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Kempen unterm Hakenkreuz, Bd. 1: Eine niederrheinische Kreisstadt im Nationalsozialismus.

Mertens, Annette
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 414-416
Online review

BESPRECHUNGEN Kempen unterm Hakenkreuz, Bd. 1: Eine niederrheinische Kreisstadt im Nationalsozialismus  HANS KAISER: Kempen unterm Hakenkreuz, Bd. 1: Eine niederrheinische Kreisstadt im Nationalsozialismus (Schriftenreihe des Kreises Viersen, Bd. 49,1), Viersen: B.O.S.S 2013, 667 S. ISBN: 978-3-931242-20-X.

"Das wichtigste Vorhaben dieses Buches ist, seine Leser vor Selbstgerechtigkeit und der pauschalen Verurteilung der Damaligen zu warnen" (S. 659), so schließt der promovierte Historiker und frühere Realschullehrer Hans Kaiser die beinahe 670 Seiten starke Darstellung seiner Heimatstadt Kempen am Niederrhein im Nationalsozialismus. Dabei handelt es sich um den ersten Band eines Gesamtwerks, dessen zweiter Band über die Kriegsjahre Anfang 2015 erschienen ist.

Der Verfasser hat sich ein anspruchsvolles Ziel gesteckt, nämlich eine Lokalstudie, in der "das Lokalkolorit bis zum letzten Laternenpfahl stimmen" soll (S. 13), die er aber zugleich in ihren größeren Zusammenhang, eine Art übergreifende Darstellung der Geschichte des ,Dritten Reiches', einordnen will. Gleichzeitig verfolgt er einen hohen pädagogischen Anspruch, der in dem Eingangszitat zum Ausdruck kommt.

Ohne Zweifel ist Kaiser eine kenntnis- und detailreiche Studie gelungen, die in der lokalen Presse gefeiert wurde und insbesondere für Kenner der Stadt Kempen von Interesse sein dürfte. Mit großem Fleiß hat der Verfasser nicht nur archivalische Quellen, sondern auch die Lokalzeitungen der NS-Zeit ausgewertet und darüber hinaus über Jahre hinweg insgesamt 76 Zeitzeugen befragt und sich dadurch das Verdienst erworben, Erinnerungen zu bewahren, die andernfalls bald unwiederbringlich verloren wären. Nicht zuletzt die reiche Bebilderung des Bandes, darunter viele Fotos aus privaten Beständen, dürfte Kempen-Kundige besonders ansprechen.

Der Aufbau der Studie wurde teils chronologisch, teils thematisch gewählt: Das erste Großkapitel über,Wurzeln und Formen nationalsozialistischer Herrschaft in Kempen', das rund zwei Drittel des Buches umfasst (S. 19-442), beschreibt zunächst,Die Entwicklung bis 1933' (S. 23-55), ,Die Eroberung -' (S. 56-131) und ,Die Konsolidierung der Macht' (S. 132-249) und widmet sich dann dem,braunen Kempen' (S. 250-402), d.h. den verschiedensten Partei-Institutionen, Organisationen und Verbänden und ihren jeweiligen Ablegern in Kempen sowie einer Typisierung der ,Kempener in der NSDAP' (S. 402-442). Das zweite Kapitel,Stützen des Regimes: Kreis und Stadt' (S. 442-562) befasst sich neben der Kreis- und Stadtverwaltung mit den Kempener Schulen. Die folgenden, deutlich kürzeren Kapitel behandeln den ,Widerstand und seine Verfolgung' (S. 562-584),,Affären' (S. 584-596), Anekdoten' (S. 596-599) sowie -- aufgrund des besonderen Charakteristikums Kempens als ,erzkatholische' Stadt (S. 651) -- mit der,Kirche im Schatten des Hakenkreuzes' (S. 599-633). Es folgt noch ein Ausblick auf ,Die Entwicklung bis zum Ausbruch des Krieges' (S. 633-648).

Besonders gelungen sind die Abschnitte, die auf anschauliche Weise die alltägliche Lebenswelt der Kempener schildern, das Leben in Vereinen, Jugendverbänden und Schulen -- hierin liegt freilich auch die besondere Stärke der ,OraI History'.

Diese lokalhistorischen Schilderungen in eine Art Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus einzubetten, stellt allerdings einen sehr hohen und angesichts der kaum noch überschaubaren Forschungsliteratur fast nicht mehr einzulösenden Anspruch dar -- nichtsdestotrotz hätte die Berücksichtigung einschlägiger Standardwerke der Studie hier und da besser getan als der allzu häufige Rückgriff auf Wikipedia-Artikel.

Für das Quellen- und Literaturverzeichnis vertröstet Kaiser den Leser auf den geplanten zweiten Band seiner Studie. Der erste Band lässt eine ausführliche methodische Auseinandersetzung mit den zentralen Quellen Kaisers, den Zeitzeugenberichten, leider vermissen. Weder macht der Verfasser die Auswahl seiner Interviewpartner transparent -- folgte sie mehr dem Zufall oder suchte Kaiser systematisch nach Vertretern verschiedener Bevölkerungsgruppen? -- noch setzt er sich überall mit dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen kritisch auseinander, zitiert diese bisweilen wörtlich, als handle es sich um abschließende Beurteilungen. Den umgangssprachlichen Stil seiner Interviewpartner übernimmt Kaiser stellenweise auch in seiner Darstellung, was sich in Floskeln wie "In Kempen kennt damals jeder jeden" (S. 225 -- in einer Stadt von immerhin 14.000 Einwohnern dürfte das unzutreffend sein) oder "dass auch sie nur Menschen waren" (S. 656) niederschlägt und in der zweifelhaften Einschätzung gipfelt, "dass die Einwohner der Stadt Kempen von diesen wahren Zielen [des NS-Regimes] nichts oder kaum etwas wussten" (S. 650). Hierhin passt auch das Kapitel,Anekdoten', das zwar unterhaltsam, in einer wissenschaftlichen Darstellung aber fehl am Platz ist. Problematisch wird dieser Umgang mit den Quellen vor allem, wenn er zu moralischen Beurteilungen führt. Welchen Wert hat z.B. die Aussage, ein bestimmter HJ-Gefolgschaftsführer sei kein "strammer Nazi" gewesen (S. 348), wenn sie von einem ehemaligen HJ-Rottenführer stammt, der die gleiche Einschätzung zweifellos auch für sich selbst in Anspruch nehmen wird?

