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Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik.

Schlemmer, Martin
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 394-397
Online review

Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik  HANS-LUDWIGSELBACH: Katholische Kirche und franzósische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Nationale, regionale und kirchliche Interessen zwi- schen Rhein, Saar und Ruhr (1918-1924) (Libelli Rhenani 48), Kòln: Selbstverlag der Erz- bischòflichen Diòzesan- und Dombibliothek 2013, 657 S. ISBN: 978-3-939160-44-1.

Bei Hans-Ludwig Selbachs voluminòser Studie handelt es sich um eine von Gerd Krumeich betreute Dissertation, die im Jahr 2012 von der Philosophischen Fakultàt der Heinrich-Heine-Univer- sitat Dusseldorf angenommen wurde.

Mit einem guten Oberblick ausgestattet, berichtet der Autor in sieben Hauptteilen vom Verhàltnis der katholischen Kirche zur Rheinlandpolitik nach Ende des Ersten Weltkrieges: von der Rhein- grenze als franzòsischem Kriegsziel, von der Lage der Kirche unmittelbar nach Kriegsende, von verschiedenen, meJirheitlich auf eine fòderative Neuordnung des Reiches abzielenden Rheinstaatbe- strebungen (Los von Berlin!), von der Politik des Haut Commissariat Francis, also vom Beginn der franzòsischen Besatzungspolitik, vom Verhalten des Heiligen Stuhls in dieser Frage, von den Planen zur (Wieder-)Errichtung eines Bistums Aachen, von der Frage nach der Schaffung eines Saarbistums, von den Aktivitaten des franzòsischen Militarbischofs Paul Rémond im besetzten Gebiet, vom Ruhr- konflikt, vom rheinischen und pfalzischen Separatismus der Jahre 1923/24.

Der Leser verfolgt die Aktivitaten des politischen Katholizismus, der Zentrumspartei, der zen- trumsnahen Presse (insbesondere der Kòlnischen Volkszeitung) in Richtung einer westdeutschen Staatlichkeit, die aktionistischen Umtriebe des ehemaligen preufiischen Staatsanwalts Hans Adam Dorten inklusive Rheinischer Volksvereinigung (RhW) und Christlicher Volkspartei (CVP), die fòderalistischen, auf starken Widerstand stofienden Bemtihungen des Kòlner Professors und spàte- ren NS-Opfers Benedikt Schmittmann, das heftige, kontroverse Aufeinandertreffen des umtriebigen rheinischen Demokraten Adenauer mit dem revolutions- und republikfeindlichen Erzbischof von Miinchen, Michael Kardinal von Faulhaber, auf dem Munchener Katholikentag Ende August 1922, die bischòflichen Appelle aus Kòln, Mainz und Trier an die Bevòlkerung -- in Sonderheit an Klerus und Glaubige -- an Rhein, Ruhr und Saar.

Obzwar sich der Autor dem ,Wording' des Rezensenten anschliefit und den Begriff der ,Rhein- staatbestrebungen' (im Plural) gegeniiber anderen Begriffen empfiehlt (S. 101 Anm. 60), spricht Sel- bach an anderen Stellen von "Rheinlandbewegung" und "Rheinstaatbewegung" (z.B. S. 271) -- wenn- gleich auch er unterschiedliche Gruppierungen und Ziele der Rheinstaatbefiirworter herausarbeitet, die letztlich eine begriffliche Differenzierung beziehungsweise eine Diversifizierung in programma- tischer Hinsicht nahelegen. In jedem Falle ist beziiglich der zunachst iiberwiegend auf eine rheini- sche/rheinisch-westfalische/westdeutsche Autonomie "im Rahmen des Reichsverbandes" abzielen- den Uberlegungen und Bestrebungen der Begriff der ,Rheinstaatbestrebungen' dem Begriff des ,Separatismus' vorzuziehen, da dieser irrefuhrend und zumeist auch unzutreffend ist -- mit Aus- nahme der von Beginn an klar separatistischen Aktivitàten des eher der Arbeiterschaft zugewandten Rheinstaat-Protagonisten Joseph Smeets.

Wenn der Autor schreibt, dass die "Bischofsstuhle von Kòln, Mainz und Trier […] ganz oder teil- weise im franzòsischen Besatzungsgebiet" (S. 606) gelegen hatten, ist diese Aussage missverstànd- lich, wortlich genommen schlichtweg falsch, wie alleine schon Abb. 8 "Bistumer im Westen des Deutschen Reiches" (S. 251) den Lesenden klar vor Augen fiihrt. Keine der Diòzesen lag komplett im franzòsisch besetzten Gebiet.

