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Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg.

Rose, Andreas
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 397-400
Online review

BESPRECHUNGEN Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg  CHRISTIAN STACHELBECK: Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg (Militärgeschichte kompakt 5), München: Oldenbourg 2013, 224 S. ISBN: 978-3-486-71299-5.

In Zeiten zunehmend verschulter Studiengänge gewinnen Handbücher immer größere Bedeutung. Die Reihe ,Militärgeschichte kompakt' richtet sich nicht umsonst dezidiert an Studierende und hat nun mit Christian Stachelbeck, Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, einen ausgewiesenen Kenner der preußisch-deutschen Militärgeschichte für den wichtigen Band zu Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg gewonnen.

Zweifellos stellt der Erste Weltkrieg nicht nur in militärischer Hinsicht eine wesentliche Zäsur dar. Gleichwohl sollte man sich vor allzu vorschnellen Kontinuitätslinien hüten, wenn der Autor den großen Krieg von 1914 als "Auftakt für den Zweiten" beschreibt (S. 8). Christian Stachelbeck aber, das ist gar nicht genug zu würdigen, entgeht gleichwohl der Versuchung allzu vorschneller Kontinuitätslinien. Als Kenner der Materie beschränkt er sich nach einer sehr gelungenen Einführung zum Forschungsstand wohltuend auf die Analyse des militärischen Denkens (S. 19-98), der militärischen Strukturen (S. 99-152), der Rüstung (S. 153-182) sowie des militärischen Alltags, der Kriegserfahrungen und Motivationen (S. 183-204), ohne sich in die Kriegsschulddebatte zu verstricken.

So hebt er neben den bislang wegweisenden Studien zur deutschen Militärgeschichte vor allem die neueren Schwerpunkte der Forschung in Bezug auf das Kriegserlebnis und eine moderne Operationsgeschichte hervor, wobei er sogar noch zahlreiche Lücken der Forschung gerade bei der mittleren Führung oder dem sozialen Gefüge der Massenmobilisierung ausmacht (S. 13-16).

Ausgehend von der strategischen Kursänderung zu einem kurzen Offensivkrieg durch die Überlegungen Alfred Graf von Schlieffens weist der Autor auf die durch die russische Aufrüstung notwendig erscheinende Flexibilisierung unter Helmuth von Moltke d.J. unmittelbar vor dem Krieg hin und beschreibt kursorisch knapp, aber äußerst anschaulich, den Kriegsverlauf von den ersten Niederlagen im Westen über die Erfolge im Osten bis hin zur Erstarrung der Fronten im Winter 1914. Dabei thematisiert er die Probleme der Koalitionskriegführung bei den Mittelmächten (S. 33-34). In diesem Zusammenhang verhinderte die Konzentration des Habsburgerreiches auf Serbien von Beginn an eine Kriegführung mit überlegenen Kräften an der Ostfront. Hinzu kam das ständige Drängen Wiens auf zusätzliche Unterstützungen, die im Gegensatz zum deutschen Hauptkriegs-Schauplatz im Westen standen und zu einem dauernden Interessengegensatz zwischen den militärischen Führungsspitzen der Bündnispartner führten. Plausibel gliedert der Autor die deutsche Kriegführung in die Ära Falkenhayn (S. 37-50) und die Ära Hindenburg/Ludendorff (S. 50-69). Während Falkenhayn angesichts der alliierten Überlegenheit bereits frühzeitig die Meinung vertrat, dass man den Krieg schon dann siegreich gestalte, wenn man ihn nur nicht verliere (S. 37), glaubten Hindenburg und Ludendorff an einen kriegsentscheidenden Sieg über Russland. Falkenhayns strategische Überlegungen konzentrierten sich vor allem auf die Westfront und richteten sich primär gegen England, während die französischen Armeen zu verlustreichen Gegenoffensiven gegen die deutschen Defensivstellungen und die überlegene Artillerie provoziert werden sollten (S. 46). Tatsächlich aber scheinen die Absichten Falkenhayns bis heute durch zahlreiche Widersprüchlichkeiten, Missverständnisse und eklatante Fehleinschätzungen des Gegners, insbesondere bei Verdun, geprägt.

