Zum Hauptinhalt springen

Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts.

Schönfuß, Florian
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 356-358
Online review

Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts  DIETER WUNDER: Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts-Herrenstand und Fürstendienst. Grundlagen einer Sozialgeschichte des Adels in Hessen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 84), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2016, 844 S. ISBN: 978-3-942225-34-2.

Die neuere Adelsforschung tat sich angesichts der charakteristischen Transregionalität, territorienübergreifenden Wirksamkeit und europäischen Verfasstheit des Hoch- wie eben auch des Niederadels durchweg schwer, ihren Untersuchungsgegenstand räumlich konkret zu fassen. Als ein Plädoyer für eine vor allem durch die landesgeschichtliche Forschungstradition gepflegte Perspektive auf den Adel einzelner Territorien wie gleichsam als Versuch, dessen rechtlich-soziale und ständisch-korporative Eigenheiten herauszuarbeiten, begegnet vor diesem Hintergrund der vorliegende Band Dieter Wunders zum ,Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts'. Hinter den im Titel ausgewiesenen Betrachtungszeitraum oft weit zurückschauend wie auf das 19. Jahrhundert vorausblickend, rückt der Verfasser den Adel "des kleineren historischen Hessen und der beiden größeren Territorien der Landgrafschaften" (S. 5), sprich Hessen-Kassels und Hessen-Darmstadts, in den Blick. Unter einem dezidiert sozialgeschichtlichen, stark quantifizierenden Ansatz fragt Wunder primär nach den materiellen Lebensgrundlagen des -- niederen, landsässigen und weitestgehend protestantischen -- Adels in Hessen, den Einkünften aus Gutsbesitz und Fürstendienst sowie den Formen generationenübergreifender Besitzsicherung. Darüber hinaus steht insbesondere die Fortentwicklung der hessischen Ritterschaft als Korporation bzw. deren schrittweiser Abschluss gegenüber dem so bezeichneten "neuhessischen Adel" (S. 6) in Wechselwirkung mit der landgräflichen Politik im Zentrum der Untersuchung.

Entlang dieser Schwerpunkte gliedert sich der umfängliche Band in insgesamt sechs Teile. Deren erster beleuchtet den hessischen Adel zunächst in seinen grundlegenden rechtlichen und sozialen Merkmalen und rekonstruiert sein demographisches Profil. Hierzu wie insgesamt kann sich der Verfasser auf eine äußerst breite Quellengrundlage stützen, die sich vornehmlich aus den in die hessischen Staatsarchive übernommenen regionalen Adelsarchiven speist. Neben etlichen eher allgemeinen Aspekten adliger Existenz in der Vormoderne, die über den Text hinweg immer wieder kursorisch oder in Form von Exkursen dargelegt werden, sensibilisiert Wunder bereits eingangs für die engen Bindungen zwischen Adel und "nicht-adligen Standespersonen" (S. 64) -- Gelehrte, Beamte, Fürstendiener ohne Adelsprädikat-, die in Hessen gemeinsam den "Herrschaftsstand" (S. 65) bildeten.

Dem Rittergut als Existenzgrundlage, Lebensmittelpunkt und Kristallisationspunkt lokaler Herrenstellung -- und damit auch dem noch immer unterbeleuchteten Themenkomplex von Adel und Wirtschaft -- widmet sich der folgende Part. Gerade die zahlreiche Gutsrechnungen auswertende, minutiös quantifizierende Analyse von "Reinerträgen" (S. 201), Einkünften und Ausgaben verweist, bei aller Verschiedenartigkeit in den hier detailliert rekonstruierten Besitzverhältnissen der betrachteten Adelsfamilien, auf die engmaschige Verwobenheit von Gutswirtschaft, Fürstendienst, Familienpolitik und lokaler Herrschaftspraxis -- was im Grunde wenig überrascht. Bemerkenswert erscheint demgegenüber eher das offenbar völlige Fehlen fideikommissarischer Besitzbindung (bei vorherrschender Realerbteilung unter den männlichen NacJikommen), womit die vom Verfasser konstatierte "Überschuldung" (S. 221) etlicher Güter, die Schwierigkeiten standesgemäßer Versorgung von Adelstöchtern und die häufigen Fälle von "nichtstandesgemäßer Armut" (S. 229) sicher mit zu erklären sind. Neben den sehr ausführlich erläuterten Lehnsverhältnissen, die sich in den hessischen Landgrafschaften durch einen vergleichsweise geringen Allodifizierungsgrad auszeichneten, hätte man sich hier indes zumindest einige skizzierende Ausführungen zur regionalen Agrarverfas- sung und übergreifenden Agrarkonjunktur gewünscht, die insbesondere mit Blick auf das Kapitel ,Der Gutsherr' (S. 179-228) weiteren Erkenntnisgewinn versprochen hätten.