Obwohl sich der Autor eingehender mit der rheinisch-fòderalistischen Christlichen Volkspartei (CVP) -- einer Zentrums-Abspaltung, die den rheinischen Aktivisten nahestand und 1920 gemeinsam mit der Bayerischen Volkspartei (BVP) in den Reichstagswahlkampf zog -- beschàftigt, den im Rhein- land tatigen und mit Dorten kooperierenden BVP-Politiker Karl Graf von Bothmer namentlich er- wahnt, lasst er dessen aufschlussreiche Publikation ,Bayem den Bayern'[1] unberucksichtigt. Beim Thema politischer Katholizismus und Wahlen ware ein Blick in die Studie von Johannes Schauff[2] hilfreich gewesen.

Der Autor setzt sich mit der These des Rezensenten auseinander, dass die niedere Geistlichkeit iiberwiegend und kontinuierlich zu den Befurwortern einer rheinischen Autonomie im Reichsver- band gezahlt habe. In einer Fufinote (S. 536 Anm. 69) wird darauf verwiesen, dass die 50 im Jahr 1919 von Dorten gesammelten Zustimmungserklarungen zu einem Rheinstaat lediglich "2,5 Prozent der ca. 2.000 katholischen Pfarreien im Gebiet vom Niederrhein bis zur Pfalz" reprasentierten. Wie Sel- bach an anderer Stelle jedoch selbst schreibt, stammen die Zustimmungsbekundungen aber nahezu komplett aus Rheinhessen und angrenzenden Gebieten -- dort reprasentierten die Gemeinden einen wesentlich hòheren Prozentsatz der katholischen Pfarreien. Zudem ist unbedingt zu berucksichtigen, dass etliche der Erklarungen nach dem Wiesbadener ,Dorten-Putsch' vom 1. Juni 1919 abgegeben wurden, gegeniiber einem Protagonisten der Rheinstaatbestrebungen, der bereits unubersehbar das Stigma des ,Hochverraters' trug. Wer sich diesem verweigerte, musste noch lange kein Gegner eines auf legalem Wege zu erreichenden Rheinstaates sein.

Lenkt man in diesem Zusammenhang nun den Blick auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen, klart sich die Lage weiter auf. Selbach schreibt: "Als der Kòlner Polizeiprasident im August 1921 Kardinal Schulte informierte, er habe vertrauliche Hinweise, dass der katholische Klerus in letzter Zeit verstàrkt auf die Absonderung von Preufien hinarbeite, lachte der Kolner Oberhirte ,iiber das haltlose Gerede, auf das einzugehen sich nicht verlohne. Fiir die treudeutsche Gesinnung des Klerus seiner Erzdiòzese kònne er unbedingt einstehen"' (S. 283). Der Kardinal beantwortete folglich eine Frage nach dem Verhàltnis zu Preufien mit einer Antwort zum Verhaltnis zu Deutschland. Besser als der Erzbischof dies erkennen und zugeben konnte oder wollte, charakterisierte der Oberkommandie- rende der franzòsischen Rheinarmee, General Degoutte, die Situation. Dieser "schatzte Ende Januar 1921 die Masse der katholischen Geistlichen als durchaus loyal gegenuber dem Reich ein. Dennoch befurworte der Klerus eine gewisse Art der Autonomie und stiitze sich dabei auf eine grofie Zahl von Glaubigen" (S. 285).

Dass es sich hierbei keineswegs um einen Widerspruch handelt, sondern Nation und Region zu- sammengefiihrt wurden, wahrend die preuSische ,Mittelinstanz' aufien vor blieb, fùhrt Selbach selbst aus. Er konstatiert: "Zweifellos gab es auch nach dem Dorten-Putsch vom 1. Juni 1919 in Teilen des Klerus Anhanger des Rheinstaatgedankens, aber es fehlen Hinweise, dass die niedere Geistlich- keit in grofierer Zahl einen unabhangigen, nach Frankreich orientierten Staat favorisiert hatte" (S. 282). Dieser Aussage ist zuzustimmen[3]

Zur Rolle Benedikt Schmittmanns und der Protagonisten der CVP hàtten die Akten der Abteilung Rheinland des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen zum ,Aristo-Separatismus' gewinnbringend her- angezogen werden konnen[4]. Dass auf der einen Seite Schmittmann und Vertreter der CVP (etwa der Reichstagsabgeordnete Deermann sowie der am St.-Vinzenz-Krankenhaus tatige Professor Drees- mann) miteinander in Kontakt standen, wahrend Schmittmann auf der anderen Seite Anfeindungen durch das Zentrum -- seiner eigenen Partei -- ausgesetzt war, scheint Selbach entgangen zu sein. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage zu relativieren, wonach "Schmittmann […] uber sehr gute Verbindungen […] zur Zentrumspartei" (S. 546 Anm. Ill) verfugt habe. Dies gait iiber weite Strecken des Betrachtungszeitraums eben nicht fur alle Kreise der Partei, nicht fiir die Zentrumspartei.

