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Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, 2 Bände.

Kösters, Christoph
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 411-414
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BESPRECHUNGEN Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, 2 Bände  HANS-ULRICH THAMER, DANIEL DROSTE, SABINE HAPP (Hg.): Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, 2 Bände, Münster: Aschendorff-Verlag 2012, zus. 1.186 S. ISBN: 978-3-402-15884-5.

Im Vorlesungsverzeichnis des Germanistischen Instituts der Universität Münster erschien im Sommersemester 1959 erstmals ein Abriss der ,Geschichte der Universität Münster'. Die dreiseitige Skizze aus der Feder des seit 1927 in Münster lehrenden Historikers Anton Eitel beklagte die Kriegszerstörungen und endete mit der Wiederaufnahme des Universitätsbetriebs 1945/46. Über die NS-Zeit selbst erfuhren die Studenten nichts. Noch 25 Jahre später brachte 1985 Wilhelm Ribhegge das nur wenig melir Bekannte in seiner knappen Universitätsgeschichte auf einen dürftigen Nenner: innerer Zusammenbruch "geistiger und moralischer Natur" der Universität im Jahre 1933 einerseits und "ein lähmender, offener und latenter Zwang"1 durch die neuen Machthaber andererseits. Erst die öffentlichen Debatten über die nationalsozialistische Vergangenheit der Medizinischen Fakultät brachten 2007 den Stein ins Rollen und stießen eine systematische Auseinandersetzung über die Universitätsgeschichte im Nationalsozialismus an. Galt es doch, dem Vorwurf nachzugehen, die münstersche Universitätsmedizin sei nicht nur "von (Selbst-)Gleichschaltungs- und Nazifizierungs- prozessen" (S. 413) bestimmt gewesen, sondern nach 1945 habe überdies -- wie es im Geleitwort der Rektorin heißt -- ein "Netzwerk mit Kausalbezügen" sogar die Berufung "schwer belasteter Täter" (S. 9) an die Universität ermöglicht.

Dass diese am Beispiel der Medizinischen Fakultät aufgezeigte ,Netzwerkthese' nicht verallgemeinerbar ist, zählt zu den wichtigen Ergebnissen der 2007 eingesetzten universitären HistorikerKommission. Allerdings ist hier das letzte Wort noch nicht gesprochen, stehen doch überzeugende Forschungen, wie sie jetzt für die Münsteraner Medizinische Fakultät vorliegen, für andere Universitätsfakultäten noch aus. Das Interesse der vom renommierten Münsteraner Neuzeit-Historiker Hans-Ulrich Thamer angeführten Kommission richtete sich nämlich zunächst und vorrangig darauf, das weitgehend ungeschriebene NS-Kapitel der Münsteraner Universitätsgeschichte erstmals umfassend und auf breiter Quellenbasis zu untersuchen. Dafür öffnete das von Sabine Happ geleitete Universitätsarchiv weit seine Türen. Die universitären Aktenüberlieferungen bilden für alle größeren und kleineren Teilprojekte das maßgebliche Überlieferungsfundament.

Das Gesamtergebnis kann sich sehen lassen: In 31 Beiträgen wird auf insgesamt fast 1.200 Druckseiten der Kenntnisstand über ,Die Universität Münster im Nationalsozialismus' auf ein neues Niveau gehoben. Alle Autoren lösen sich von einer allzu engen Fokussierung auf den Zeitraum der NS-Diktatur und dehnen ihre archivgestützten Nachforschungen auf den Zeitraum zwischen 1920 und 1960 aus. Dies führt dazu, dass die Kontinuitäten in der münsterschen Universitätsgeschichte sehr viel stärker herausgearbeitet werden als die Zäsuren der Jahre 1933 und 1945.

Dabei gelangen nicht allein die umstrittenen,Täter' in den Blick. Dem mit,Personen' überschrie- benen dritten Teil (S. 929-1152) gehen zwei Teile voraus: ,Teil 1: Die Universität als Institution' (S. 27-248) und ,Teil 2: Fakultäten und Institute' (S. 251-926). Verschränkungen und Konflikte zwischen Nationalsozialismus und Universität werden als Geschehen auf unterschiedlichen Handlungsebenen -- der institutionellen, der fachwissenschaftlichen und der personellen -- analysiert. Auf solche Weise erscheint Münsters akademische Elite dieser Jahre konsequent kontextualisiert, also eingebunden in strukturelle, mentale, sozial-kulturelle und politische Zusammenhänge, in denen individuelle Verhaltensweisen immer neu auszuhandeln und auszutragen waren (H.-U. Thamer, S. 14).

