Leopold Halm, 1893 in Asbach geboren, durchlief in Kòln eine Lehre zum Konditor, wollte diese noch mit einer Ausbildung zum Koch erganzen, als er eingezogen wurde, um seine zweijahrige Wehrdienstpflicht zu absolvieren. Er trat seinen Dienst am 14. Oktober 1913 im II. Bataillon des 9. Rheinischen Infanterie-Regiments Nr. 160 in der Bonner Ermekeilkaserne an.
Seine Uniform solite Halm nicht wieder ausziehen, denn wenige Monate spater begann der Welt- krieg. Die nachsten Jahre erlebte er den Krieg an den verschiedenen Schauplatzen, in der Etappe, aber auch in Frontnàhe mit, bis er im April 1918 bei Morisel in der Picardie fiel.
Der Autor Norbert Biillesbach begleitet den Soldaten Halm auf seinem Weg durch den Krieg. Er konnte dabei auf umfangreiches Material -- Fotos, Dokumente und Notizen Halms -- zuriickgreifen, die dessen Neffe jahrzehntelang aufbewahrt hatte. Ein wahrer Glucksfall fiir einen Historiker, der Geschichte anschaulich und konkret darstellen mòchte.
Wie viele Regimenter wurde auch das Bonner 160er-Regiment immer wieder in Marschen oder per Eisenbahn an die verschiedenen FrontabscJinitte verschoben. Es kampfte vor allem im Nordosten Frankreichs und in Flandern, zeitweise war man auch an der Ostfront stationiert. Dies ist alles in der Regimentsgeschichte -- einer der Hauptquellen von Biillesbach -- detailliert beschrieben.
Es entsteht eine eindrucksvolle Geschichtsaufnahme: Kurze Vorbemerkungen mit geografischen Skizzen beschaftigen sich mit dem jeweiligen im Fokus stehenden Kriegsschauplatz (etwa: ,Die Ab- wehrschlacht bei Arras im Friihjahr 1915'), es folgen erhaltene Fotos und Dokumente, vielfach wer- den dazu Halms Notizen zitiert. Oft werden die Bildunterschriften durch weitere, iiber die individu- ellen Erlebnisse Halms hinausgehende Informationen sehr ausfuhrlich erganzt. Dort, wo es òrtlich oder zeitlich passt, lasst Biillesbach andere Soldaten mit Auszugen aus ihren Lebenserinnerungen sprechen.
Ein Beispiel einer Fotounterschrift (gekiirzt): ,Hattonville, Kirche und Kino', schrieb Leopold zu dieser Aufnahme. In vielen Ruheorten waren zur Unterhaltung der Truppe Kinos eingerichtet: Dann folgt ein Iàn- geres Zitat aus den Kriegserinnerungen Paul Coelestin Ettighoffers, der sich uber den Inhalt der dargebotenen Filme aufiert: ",Nur Liebesstucke ohne jeglichen Hintergrund, dann die Wochenschau .' (Ettighoffer, S. 172)"
Mit dieser Methode kann der Autor an passenden Stellen wesentlich nàher auf den soldatischen Alltag eingehen und ihn beschreiben, als es die mitunter kurzen Erlauterungen Halms tun. An die- sem Punkt wird auch sichtbar, dass sich der Autor intensiv mit der deutschsprachigen Erinnerungs- literatur aus den 1920er und 1930er Jahren iiber den Weltkrieg beschàftigt hat. Nicht nur die ange- sprochenen Zitate anderer Soldaten zeigen dies, sondern auch die im Literaturverzeichnis genannten Dutzende von Erlebnisberichten, Regimentsgeschichten und Romanen, die zusatzlich auch kurz inhaltlich vorgestellt werden. An dieser Stelle sei angemerkt, dass ein Blick auf die nichtdeutsche Erinnerungsliteratur ein wenig fehlt. Fur den Rezensenten gehòrt jedenfalls der Roman ,Helden- angst' des Franzosen Gabriel Chevallier zu einer der eindrticklichsten Erinnerungen an die schreck- lichen Fronterfahrungen des Krieges.
Es bleiben jedoch Fragen: Der Autor nennt keine wissenschaftliche Sekundarliteratur; man wird also davon ausgehen, dass er seine faktischen Informationen aus der genannten Erinnerungsliteratur genommen hat. Dass solcherart Sekundarliteratur nicht genannt wird, ist zum einen schade. Den Lesern und Leserinnen ware ein Hinweis auf eine iibergeordnete Darstellung vielleicht ganz lieb gewesen, zum Beispiel auf die Studie ,Die Deutschen an der Somme'[
Zum anderen wird man fragen diirfen, in welchem Kontext Erinnerungsliteratur entstand und ob sie nicht mitunter kritisch hinterfragt werden muss. Das gilt insbesondere fiir Bullesbachs Haupt- quelle, der 160er-Regimentsgeschichte, die 1931 von einer Offiziersvereinigung herausgegeben wurde. Darf man von einer solchen einen neutralen oder gar kritischen Blick auf die Geschehnisse erwarten?
1st es das Privileg eines individuellen Erinnerungsberichts, subjektiv sein zu kònnen und andere Sichtweisen vernachlassigen zu durfen, so wird man bei einer Publikation einer Offiziersvereinigung vermuten konnen, dass etwas Bestimmtes uberliefert werden soli. Ein Beispiel: Uber die ,Feuertaufe' des Regiments am 22. August 1914 in Pocheresse/ Belgien berichtet in der Regimentsgeschichte ein Soldat Krings seitenlang iiber die Vorkommnisse. Tenor: Es war schlimm, aber wir mussten das Dorf zerstoren, und Zivilisten kamen ums Leben, weil sie sich in die militarischen Karnpfe eingemischt hatten. Dieser Version widersprach nicht nur der damalige Pfarrer des Dorfes. Noch heute wird in Porcheresse der 22. August als Gedenktag fiir die Opfer -- fiir das Dorf sind es Ermordete -- begangen. Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass viele Dòrfer in Belgien und Nordfrankreich unter den Kriegsverbrechen der deutschen Truppen zu leiden hatten -- Porcheresse war kein Einzel- fall. Ein Hinweis auf die Studie von Home und Kramer[
Fazit: Trotz dieser Anmerkungen ist Biillesbachs Buch zu empfehlen. Reich bebildert, mit den klug kommentierten Bildunterschriften gibt es einen eindriicklichen Einblick in das deutsche Solda- tenleben an und in der Nàhe der Front. Es ist ein wertvoller Beitrag zur Erhellung der Biografien so mancher unserer (Ur-)Grofivàter, deren Leben ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein scheint, obwohl diese Generation -- Erster Weltkrieg, Inflation, Weltwirtschaftskrise, NS-Zeit, Zweiter Welt- krieg, Aufbaujahre -- fiir das gewaltreiche 20. Jahrhundert steht wie kaum eine andere.
By Horst-Pierre Bothien, Bonn