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Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300-1000).

Clauss, Martin
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 273-274
Online review

Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (<reflink idref="bib300" id="ref1">300-1000</reflink>)  STEFFEN PATZOLD, KARL UBL (Hg.): Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300-1000) (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 90), Berlin, Boston: de Gruyter 2014, 313 S. ISBN: 978-3-11-034578-0.

Die vierzehn Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen auf eine Tagung im Rahmen des Forschungsverbundes ,Nomen et Gens' zurück, die im Mai 2010 in Tübingen stattgefunden hat. Sie nehmen verschiedene Aspekte von Verwandtschaft, ihrer Repräsentation und gesellschaftlichen Funktion im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter in den Blick. Grundlegend ist dabei, dass Verwandtschaft nicht als biologisch oder rechtlich determinierte Konstante, sondern als flexible und situativ auszuhandelnde Sozialform verstanden wird. Karl Ubl skizziert in ,Zur Einführung: Verwandtschaft als Ressource sozialer Integration im frühen Mittelalter׳ (S. 1-27) die Entwicklung vor allem der deutschen mediävistischen Forschung zur Verwandtschaft vom 19. Jahrhundert bis heute und streicht die Einflüsse aus den Sozialwissenschaften heraus, die zu einem differenzierten Verständnis geführt haben: Verwandtschaft war im frühen Mittelalter bilateral, auf die Kernfamilie fokussiert und gegenüber anderen Sozialformen -- wie Freundschaft oder Koresidenz -- nicht privilegiert. Auf Namen gehen die Beiträge von Wolfgang Haubrichs (,Typen der anthroponymischen Indikation von Verwandtschaft bei den gentes: Traditionen -- Innovationen -- Diffe- renzen׳, S. 29-71), Catherine Cubitt (,Personal names, identity and family in Benedictine Reform England׳, S. 223-242) und Laurence L e leu (,Per omnia ingressus vestigia, nomine, moribus et vita -- Parenté, homonymie et ressemblance dans les sources narratives ottoniennes vers ľan mille׳, S. 263-288) ein. Sie betonen, dass die Konstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen auf der Grundlage von Namensformen allein methodisch problematisch ist; diese erlauben vielmehr Einblicke in die Bedeutung, die Abstammung zugeschrieben wurde, und verweisen darauf, dass das zeitgenössi- sehe Verständnis von Verwandtschaft ein entscheidender Faktor ist, wenn man deren historische Wirkmächtigkeit beurteilen will. Mischa Meier (,Flavios Hypatios: der Mann, der Kaiser sein wollte׳, S. 73-96) zeigt anhand der Nachfolge des oströmischen Kaisers Anastasios auf, dass Verwandtschaft als politisches Argument in diesem Kontext wenig Relevanz hatte. Mitunter stehen in diesem Band unterschiedliche Forschungsstandpunkte unversöhnt nebeneinander. So betont Hart- win Brandt (,Familie uncj Verwandtschaft in den weströmischen Aristokratien der Spätantike [4. und 5. Jahrhundert n.Chr.]׳, S. 97-107) die Bedeutung von Verwandtschaft für den gallischen Episkopat, die Conrad Walter und Steffen Patzold (,Der Episkopat im Frankenreich der Merowin- gerzeit: eine sich durch Verwandtschaft reproduzierende Elite?', S. 109-139) in Zweifel ziehen; hier wird darauf verwiesen, dass Verwandtschaft oftmals ein eher durch die Forschung als durch die Quellenlage getragenes Konzept ist. In diese Richtung weist auch Stefan Esders (,Wergeid und soziale Netzwerke im Frankenreich', S. 141-159), der Wergeid als quantifizierendes Regelungsinstrument versteht, das soziale Bindungen jenseits einer engen Familienverwandtschaft aktivieren konnte und als Ausweis eines überfamiliären Ordnungsinteresses zur gesellschaftlichen Stabilisierung beitrug. Thomas Kohl (,Groß- und Kleinfamilien im frühmittelalterlichen Bayern׳, S. 161-175) argumentiert an zwei Beispielen aus dem 9. und 10. Jahrhundert, dass die weite Verwandtschaft oder Großfamilie als handlungsleitender Bezugsrahmen für Besitzentwicklungen deutlich hinter der Kern- oder Kleinfamilie zurückstand. Ebenfalls auf Bayern verweisen die Überlegungen Roman Deutingers (,Wer waren die Agilolfinger?