Man muss nicht den von Kaiser mit Recht angeprangerten Fehler begehen, sich "auf dem moralischen Hochsitz [zu] sicher [zu] fühlen" (S. 17), um dennoch das Bild zu hinterfragen, das er sich von Kempen in der NS-Zeit macht. Hier sei der Nationalsozialismus eher gemäßigt aufgetreten, ein "vergleichsweise moderate[s] Klima" (S. 651) habe geherrscht, HJ und BDM hätten eher Sportwettkämpfe veranstaltet und Pulswärmer gestrickt (S. 366), als sich politisch zu betätigen. Allzu oft ist die Einschätzung zu lesen, jemand sei "kein echter Nazi" gewesen (z.B. S. 403, 416). Es mag sein, dass sich das in der Erinnerung der Zeitzeugen tatsächlich so darstellt, doch handelt es sich dabei offenbar nur um die Erinnerung derer, die .dazugehörten' (bezeichnend dafür: die Einschätzung der Situation zweier jüdischer Mädchen durch eine Mitschülerin, S. 504). Wo aber bleiben die Erinnerungen derer, die die Nationalsozialisten radikal aus ihrer propagierten Volksgemeinschaft' ausschlössen -- die jüdische Bevölkerung, Kranke und Körperbehinderte, so genannte .Asoziale' u.v.m.? Den Verfolgungsmaßnahmen des Regimes widmet sich Kaiser leider nur am Rande und eher beiläufig, etwa in den kurzen Schilderungen des Boykotts jüdischer Geschäfte 1933 und der Reichspogromnacht 1938.

Dies ist umso bedauerlicher, als er stellenweise durchaus deutlich macht, dass er sich der Problematik seiner Quellen bewusst ist: "Das Fehlen eines jeglichen Unrechtbewusstseins ist kennzeichnend für jeden ehemaligen Nationalsozialisten, mit dem der Verfasser gesprochen hat" (S. 273f., - vgl. aber übrigens das Gegenbeispiel auf S. 355). An anderer Stelle schließt er eine Erörterung der persönlichen Schuld eines SS-Angehörigen, der für Lagerbauten zuständig war, mit der treffenden Frage: "Indes: Wo liegt der Unterschied für die Häftlinge?" (S. 436; vgl. auch S. 452 und S. 654). Eine Vertiefung dieser Problematik -- des schwierigen Verhältnisses zwischen persönlicher Schuld eines Täters und Folgen seines Handelns für andere -- wäre wünschenswert gewesen und sicher weiterführend als die lapidaren Hinweise am Schluss der Darstellung, dass ja schließlich auch Prominente wie Heinz Rühmann dem Nationalsozialismus aufgesessen seien.

Vergleichsweise breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialismus und katholischer Kirche ein, da rund 95 Prozent der Kempener Bevölkerung katholisch waren. Das Bild, das Kaiser zeichnet, bleibt dabei widersprüchlich. Einerseits soll der katholische Bevölkerungsteil gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung vergleichsweise resistent gewesen sein und es der neuen Regierung in Kempen schwer gemacht haben, Fuß zu fassen. "Andererseits nahm dieselbe Bevölkerung größtenteils an den Veranstaltungen der Nationalsozialisten teil." (S. 630f.). Diese von ihm selbst konstatierte "seltsame Schizophrenie" (S. 631) vermag Kaiser nicht ganz überzeugend aufzulösen. Kaiser vermutet ein "Motivbündel aus Angst, Begeisterung und beruflichen wie auch sozialen Zielen" (S. 131) als Hauptgrund dafür, dass auch in Kempen die Mehrheit der Bevölkerung ,mitgemacht' hat. In welchem Verhältnis dazu religiöse Motive standen, kann nicht abschließend geklärt werden.

Nach 1939 zeigte sich der Nationalsozialismus erst in seiner radikalsten Ausprägung. Die Verfolgung der Gegner (übrigens auch der katholischen Kirche) verschärfte sich, und der Krieg wurde zur Bedrohung auch für diejenigen, die sich zuvor im,Dritten Reich' recht komfortabel eingerichtet hatten. Welche Veränderungen dies auch für die .Bürger des kleinen Kempen' mit sich brachte, ist Gegenstand des zweiten Bandes von Kaisers Darstellung.

By Annette Mertens, Bonn

Titel:
Kempen unterm Hakenkreuz, Bd. 1: Eine niederrheinische Kreisstadt im Nationalsozialismus.
Autor/in / Beteiligte Person: Mertens, Annette
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 79 (2015-10-01), S. 414-416
Veröffentlichung: 2015
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • KEMPEN unterm Hakenkreuz: Eine niederrheinische Kreisstadt im Nationalsozialismus (Book)
  • KAISER, Hans
  • NATIONAL socialism
  • NONFICTION
  • HISTORY
  • Subjects: KEMPEN unterm Hakenkreuz: Eine niederrheinische Kreisstadt im Nationalsozialismus (Book) KAISER, Hans NATIONAL socialism NONFICTION HISTORY
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review

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