Mit dem Wechsel zu Hindenburg und der eigentlich treibenden Kraft Ludendorff erhielt die deutsche Kriegspolitik unzweifelhaft "totalitäre Züge" (S. 50). Anders als die Alliierten setzte die 3. OHL nicht auf Tankangriffe oder tagelanges Artilleriefeuer, sondern die Überraschung, initiativreiches Führen und ein verbessertes Zusammenwirken der Waffengattungen. Darüber hinaus ging die neue Führung zu einer elastischen Raumverteidigung über und gab mit dem Rückzug in die stark befestigte ,Siegfriedstellung' im Frühjahr 1917 sogar eroberten Boden freiwillig preis, um die Front zu verkürzen. Dennoch blieb das Gesamtkräfteverhältnis zu den Alliierten denkbar ungünstig. Die Erfolge der ,Michaeloffensive' blieben temporär und es gelang nicht, wie von Ludendorff beabsichtigt, einen taktischen Durchbruch an der Nahtstelle zwischen Franzosen und Briten zu erzielen. Für einen operativen Bewegungskrieg mangelte es nicht nur an stoßkräftigen Reserven hinter den Angriffsverbänden, sondern auch an der "taktisch-operativen Beweglichkeit" für das erstrebte schnelle, moderne Gefecht sowie an der allgemeinen Mobilität und Motorisierung der Verbände (S. 65).

Wiederholt besticht die Darstellung des Kriegsverlaufes durch das vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften dargebotene, gewohnt exzellente Kartenmaterial, einzelne Statistiken zu den Kriegsverlusten (S. 49) oder Artilleriestärken (S. 60) sowie anschauliche Erfahrungsberichten von der Front aus der Feder Ernst Jüngers (S. 65), Albrecht von Thaers (S. 68) oder Richard Stumpfs (S. 202).

So kenntnisreich und gekonnt sich der Autor im ersten Teil mit dem aktuellen Forschungsstand zur Landkriegführung auseinandersetzt, so zeigt er sich doch bei der Flottenrüstung vor 1914 punktuell leider etwas weniger informiert. Keine Frage, die mit der sogenannten Risikotheorie verbundenen ambitionierten Ziele von Alfred von Tirpitz erwiesen sich "bis 1914 als illusionär". Als Grund dafür erkennt Stachelbeck indes nicht strukturelle, fiskalische, technische Hindernisse oder geopoli- tische Nachteile der deutschen Flottenrüstung, sondern vornehmlich die britische Reaktion "ab 1905 mit dem Bau von modernen, schnellen und stark bewaffneten Dreadnought-Großkampfschiffen" (S. 70). Der Autor übernimmt damit jedoch allzu unkritisch das überkommene Aktions-Reaktions- Theorem der älteren Forschung, nach dem London mit diesem,Dreadnought-Sprung' primär auf die deutsche Herausforderung reagiert habe1. Dagegen spricht aber nicht nur die Chronologie der Ereigniskette, sondern auch, dass inzwischen eine Reihe von Spezialstudien zur Royal Navy nachgewiesen haben, dass sich die englische Flottenrüstung sehr wohl aus sich selbst heraus erklärte. Entscheidender als die deutsche Flottenrüstung erscheinen heute vielfach die komplexen innerenglischen Gemengelagen, die technologischen und strategischen Entwicklungen zur See, die Ressortstreitigkeiten zwischen Armee und Marine, die parlamentarischen und fiskalischen Rahmenvorgaben sowie die globalen Herausforderungen und Interessenlagen. Gerade jüngere Arbeiten haben wiederholt gezeigt, dass die englische Marinepolitik nicht primär auf Deutschland reagierte, sondern sich ent lang eigener Interessen und Zwänge gegen alle neuen Seemächte orientierte2. Der Bau der Dreadnought, so wissen wir inzwischen, wurde bereits zu einer Zeit in die Wege geleitet, als nicht Deutschland, sondern Frankreich und Russland als größte Bedrohung in London galten3. Das ist insofern von wesentlicher Bedeutung, als sich auf der auf Deutschland fokussierten Fehlannahme auch eine bis heute immer wieder anzutreffende politikgeschichtliche Interpretation gründet. Auch für Stachelbeck besteht somit kein Zweifel, dass "ein durchaus möglicher politischer Ausgleich mit England […] in dieser Phase nicht zuletzt am Ressortegoismus von Tirpitz [scheiterte]" (S. 70). Tatsächlich überschätzt diese Annahme den Möglichkeitsspielraum deutscher Politik wie auch das englische Bedürfnis nach einer Einigung4.

Bei den Kriegshandlungen zu Wasser bewegt sich der Autor aber wieder auf der Höhe der aktuellen Forschung, was besonders bei seiner ausgewogenen Darstellung der Skagerrak-Schlacht deutlich wird (S. 79-83). In seinem Element ist Stachelbeck fraglos aber im nachfolgenden Abschnitt, wenn es um die Strukturen des preußisch-deutschen Militärs geht (S. 99-152). Konzentriert und flüssig präsentiert er hier das spezifisch deutsche Geflecht aus dezentraler politischer und militärischer Führung und beschreibt die Befehlsstrukturen und Besonderheiten des deutschen Heeres (S. 105-137), wobei auch die bislang vernachlässigten Luftstreitkräfte zumindest kursorisch besprochen werden (S. 130-131). Beachtung findet darüber hinaus die Gliederung der Marinestreitkräfte (S. 137-149) sowie der Kolonialtruppen (S. 150-152).

Bei den Rüstungen (S. 153-182) macht Christian Stachelbeck von Beginn an zu Recht eine große Unterlegenheit und "mangelhafte Vorbereitung" gegenüber den Entente-Mächten aus. Trotz aller Aufrüstung kurz vor dem Krieg blieben die Heeresverstärkungen noch im Rahmen und Deutschland berief relativ gesehen viel weniger Wehrpflichtige zu den Waffen als etwa Frankreich (S. 155). Etwas zu vage und für ein Handbuch zu undeutlich fällt allerdings die Begründung aus, warum das Kaiserreich beinahe 600.000 Wehrtaugliche zurückstellte und auch bei der materiellen Ausstattung hinter dem Erforderlichen zurückblieb. Ganz richtig erblickt der Autor dahinter politisch-militärische und wirtschaftliche Spannungsfelder. Für Studierende müsste man hier allerdings wohl etwas konkreter auf die fiskalischen Schwächen des föderal strukturierten Reiches eingehen, welche höhere Rüstungsausgaben schlichtweg unmöglich machten und dazu führten, dass das Reich grundsätzlich unterhalb der relativen Ausgaben der übrigen Mächte blieb5. Auch die Reichsverfassung, deren Artikel 60 eine Friedens-Präsenzstärke von 1% der Bevölkerung vorschrieb, würde hier eine Erwähnimg verdienen, zumal sich an derlei rechtlich-politischen Querverbindungen am ehesten die Anschlussfähigkeit und besondere Relevanz der jüngeren Militärgeschichte zeigen ließen. Darüber hinaus drängt sich natürlich gerade im Kapitel zu den ,Kriegsvorbereitungen' die übergreifende Frage auf, was von der Kriegsbereitschaft und dem vermeintlichen singulären Kriegswillen der deutschen Militärs und der Berliner Regierung zu halten ist, wenn diese etwa ihre Flugzeugrüstung angesichts einer enormen französischen Überlegenheit auf diesem Gebiet im Frühjahr 1914 komplett auf Eis legten6 oder nur bis November 1914 ihre Munition vorhielten (S. 174).

Die Anschlussfähigkeit der modernen Militärgeschichte zeigt Stachelbeck dagegen deutlich im letzten Abschnitt, in dem er sich dem Kriegsalltag, den Motivationen und dem Durchhaltevermögen bzw. den Verweigerungen zuwendet (S. 183-204). Obgleich sich im August 1914 vor allem im städtischen Bürgertum und vielen Intellektuellen tatsächlich so etwas wie ein,Geist von 1914' beobachten lässt, so hatte das so genannte ,Augusterlebnis' ganz sicher nicht alle Bevölkerungsschichten der massenhaft mobilisierten Soldaten erfasst. Gerade bei der ländlichen Bevölkerung überwog die Skepsis und Sorge angesichts der zu erwartenden Entbehrungen. So sehr der,eiserne Frontkämpfer' vornehmlich ein Produkt der ästhetisierenden Erinnerungsliteratur Ernst Jüngers ist, so wenig lässt sich andererseits aber ein grundlegender Verweigerungswille nachweisen. Vielmehr einte die breite Masse ein gewisses Pflichtbewusstsein gegenüber der eigenen Familie und dem Schutz der Heimat. Zu unterscheiden sind hierbei aber auch die Kriegsschauplätze. Während lange gärende ethnische Konflikte im Osten und auf dem Balkan zu einer zunehmend entfesselten Kriegführung, massiven Vertreibungen der Zivilbevölkerung und einer oft zügellosen Brutalität führten, prägte die deutsche Hauptfront im Westen ein differenziertes Kriegsbild (S. 190). Überraschend wirken gleichwohl das enorme Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, die täglichen Gefahren an der Front zu verdrängen. Eine Erklärung scheint darin zu liegen, dass die Frontsoldaten dem Schrecken der Todeszone nicht dauerhaft ausgesetzt waren und der Alltag eben nicht in einer dauerhaften Gefechtstätigkeit bestand. Verweigerungen, Meutereien oder Fahnenflucht blieben insgesamt die Ausnahme (S. 193).

Insgesamt kann das Handbuch trotz einiger angesichts des großen Themas notwendigerweise offengebliebener Wünsche und Fragen vollauf überzeugen. Zu den großen Stärken dieser Einführung zählen ohne Frage ihre Anschaulichkeit und Stringenz. Zwar hätte man sich hier und da etwas mehr Mut hinsichtlich militärgeschichtlicher Einsichten und ihrer historiographischen Konsequenz für die gängigen politik- bzw. diplomatiegeschichtlichen Interpretationen gewünscht. Für einen ersten Einstieg in die Materie handelt es sich aber nichtsdestotrotz um eine beeindruckende Leistung, der eine große Leserschaft zu wünschen ist.

Footnotes 1 Dominik Geppert, Andreas Rose, Machtpolitik und Flottenbau vor 1914. Zur Neuinterpretation britischer Außenpolitik im Zeitalter des Hochimperialismus, in: Historische Zeitschrift 293 (2011), S. 401-437. 2 Jon T. Sumida, In Defence of Naval Supremacy. Finance, Technology, and British Naval Policy, 1889-1914, Boston 1989; Nicholas A. Lambert, Sir John Fisher's Naval Revolution, Columbia, SC 1999, bes. S. 142-154. 3 Seiborne, Memorandum, 6.12.1904, zit. nach: The Crisis of British Power: The Imperial and Naval Papers of the Second Earl of Selborne, 1895-1910, Bd. 2, bearb. von George D. B ο y c e, London 1990, Nr. 62, S. 184-190. 4 Andreas Rose, "The Writers, not the sailors" -- Großbritannien, die Hochseeflotte und die ,Revolution der Staatenwelt', in: Sönke Neitzel, Bernd Heidenreich (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1890-1914, Paderborn u.a. 2011, S. 221-240. 5 Vgl. Niall Ferguson, Public Finance and National Security. The Domestic Origins of the First World War Revisited, in: Past and Present 142 (1994), S. 141-168, hier S. 146. 6 Siehe hierzu den Bestand PH 24 im Freiburger Militärarchiv. Für den Hinweis danke ich Herrn Siegfried Sälzer, der gegenwärtig in Bonn an einer Dissertation zu den kaiserlichen Luftstreitkräften arbeitet.

By Andreas Rose, Bonn

Titel:
Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg.
Autor/in / Beteiligte Person: Rose, Andreas
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 397-400
Veröffentlichung: 2015
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • DEUTSCHLANDS Heer und Marine im Ersten Weltkrieg (Book)
  • STACHELBECK, Christian
  • GERMAN military
  • NONFICTION
  • TWENTIETH century
  • HISTORY
  • Subjects: DEUTSCHLANDS Heer und Marine im Ersten Weltkrieg (Book) STACHELBECK, Christian GERMAN military NONFICTION TWENTIETH century HISTORY
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review

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