Wiederum in erster Linie die materiellen Erwerbsmöglichkeiten fokussierend, erläutert der dritte Teil des Bandes die Bedeutung des Fürstendienstes für den hessischen Adel -- sowohl in den Landgrafschaften wie, weniger prominent, im "Ausland" -- sowie gleichenorts die "Personalpolitik" (S. 298) der Landgrafen, die ihrerseits routinemäßig als Dienstherren "ausländischen" (S. 305) Adels in Erscheinung traten. Von den adligen Ausbildungswegen in Pagendienst, Kadettenanstalt oder Ritterakademie über die Hofämter, den Dienst in der fürstlichen Regierung sowie jenen im Militär zeichnet Wunder, häufig bis weit ins 17. Jahrhundert zurückblickend, eine Vielzahl adliger Karrieren nach. Entsprechend dem quantifizierenden Anspruch, zu dem das hier vornehmlich befragte serielle Quellenmaterial korrespondiert, bleiben die dahinterstehenden Karrieremöglichkeiten, -Strategien und -entscheidungen allerdings weitgehend blass, ja bieten dem Verfasser nicht selten Anlass zur Spekulation. Fragen nach Patronagenetzwerken, Klientelverbänden, übergreifenden Familienstrategien und dynastischen Orientierungen finden so gut wie keine Beachtung. Dies gilt insbesondere für den häufig frequentierten Militärdienst mit seinen sehr spezifischen Strukturen und Mechanismen, der hier insgesamt wenig sachkundig erörtert wird und als zentraler adliger Handlungsraum -- gerade mit Blick auf den ausgesprochen hohen Militarisierungsgrad Hessen-Kassels -- unterbeleuchtet bleibt.

Demgegenüber warten die Teile vier bis sechs mit einer konzisen, wenn auch von etlichen Redundanzen durchzogenen Darstellung der beide Landgrafschaften umfassenden hessischen Ritterschaft auf. Eine detaillierte Schilderung der ritterschaftlichen Organisationsstrukturen und Ämter, der Beziehungen zu den Reichsinstitutionen wie der ständisch-korporativen Positionen und Besonderheiten erfolgt parallel zu einer fortlaufenden prosopographischen Bestandsaufnahme der zur hessischen Ritterschaft gehörigen Familien. Im Kern steht indes das ambivalente Verhältnis zu den Landgrafen, welches sich im langwierigen Ringen um das ritterschaftliche Stift Kaufungen spiegelt. Hinsichtlich der Nutzung, Verwaltung, funktionellen Bewahrung und schließlich der Zugangsbeschränkung zu den Revenuen dieses ausgedehnten Besitz umfassenden, der Ritterschaft im Zuge der Säkularisierungen des 16. Jahrhunderts von Landgraf Philipp (1504-1567) übertragenen Stiftes konnte man sich in bemerkenswerter Weise gegenüber den Landesherren behaupten. Dies ging jedoch, wie der Verfasser betont, mit einem wohl reichsweit einmaligen Abschluss der Ritterschaft entlang rein historisch-genealogischer Legitimationsmuster einher. Denn über die Zugangsberechtigung zu den Steuern des Kaufunger Stifts, das zugleich zum Fixpunkt korporativen Agierens geriet, entschied seit 1735/36 allein die Zugehörigkeit zum landsässigen Adel in Hessens "philippinischer Zeit" (S. 621). Die spezielle Funktion Kaufungens, dessen Erträge der Unterstützung bedürftiger Adelstöchter und -witwen dienten, verweise zusammen mit konkurrierenden Plänen zur Errichtung eines landgräflichen Damenstifts nicht nur eindringlich auf das verbreitete Phänomen der Armut protestantischer Adelstöchter, denen speziell in Hessen der Zugang zu den vergleichsweise wenigen evangelischen und freiweltlichen Damenstiftern oft verwehrt blieb, sondern auch, wie Wunder aufzeigen kann, auf ein zeitgenössisch durchaus vorhandenes Problembewusstsein.

