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"Heute schon ist man ein Kriegsmensch geworden".

Rosin, Philip
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 391-393
Online review

"Heute schon ist man ein Kriegsmensch geworden"  STEPHEN SCHRODER (Hg.): "Heute schon ist man ein Kriegsmensch geworden". Dormagen und Rommerskirchen in der Àra des Ersten Weltkriegs (Veròffentlichungen des Archivs im Rhein-Kreis Neuss 1), Bonn 2015.

Dass der òffentliche Gedenkkalender die historische Forschung durchaus befliigeln kann, zeigen die rund um das Jubilàumsjahr 2014 verstàrkt unternommenen Forschungen zu verschiedenen Aspekten des Ersten Weltkriegs. Das trifft erfreulicherweise auch fiir Untersuchungen zur regional- geschichtlichen Forschung zu (so fiir das Gebiet des heutigen NRW etwa zu Mònchengladbach, Miilheim/Ruhr, Bonn sowie zur Rhein-Ruhr-Region). Wie sich zeigt, sind wir selbst nach 100 Jahren bei vielen Stàdten und Regionen iiber die Geschehnisse an der ,Heimatfront' noch uberraschend schlecht unterrichtet. Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht der von Stephen Schroder herausge- gebene Sammelband iiber eine damals noch dezidiert landlich gepragte Region, was die Studie umso wertvoller macht, als wir mit Ausnahme von Benjamin Ziemanns Pionierstudie iiber das sùdliche Bayern bisher kaum uber wissenschaftliche Erkenntnisse zu Kriegsauswirkungen auf dem Lande verfiigen.

Was waren nun die regionalen Besonderheiten im heutigen Rhein-Kreis Neuss? Die untersuchten Orte bildeten im Untersuchungszeitraum keine administrative Einheit, so dass sich Voraussetzungen und Entwicklungen auf engem Raum teilweise voneinander unterschieden, etwa auch mit der Zuge- hòrigkeit zu untersclriedlichen Besatzungszonen nach Kriegsende. Die Region war zwar landlich gepragt, doch waren grofie Stadte wie Kòln und Dusseldorf sowie das Ruhrgebiet nicht weit entfernt, so dass Industrialisierung und Modernisierung gerade in den Jahren vor und wahrend des Weltkriegs sichtbar wurden. Zentral war zudem der Einfluss der katholischen Kirche, denn "Fròmmigkeit beschrieb keine Leerformel, sondern konnte als Lebensgrundlage betrachtet werden" (S. 183). Das zeigte sich etwa mit Blick auf die herausgehobene Autoritat des Pastors iiber das Wahlverhalten der Bevòlkerung (Zentrum) bis hin zur Ausgestaltung des òrtlichen Festkalenders. Die Kirche war der "zentrale Akteur an der Dormagener bzw. Rommerskirchener ,Heimatfront'" (S. 151).

Die thematische Bandbreite der Beitràge reicht von der lokalen Vorkriegsentwicklung iiber das Fronterlebnis einheimischer Soldaten, die wirtschaftlichen und versorgungstecJmischen Kriegsfol- gen in der Heimat sowie den Einfluss von Schule und Kirche auf die Bevòlkerung bis hin zum Kriegsende und der anschliefienden Besatzungszeit. Das Anliegen der neun Autoren, das Alltagsleben vor Ort, gewissermafien die Verbindung zwischen Provinz und Weltkrieg, darzustellen, wird in dem titelgebenden Zitat eines Soldaten vom September 1914 deutlich: Heute schon ist man ein Kriegsmensch geworden (S. 85).

Diese Wandlung zum ,Kriegsmenschen', in der der militàrische Konflikt eine den Alltag (mit)be- stimmende Bedeutung erhielt, zeigte sich in unterschiedlicher Form auch an der Heimatfront. Das betraf zuvòrderst die Ernàhrungslage und die Energieversorgung. ObwoJJ die Situation auf dem Lande besser war als in den Stadten, verschlechterte sich auch in den Regionen Dormagen und Rom- merskirchen die Versorgungslage seit Mitte des Krieges deutlich. Trotzdem blieb die Bevòlkerung auf dem Land teilweise autark. Ein wichtiger Grund lag darin, dass hier nicht nur Biirgerliche und Bauern, sondern selbst viele Handwerker und Arbeiter entweder iiber einen eigenen Garten oder iiber eine Parzelle Land verfiigten, die sie bewirtschaften konnten. Bei der Bewertung der Versorgungslage kommt Stephen Schroder (S. 142-181) in der Folge zu dem Ergebnis, dass das mit Blick auf das Deutsche Reich insgesamt gefallte Urteil, wonach die Mangelernahrung die zentrale Rriegs- erfahrung der Bevòlkerung gewesen sei, "als zu pauschal" kritisch hinterfragt werden miisse, denn "hinsichtlich der Versorgungslage war es eben nicht egal, wo in Deutschland man wohnte" (S. 173). Fiir den Raum Dormagen-Rommerskirchen ergibt sich somit ein anderer Befund als fur viele Stàdte.