Im ersten Teil wird folglich das Spannungsviereck zwischen universitären (Rektor), administrativen (Kurator/Oberpräsidium), wissenschaftspolitischen (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung) und parteipolitischen (NSDAP-Gauleitung) Kräften beleuchtet (Kristina Sie vers, S. 27-59). Es schließen sich Ausführungen an über das Verhältnis der Universität zu dem in der bedeutenden Garnisonsstadt Münster einflussreichen Militär (Timm C. Richter, S. 61-81), die Fördergesellschaft der Universität (Johannes Schäfer, S. 83-111), die universitäre Selbst- und Außendarstellung (Hans-Ulrich Thamer, S. 113-133) und die vergleichsweise geringe Zahl von Aberkennungen von Doktorgraden (Sabine Happ, S. 135-161). Zwei Beiträge behandeln Münsters Studenten, ihre soziale Herkunft und ihre Selbstorganisation (Christoph Weischer, S. 163-191; Rainer Pöppinghege, S. 193-223); unter den Volluniversitäten wies Münster mit über 66% den reichsweit mit Abstand größten Katholikenanteil innerhalb der Studentenschaft auf (S. 182f., S. 195). Der erste Teil schließt mit einem Ausblick auf die Entwicklung der Universität nach 1945 (Peter Respondek, S. 225-248). Ohne dass damit bereits ein Gesamtbild der jungen, erst 1902 neu gegründeten Westfälischen Wilhelms-Universität als Institution entstünde, vermitteln die Beiträge doch einen Eindruck von der Gemengelage eines national-konservativen, bürgerlich-katholischen Universitätsmilieus, das nach 1933 der NSDAP und ihren Organisationen gegenüber eher reserviert blieb, dem neuen, autoritär erscheinenden Staat aber seine Ressourcen umso kompromissbereiter zur Verfügung stellte. Damit bewegte sich die Münsteraner Universität zwischen "Selbstbehauptung und Selbstgleichschaltung" (Thamer, S. 11).

Es überrascht nach der eingangs angeführten,Vorgeschichte' nicht, dass im zweiten Teil des Doppelbandes der Geschichte der Medizinischen Fakultät besonderes Gewicht beigemessen wird (Ursula Ferdinand, S. 413-530; Ionna Mamali, S. 531-568). Die vorgestellten ersten Ergebnisse eines DFG-Projektes beschreiben den Prozess der Selbstgleichschaltung vor allem anhand des "säubernden' Elitenaustausches unter den institutsleitenden Direktoren; bis 1939 hatte mehr als die Hälfte der vormals Verantwortlichen ihre Stellung verloren (S. 501). Die Berufungs- und Versetzungspolitik bestimmt auch die weiteren Beiträge über die Evangelisch-Theologische Fakultät (Nicola Willenberg, S. 251-308), die Katholisch-Theologische Fakultät (Thomas Flammer, S. 309-346), die Juristische Fakultät (Sebastian Felz, S. 347-412) sowie einzelne geistes- bzw. naturwissenschaftliche Institute und Seminare für Philosophie (Markus Drüding, S. 569-602), Ur- und Frühgeschichte (Karsten W a 11 m a η η und Katharina S i e ν e r s, S. 603-638), Geschichte (Katja Fausser,S. 647-688), Germanistik (Volker Honemann, S. 689-749) und Musikwissenschaft (Manfred Günnigmann, S. 751-785) sowie Zoologie (Daniel Droste, S. 787-845), Physik (Achim Weiguny, D. 847-870), Geographie (Kathrin Baas, S. 871-901) und Sport (Michael Krüger, S. 903-926). Nachforschungen zu den Philologien (Klassische Philologie, Orientalistik, Romanistik und Anglistik) fehlen.

Die Befunde der weitgehend auf den Lehrkörper fokussierten Darstellungen bestätigen die These einer bereitwilligen Anpassung von Münsters Professorenschaft an den nationalsozialistischen Zeitgeist, vorrangig in der Lehre und zurückhaltender in parteipolitischen Aktivitäten. Das Selbstverständnis, ,nur' als Wissenschaftler zu agieren, erleichterte den Übergang über die Zäsuren von 1933 und von 1945 hinweg. Dieser -- nicht weiter reflektierte -- Maßstab ermöglichte nach 1945 sogar die Wiederaufnahme von ,NS-Belasteten' in den Kollegenkreis; nur vormaligen Parteiaktivisten blieb in der Regel der Zutritt verwehrt.

Auf den ersten Blick überrascht es, dass dem vielzitierten und erforschten ,katholischen Milieu' Westfalens und Münsters als Handlungskontext kaum Bedeutung beigemessen wird. Denn offenkundig spielten religiös-konfessionelle Prägungen und Bindungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wie ein roter Faden ziehen sich entsprechende Hinweise durch viele Beiträge, und zwar stets verwoben in weitere handlungsrelevante Macht- und Strukturkontexte, in denen sich die Professoren bewegten. Manfred Witt beispielsweise beschreibt den umstrittenen Karl Wilhelm Jötten entsprechend als erfolgreichen Hygiene-Mediziner, der seine Orientierung an katholisch-konservativen Vorstellungen zur Eugenik und Rassenhygiene in den 1930er Jahren seinen wissenschaftlichen Karrierebestrebungen unterordnete -- ohne damit allerdings letztlich erfolgreich zu sein; zu groß blieben bei den Verantwortlichen in Gauleitung und Reichs-Wissenschaftsministerium die Bedenken gegenüber NSDAP-Mitglied Jötten, dem man 1936 im Übrigen nahelegte, aus der katholischen Kirche aus- und in die SS einzutreten (S. 953-992). Anders als Jötten blieb sein Kollege, der Gerichtsmediziner Többen, dem rechtskatholischen Zentrumsmilieu verhaftet und wurde zwangsemeritiert, als seine Lehre von sozialer Medizin entbehrlich schien (S. 985, S. 1029-1048). Die Beispiele ließen sich vermehren.

