht es um die Zeit bis zum Ende des Ancien Regime, um das ,alte Europa', in dem Archive "im Dienst von Recht, Verwaltung und Geschäft" standen, wie es in der Kapitelüberschrift treffend heißt. Ausführlich behandelt Schenk dann den Funktionswandel der Archive im .langen' 19. Jahrhundert, in dem sie sich dem Historiker öffnen und ihm als Quellenreservoir schlechthin dienen. Archivnutzung und Geschichtsforschung gehen ebenso eine Symbiose ein wie die Berufe des Historikers und des Archivars. Dabei wird deutlich, dass die Öffnung der Archive "auch ein Stück bürgerlicher Empanzipation" (S. 106) ist, sie andererseits aber eben auch ein gesellschaftlich begrenztes Umfeld bedient, eben die "Welt bürgerlich geprägter Bildung" (S. 91). Eine wichtige Rolle spielt in dieser Phase die .Entdeckung' von Archivalien und des Archivs als eine "rein sprudelnde Quelle", was zur Entwicklung von bis heute gültigen Grundlagen des Faches führte, um nur einen Begriff wie .Provenienzprinzip' oder die Unterscheidung zwischen .Tradition' und .Überrest' zu nennen. In der kritischen Sicht darauf sowie angesichts der Wertschätzung von Archivalien auch "in einer Ethik des Erinnerns" (S. 173) hätte sich ein stärkeres Eingehen auf die Erkenntnisse von Johannes Fried angeboten, wie er sie in .Der Schleier der Erinnerung' (2004) niedergelegt hat (bei Schenk S. 99, Anm. 48 eher kurz erwähnt). Fried zeigt hier unter Einbeziehung von kognitions- und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen nachdrücklich die Grenzen von Erinnerung auf, was unmittelbare Auswirkungen auf die inhaltliche Beschaffenheit schriftlicher Überlieferung hat.

Über die "Krise des Historismus" (S. 124) -- treffend anhand der Kontroverse zwischen Albert Brackmann und Ernst Kantorowicz verdeutlicht (S. 126-132) -- schlitterte die Archivwelt im 20. Jahrhundert geradezu in ihre Vereinnahmung hinein; positiv ausgedrückt werden "Archive nun in Kulturen des Erinnerns hineingezogen" (S. 134). Das ist dann der dritte zeitliche Block. Letztlich tut sich eine breite Skala auf von einer Vereinnahmung der Archive wie etwa für die Rassismusideologie in der NS-Zeit bis hin zu der Möglichkeit, dass sie etwa "in Verbindung mit einem demokratischen Aufbruch ganz konkrete ,Macht'" (S. 137) erlangen -- Stichwort Stasi-Unterlagen. Oft geht es aber schlichtweg um eine neue Funktion von Archiven als Erinnerungsort, bei dem dann das zuvor zum Überrest und zur Quelle mutierte Verwaltungsschriftstück nun zum Denkmal, zum Symbol wird -- anschaulich demonstriert am Bundesbrief von 1291 im Schweizer Bundesbriefarchiv (S. 140-144). Gleichwohl möchte Schenk "eine Art Lehre aus der Geschichte" (S. 137) ziehen: "die normative Basis des historischen Archivs [steht] mit der Verfassung einer demokratischen, pluralistischen Öffentlichkeit in unlösbarer Verbindung" (S. 137). Damit ist in dieser Phase der Archivgeschichte das Archiv kein neutrales, wertfreies Depot von Quellenmassen mehr. Dies hat auf der rein praktischen Ebene von Archivarbeit sein Pendant in der Tatsache, dass der Archivar nun seinerseits aktiv Interventionen' in den Bestandsaufbau und eine "Gestaltung" der Bestände (S. 138) vornimmt. Zuvor undenkbare Tätigkeiten wie Bewertung und Kassation sowie aktives Sammeln, Aufzeichnen und Dokumentieren halten nun Einzug in die Archivwelt. Während Schenk jeglicher Bewertungsdiskussion gegenüber weitgehend abstinent bleibt, nimmt er kritisch Stellung zu den in der jüngeren Vergangenheit etablierten Dokumentationsprofilen und Archivierungsmodellen (S. 186), ohne aber eine rechte Alternative anzubieten. Nachdrücklich unterstreichen möchte der Rezensent die Konklusion Schenks, dass bis heute die "Faszination des puren Überrests, ja eine gewisse Sehnsucht nach ihm bestehen" bleibt (S. 192). Deshalb gehört etwa in jeden akademischen Unterricht der Geschichte die eben keineswegs abgedroschene quellenkundliche Unterscheidung zwischen ,Tradition' und .Überrest'.

Die Aussagen zum letzten zeitlichen Block ,Die Welt der digitalen Daten' (S. 193) des beginnenden 21. Jahrhunderts fallen nach eigener Aussage des Autors eher knapp aus, was ihm niemand verdenken wird, wo wir doch noch kaum die Konsequenzen des tiefen Umbruchs, in dessen Mitte wir stehen, zu erkennen vermögen. Fazit: "Aufheben, was nicht vergessen werden darf" ist kein Handbuch für ArcJrivbenutzer oder für die praktische Arbeit im Archiv. Wer aber das Thema ,Archiv' liistorisch und auf einer abstrakten Ebene durchdenken möchte, kommt durchaus auf seine Kosten.

By Joachim Oepen, Köln

Titel:
„Aufheben, was nicht vergessen werden darf".
Autor/in / Beteiligte Person: Oepen, Joachim
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 378-380
Veröffentlichung: 2015
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • AUFHEBEN, was nicht vergessen werden darf: Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt (Book)
  • SCHENK, Dietmar
  • DIGITAL libraries
  • ARCHIVES
  • NONFICTION
  • EUROPE
  • Subjects: AUFHEBEN, was nicht vergessen werden darf: Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt (Book) SCHENK, Dietmar DIGITAL libraries ARCHIVES NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: EUROPE

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