Ein weiterer Beitrag (Markus Raasch; S. 182-207) widmet sich der Rolle von Schulen, Kirchen und Vereinen. Von zentraler Bedeutung war die aller konfessionellen Auseinandersetzungen in der Rheinprovinz zum Trotz weiterhin pragende Rolle der katholischen Kirche -- auch und gerade mit Blick auf die lokale Kriegsgesellschaft im Raum Dormagen-Rommerskirchen zwischen 1914 und 1918. Die Pfarrer genossen besondere Autoritat und standen an der "Spitze der òrtlichen Hierarchie" (S. 183). Diese Entwicklung zeigte sich auch an den zahlreichen kirchlichen Aktivitaten wahrend des Krieges mit Messen und Andachten fur die Soldaten im Felde sowie Seelenamtern und Jahres- gedàchtnissen fiir die Gefallenen. Eine àhnlich zentrale Rolle wie die katholische Kirche spielten in der Dormagener und Rommerskirchener Kriegsgesellschaft die Schulen beziehungsweise die Lehrer- schaft. Sie behandelte das Kriegsgeschehen im Unterricht flachendeckend, vom scheinbar durchweg positiven Verlauf der Kampfe an den Wandkarten iiber das Schreiben patriotischer Aufsatze und von Briefen an Frontsoldaten bis hin zum Gesang patriotischer Lieder und der Organisation von Spen- denaktionen. Wie Markus Raasch hervorhebt, waren Kirchen, Schulen und Vereine zentrale Propa- gandaakteure vor Ort und "wesentlich an der Mobilisierung der Bevòlkerung beteiligt" (S. 193f.). Die Vereine bleiben in der Untersuchung im Vergleich leider ein wenig aufien vor. So finden die Krieger- vereine und der wohl wichtige Frauenverein in verschiedenen Beitragen jeweils nur kurz Erwàh- nung.

Nachhaltige Auswirkungen hatte der Erste Weltkrieg auf die wirtschaftliche Entwicklung insbe- sondere in Dormagen (S. 112-141). Paradoxerweise war das Kriegsgeschehen, so Patrick B o r m a n n, "Ausgangspunkt einer prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung" (S. 138). Der einzige grofie Industriebetrieb in der landwirtschaftlich gepràgten Region war bis dahin die seit 1864 existierende Dormagener Zuckerfabrik mit 312 Saison-Mitarbeitern (Stand 1912) gewesen. Als weiteres regionales Unternehmen kam um die Jahrhundertwende die Aktienbrauerei Dormagen mit etwa 30 Angestell- ten hinzu. Im Jahr 1913 erwarb Bayer eine Gewerbeflache in Dormagen, doch solite das Gebiet ur- spriinglich nur als Abfallflache fiir Schlamm und Schutt genutzt werden. Vor dem Hintergrund des Krieges wurde stattdessen 1916 innerhalb weniger Monate ein Werk des Leverkusener Unterneh- mens zur Sprengstoffproduktion errichtet. Nach Aufnahme der Produktion waren 1917 bereits iiber 4.000 Beschàftigte dort tatig -- es herrschte Arbeitskraftemangel, auch in der Landwirtschaft. Neben der Teilzeitbeschaftigung von Schiilern und polnischen Wanderarbeitern wurden auch Kriegsgefan- gene eingesetzt, genaue Angaben zur Zahl der Zwangsarbeiter etwa in den Farbenfabriken sind nicht iiberliefert.

Eine Besonderheit des Bandes besteht darin, dass er nicht mit Kriegende und Revolution im November 1918 endet, sondern die anschliefiende Besatzungszeit noch mit einbezieht (S. 234-271). Der Trend der Forschung, sich etwa mit Blick auf die weiteren Entwicklungen in Russland, auf dem Balkan und im Nahen Osten von der Fixierung auf ,1918' als Enddatum zu lòsen, kònnte auch hin- sichtlich der Besatzungszeit im Rheinland sinnvoll sein. Thomas Freibergers Beitrag macht jeden- falls deutlich, dass die jahrelange Besatzung eine ahnlich pragende Erfahrung darstellte wie die Kriegsjahre zuvor. Durch die Prasenz fremder Truppen war der Konflikt fiir die Bevòlkerung teilweise realer als wahrend der Kriegsjahre selbst.

Auch in der westlichen Provinz, das zeigen die einzelnen Beitràge eindrucksvoll, handelte es sich um "[e]in[en] Krieg, der keinen Menschen unberiilirt liefi" (Roger Chickering). Wer sich kunftig mit der Regionalgeschichte des làndlichen Raumes im Ersten Weltkrieg beschaftigt, wird sich an diesem Referenzwerk zu orientieren haben.

By Philip Rosin, Bonn

Titel:
"Heute schon ist man ein Kriegsmensch geworden".
Autor/in / Beteiligte Person: Rosin, Philip
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 391-393
Veröffentlichung: 2017
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • HEUTE schon ist man ein Kr iegsmensch geworden: Dormagen und Rommerskirchen in der Ara des Ersten Weltkriegs (Book)
  • SCHRODER, Stephen
  • WORLD War I
  • NONFICTION
  • GERMANY
  • Subjects: HEUTE schon ist man ein Kr iegsmensch geworden: Dormagen und Rommerskirchen in der Ara des Ersten Weltkriegs (Book) SCHRODER, Stephen WORLD War I NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GERMANY
  • Full Text Word Count: 1093

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