Dieses Vorgehen überzeugt, weil ein unmittelbarer Rückschluss vom katholischen Milieu als sozialem Handlungskontext auf ein resistentes Verhalten der Universität, ihrer Fakultäten und Professorenschaft vermieden wird. Für eine solche Schlussfolgerung habe es "zu viele Fälle von Selbstanpassung und Selbstgleichschaltung, zu viele Entlassungen, parteipolitische Interventionen und Ideologisierungsversuche" gegeben, urteilt Thamer einleitend (S. 21). "Wenn sie teilweise abgebremst wurden, dann lag das an denselben Beharrungskräften und Trägheitsmomenten, die auch für andere Universitäten und wissenschaftliche Institutionen gelten." Die argumentative Revision der seit den 1980er Jahren verbreiteten Resistenzthese (Martin Broszat) durchzieht sämtliche Beiträge und kann als übergreifendes Ergebnis gewertet werden. Dies wird umso gewichtiger, weil damit zugleich das nach 1945 lange aufrechterhaltene Widerstands-Narrativ aufgebrochen wird; stattdessen treten jene aus der NS-Zeit fortwirkenden Strukturen und Denkmuster klar zutage, die an Münsters Universität eine Weiterbeschäftigung oder gar Neuberufung belasteter' Professoren ermöglichten. Der gegenüber älteren Forschungen erreichte Wissens- und Erkenntnisfortschritt ist unverkennbar.

Alles in allem gelangt die Historische Kommission zu der Einschätzung, mit ihrem vorrangig von fachwissenschaftlichen Interessen geleiteten, pragmatischen und nach 1945 wenig reflektierten Verhaltensweisen und Denkmustern hätten sich Universität, Fakultäten und Professoren politisch weitgehend in der Mitte bewegt: weder NS-Universität noch antinationalsozialistisches,Bollwerk'. Diese Zurückhaltung im historischen Gesamturteil lässt sich auch als Hinweis auf das Wissen um verbleibende Lücken verstehen, die es durch weitere Forschungen noch zu schließen gilt. Dabei wird es darum gehen müssen, die vielen aufschlussreichen Befunde und Ergebnisse stärker mit übergreifenden Perspektiven zu verknüpfen. So wären beispielsweise die wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Räume eingehender auszuleuchten, in denen sich Münsters akademische Elite bewegte. Die noch junge Universitätsstadt beherbergte in den 1920er Jahren eine ganze Reihe bedeutender außeruniversitärer Einrichtungen, die das lokale Klima zusätzlich beeinflussten, etwa das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik, das die jüdische Husserl-Schülerin Edith Stein 1933 verließ. Im Sinne noch zu leistender Netzwerkanalysen und als Beitrag zur deutschen Wissenschaftsgeschichte wären die Professoren in ihren fachwissenschaftlichen Verflechtungen über die Grenzen Münsters hinaus stärker zu beachten, und zwar sowohl hinsichtlich der Kontinuitäten als auch der Brüche. Wünschenswert wäre vor allem ein eigenständiger Beitrag zu den Auswirkungen des Antisemitismus in der Wissenschaftslandschaft Münsters. Mit den vorliegenden Studien ist für solche Fragen und weiterführende Forschungen eine sehr gute Ausgangsbasis gelegt.

Footnote 1 Wilhelm Ribhegge, Geschichte der Universität Münster. Europa in Westfalen, Münster 1985, ZitateS. 187 und S. 185.

By Christoph Kösters, Bonn

Titel:
Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, 2 Bände.
Autor/in / Beteiligte Person: Kösters, Christoph
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 411-414
Veröffentlichung: 2015
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • DIE Universitat Munster im Nationalsozialismus: Kontinuitaten und Bruche zwischen 1920 und 1960 (Book)
  • THAMER, Hans-Ulrich
  • DROSTE, Daniel
  • HAPP, Sabine
  • NATIONAL socialism
  • NONFICTION
  • TWENTIETH century
  • HISTORY
  • Subjects: DIE Universitat Munster im Nationalsozialismus: Kontinuitaten und Bruche zwischen 1920 und 1960 (Book) THAMER, Hans-Ulrich DROSTE, Daniel HAPP, Sabine NATIONAL socialism NONFICTION TWENTIETH century HISTORY
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review

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