Den Band beschließt neben einem Resümee der Befunde sowie zahlreichen ,Addenda' (S. 632826) in Form von tabellarischen Übersichten und Quellentranskriptionen die Diskussion zweier grundlegender, wiewohl thesenartig er Artikel zur frühneuzeitlichen Adelsgeschichte von Walter Demel (Der europäische Adel vor der Revolution, 2001) und Gerrit Walther (Freiheit, Freundschaft, Fürstengunst. Kriterien zur Zugehörigkeit zum Adel in der Frühen Neuzeit, 2008), die der Verfasser gewissermaßen als kontrastierende Folie zur abschließenden Verdeutlichung der besonderen Charakteristika des hessischen Adels nutzt. Dies kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Verortung innerhalb einer sehr regen Forschungslandschaft alles in allem zu kurz kommt, etliche einschlägige Studien -- insbesondere mit stärker kulturgeschichtlichem Hintergrund -- nicht rezipiert werden. Vermutlich ist dies ein Stück weit dem überaus breiten und sehr ambitionierten Ansatz geschuldet, der trotz lobenswerter, weil noch zu seltener Thematisierung des Niederadels im Grunde nichts weniger als die sozialgeschichtliche Vermessung einer kompletten frühneuzeitlichen ,Adelslandschaft' (S. 1) anstrebt. Unter der fehlenden Fokussierung leidet jedoch spürbar die argumentative Geschlossenheit des umfangreichen Werks, das streckenweise eher als positivistische, nicht selten etwas detailverliebte Bestandsaufnahme begegnet und insgesamt überfrachtet wirkt. Des Weiteren reduzieren etliche meist in den Fußnotenapparat verlagerte Nebendiskurse, ein teils kleinliches Ringen um Begrifflichkeiten und nicht zuletzt eine überbordende Menge von Rechtschreibfehlern gepaart mit einer Vielzahl grammatikalisch wie stilistisch unausgereifter Formulierungen die Lesbarkeit.

Dessen ungeachtet legt Dieter Wunder einen äußerst verdienstvollen, von jahrelangem intensiven Quellenstudium und enormem Fleiß zeugenden Band vor, der nicht nur eine exzellente Grundlage gerade für stärker auf bestimmte Handlungsräume und ,Arenen' des Adels abzielende wie transregional vergleichende Studien bereitstellt, sondern auch Forschungsfeldern jenseits der Adelsgeschichte im engeren Sinne -- etwa einer mittlerweile in die Jahre gekommenen Ständeforschung -- wertvolle neue Impulse vermitteln kann.

By Florian Schönfuß, Köln

Titel:
Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts.
Autor/in / Beteiligte Person: Schönfuß, Florian
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 356-358
Veröffentlichung: 2017
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • DER Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts-Herrenstand und Furstendienst: Grundlage einer Sozialgeschichte des Adels in Hessen (Book)
  • WUNDER, Dieter
  • NOBILITY (Social class)
  • NONFICTION
  • EIGHTEENTH century
  • GERMANY
  • Subjects: DER Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts-Herrenstand und Furstendienst: Grundlage einer Sozialgeschichte des Adels in Hessen (Book) WUNDER, Dieter NOBILITY (Social class) NONFICTION EIGHTEENTH century
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GERMANY
  • Full Text Word Count: 1194

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -