Rund 20 Jahre nach den Studien von Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul haben HansChristian Herrmann und Ruth Bauer einen substantiellen und facettenreichen Beitrag zur Geschichte des Nationalsozialismus an der Saar vorgelegt. Ihr Sammelband, der auf eine Vortragsreihe des Saarbrücker Stadtarchivs zurückgeht, ist zudem rechtzeitig vor den Jahrestagen der beiden großen Volksabstimmungen 1935 und 1955 erschienen. Die wohltuend allgemeinverständliche Schreibweise seiner Beiträge entspricht der Absicht, nicht nur Fachgelehrte, sondern ein breiteres Publikum anzusprechen, was zweifellos gelingen dürfte. Denn die Autorinnen und Autoren sind zugleich entweder langjährige Kenner der Materie, die aus ihrem reichen Wissen schöpfen konnten, oder Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die sich intensiv mit verschiedensten Quellen auseinandergesetzt haben und ihre Befunde hier präsentieren.
Den unmittelbaren Anlass für die vorliegende Publikation bildete die Einweihung des Rabbiner- Rülf-Platzes in Saarbrücken und des Mahnmals für die während des Nationalsozialismus ermordeten saarländischen Juden im November 2013. Dieses Ereignis rahmt auch den Band, der mit der Rede der Saarbrücker Oberbürgermeisterin Charlotte Britz zur Denkmalseinweihung beginnt (S. 11-18) und mit zunächst allgemein gehaltenen, im letzten Teil aber spezifisch regionalgeschichtlichen Überlegungen von Johannes Großmann zur Geschichtskultur endet (S. 395-419).
Dazwischen stehen elf Aufsätze zu verschiedenen Aspekten von ,Widerstand, Repression & Verfolgung' . Den Auftakt macht Hans-Christian Herrmann mit einem längeren Beitrag über das jüdische Leben an der Saar vom 19. Jahrhundert bis zum Holocaust (S. 35-102). Eine daran unmittelbar anknüpfende Spezialstudie von Marieke Thomé zu den ,Arisierungen' enthält ein äußerst nützliches, 79 Namen umfassendes Verzeichnis jüdischer Unternehmer, die zwischen 1934 und 1938 von Arisierungen oder Liquidierungen betroffen waren (S. 103-123). Im Anschluss daran geben Andreas Merl (S. 125-148) und Michelle K1 ö c k η e r (S. 149-183) empirisch begründete mentalitätsgeschichtliche Antworten auf eine zentrale Frage des Sammelbandes, die Hans-Christian Herrmann in der Einleitung formuliert: "Warum stimmten die Saarländer 1935 bis auf eine kleine Minderheit für die Rückgliederung an Hitler-Deutschland?" (S. 21). Einer weiteren wichtigen Frage, nämlich derjenigen nach den Gründen für die geringe Resonanz des Widerstands von Sozialdemokraten und Kommunisten, geht Joachim Heinz in seinem Überblick nach (S. 185-211). Die Rolle der Kirchen beleuchten kenntnisreich Heinrich K ü ρ ρ e r s für das katholische (S. 213-236) und Jörg Raub er für das evangelische Milieu (S. 237-278). Nicolas J. W i 11 i a m s schildert anschaulich das Thema der Evakuierung Saarbrückens 1939/40 (S. 279-312).
Natürlich darf auch ein Beitrag zur zentralen Person dieses Sammelbandes, Rabbiner Dr. Friedrich Schlomo Rülf, nicht fehlen. Diese Aufgabe übernimmt Herbert J ο chu m, der Rülfs Erinnerungen herausgegeben hat (S. 313-336). Reicht bereits Jochums biographische Skizze über die Zäsur des Jahres 1945 hinaus, so setzen die noch folgenden Aufsätze diese Linie fort. Elisabeth Thalhofer widmet sich dem zentralen Thema Repression und Verfolgung, indem sie die Gestapo und das .Erweiterte Polizeigefängnis' Neue Bremm in den Mittelpunkt stellt, aber auch die juristische Aufarbeitung nach Kriegsende mit den Rastatter Prozessen von 1946/47 behandelt (S. 337-370). Unmittelbar daran anknüpfend präsentiert Wilfried Busemann Überlegungen zur juristischen, politischen und moralischen Aufarbeitung der NS-Zeit an der Saar, die so manche kritische Reflexion enthalten und explizit zu weiteren Forschungen, etwa zu einer noch ausstehenden umfassenden Analyse der politischen Praxis im Rahmen des saarländischen Wiedergutmachungsgesetzes von 1948 und des Bundes-Entschädigungs-Gesetzes von 1960, anregen (S. 371-394). An die durchweg interessanten Beiträge schließt ein größerer didaktischer Teil von Julia Gerhardt an, anhand dessen zahlreiche Aspekte des Sammelbandes unmittelbar für den Unterricht nutzbar gemacht werden können (S. 421-472). Dabei dürften von den abgedruckten Quellen nicht nur Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe I und II, sondern auch Dozentinnen und Dozenten an Hochschulen profitieren.
Insgesamt kann man festhalten, dass der Band ein facettenreiches Bild und neueste Forschungen zur Geschichte des Nationalsozialismus bietet. Die in der Summe gut lesbaren, sorgfältig redigierten und mit jeder Menge Abbildungen versehenen Beiträge werden dem angestrebten Ziel, eine breite an Geschichte interessierte Leserschaft anzusprechen, vollauf gerecht. Freilich bleiben Themen unbesetzt: Die Rolle von Frauen ist nur vereinzelt berücksichtigt. Auch der Blick von außen, etwa der benachbarten Franzosen oder Luxemburger auf die Saargegend, könnte interessante Perspektiven liefern. Ein Aufsatz, der sich explizit mit der saarländischen Erinnerungskultur seit 1945 befasst, bleibt ebenso ein Desiderat der Forschung. Dabei ließen sich solche Gedanken in Anknüpfung an die Internet-Plattform
By Jens Späth, Saarbrücken