׳, S. 177-194); er kontrastiert die Konstruktion der Agilolfinger als bayerische Herzogsfamilie und das Erklärungspotenzial, welches die Forschung dieser Familienzugehörigkeit zuschreibt, mit der sehr dünnen Quellenlage (nur die ,Lex Baiuvario- rum׳), was auf den Unterschied zwischen genealogischen Beziehungen und einem handlungsleitenden Familienverständnis verweist. Daniela Fruscione (,Zur Familie im 7. Jahrhundert im Span nungsfeld von verfassungsgeschichtlicher Konstruktion und kentischen Quellen', S. 195-221) spürt der Bedeutung von Verwandtschaft in frühmittelalterlichen kentischen Gesetzen (,Textus Roffensis') nach und stellt die Flexibilität des Familienbegriffes und die Bedeutung von Koresidenz fest, die wirkmächtiger sein konnte als Blutsverwandtschaft. Gerd Lubich (,Verwandte, Freunde und Verschwägerte -- cottonische Neuanfänge>?׳, S. 243-261) und Hans-Werner G o e t z (, um 1000: ein solidarisches Netzwerk?', S. 289-302) betrachten die Ottonenzeit und kommen zu zum Teil sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Lubich weist die These ottonischer Neuanfänge im Bereich der politischen Instrumentalisierung von Verwandtschaft zurück und zeigt auch auf Grund terminologischer Beobachtungen, dass die verstärkte Nutzbarmachung von Schwiegerverwandtschaften für politische Zwecke ein Produkt des 9. Jahrhunderts war; er versteht Verwandtschaft als flexibel einsetzbares und nicht automatisch in politischer Solidarität mündendes soziales Konstrukt. Goetz betont hingegen die Bindewirkung verwandtschaftlicher Beziehungen zum Beistand und will hier nicht nur die Kernfamilie, sondern auch die weitere Verwandtschaft in die Pflicht genommen wissen. Constance Brittain Bouchards Überlegungen (,Conclusion: The future of medieval kinship studies', S. 303-313) beschließen den Band. Sie betont, dass dem familiären Selbstverständnis bei der Analyse von frühmittelalterlicher Verwandtschaft ein größeres Gewicht zukommt als der reinen genealogischen Konstruktion. ״Familiy was a construct. Certainly there was a biological component, but biology was far from the chief determiner of who acted together -- or at cross-purposes" (S. 312). Dieser Sammelband zeigt deutlich, dass wir uns von bestimmten Forschungstraditionen -- wie etwa einer Relation zwischen der Intensität gesellschaftlicher Ordnungen und der Bedeutung von Verwandtschaft -- verabschieden sollten; er leistet einen lesenswerten und wichtigen Beitrag zu einer Diskussion, die, auch auf Grund divergierender Begrifflichkeiten, noch keinen abschließenden Konsens gefunden hat.

By Martin Clauss, Chemnitz

Titel:
Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300-1000).
Autor/in / Beteiligte Person: Clauss, Martin
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 273-274
Veröffentlichung: 2017
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • VERWANDTSCHAFT, Name und soziale Ordnung 300-1000 (Book)
  • PATZOLD, Steffen
  • UBL, Karl
  • SOCIAL order
  • NONFICTION
  • HISTORY
  • Subjects: VERWANDTSCHAFT, Name und soziale Ordnung 300-1000 (Book) PATZOLD, Steffen UBL, Karl SOCIAL order NONFICTION HISTORY
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 815

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