Wenn Selbach in seinem Fazit (hier S. 613) festhalt, dass der "Krieg in den Kòpfen" (Krumeich) in Deutschland wie in Frankreich fortgedauert habe, trifft dies fur die Gesamtgesellschaft sicherlich weitgehend, im Falle der (katholischen) Rheinstaatbefurworter allerdings nicht uneingeschrankt zu: Viele sahen in einem mòglichen Rheinstaat durchaus eine ,Friedensbriicke' zwischen Deutschland- Preufien und Frankreich. Immerhin nennt Selbach einige der -- wie wir heute wissen: erfolglosen -- Versòhnungsinitiativen, die dem "christlichen Friedensgedanken" entsprangen. Uneingeschrankt zuzustimmen ist dem Autor beziiglich der These, dass so gut wie niemand im katholischen Rheinland / Deutschland einer Angliederung linksrheinischen Gebiets an Frankreich das Wort redete.

Es bleiben noch einige formale Monita zu nennen, die bei einer Onlinestellung korrigiert werden kònnten: ,der kunftigen Friedensordnung' statt "der kiinftige Friedensordnung" (S. 63); ,wurde rea- lisiert' statt "wurde am realisiert" (S. 260); ,der reichsfeindlichen Stròmung' statt "der reichsfeind- liche Stròmung" (S. 269); ,fiihrte dann' statt "fuhrten dann" (S. 442); statt vom ,Prinzip des Selbst- bestimmungsrechtes' (S. 87) solite man besser vom "Prinzip der Selbstbestimmung" sprechen; die Fufinote zur Anmerkung 88 findet sich auf S. 46 statt richtig auf S. 45, die Fufinoten zu den Anmer- kungen 134 und 135 finden sich auf S. 256 statt recte auf S. 255. Der einen oder anderen Textpassage, in der tiberwiegend ,fremde' Forschungsergebnisse referiert werden, hatte eine Kiirzung vermutlich nicht geschadet.

Die Monografie ist erschlossen durch Abbildungs-, Abktirzungs-, Quellen- und Literaturverzeich- nis sowie Personenindex. Hier ist anzumerken, dass es sich beim Historischen Archiv der Stadt Kòln mitnichten um ein staatliches Archiv handelt. Die Rubrik ,Staatliche Archive' (S. 617) ware folglich durch ,Offentliche Archive' o.a. zu ersetzen.

Ungeachtet der genannten Optimierungsmòglichkeiten solite man Selbachs Monografie unbe- dingt berucksichtigen, wenn man sich kunftig mit dem Thema befasst; dem Autor ist summa summa- rum ein guter Wurf gelungen, der umfassend und zuverlàssig iiber das Verhaltnis von franzòsischer Rheinlandpolitik und katholischer Kirche informiert.

Notes 1 Karl Graf von Bothmer, Bayern den Bayern. Zeitgenossische Betrachtungen iiber die Frage: Bundesgenosse oder Vasallentum, Diessen vor Munchen 1920. 2 Johannes Schauff, Das Wahlverhalten der deutschen Katholiken im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Untersuchungen aus dem Jahre 1928 (Veròffentlichungen der Kommission fur Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, 18), Mainz 1975. 3 Vgl. zum katholischen Bekenntnis zum ,Deutschtum' bei gleichzeitiger Ablehnung des ,Preu- Gentums' in den beiden preufiischen Westprovinzen auch die in der Bonifacius-Druckerei erschie- nene Schrift [Hermann Rosier] Die deutsche Nation und das Preufientum, Paderborn 1919, hier zum Beispiel S. 66f. Zum Verhaltnis von Nation und Region ferner den wichtigen Beitrag von Siegfried Weichlein, Von der Exklusion zur Inklusion. Das Verhaltnis von Nation und Region in der neueren deutschen Geschichte, in: Manfred Groten (Hg.), Frank Bartsch (Red.), Die Rheinlande und das Reich. Vortrage gehalten auf dem Symposium anlàsslich des 125-jahrigen Bestehens der Gesellschaft fur Rheinische Geschichtskunde am 12. und 13. Mai 2006 im Universitatsclub in Bonn, veranstaltet von der Gesellschaft fiir Rheinische Geschichtskunde in Verbindung mit dem Land- schaftsverband Rheinland (Publikationen der Gesellschaft fiir Rheinische Geschichtskunde, Vortrage 34), Dusseldorf 2007, S. 235-253. 4 LAV NRW R, BR 7, Nr. 17091; LAV NRW R, BR 51, Nr. 315.

By Martin Schlemmer, Duisburg / Koblenz

Titel:
Katholische Kirche und französische Rheinlandpolitik.
Autor/in / Beteiligte Person: Schlemmer, Martin
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 394-397
Veröffentlichung: 2017
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • KATHOLISCHE Kirche und franzosische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg: Nationale, regionale und kirchliche Interessen zwischen Rhein, Saar und Ruhr 1918-1924 (Book)
  • SELBACH, Hans-Ludwig
  • CATHOLIC Church
  • NONFICTION
  • TWENTIETH century
  • CATHOLIC Church history
  • GERMANY
  • Subjects: KATHOLISCHE Kirche und franzosische Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg: Nationale, regionale und kirchliche Interessen zwischen Rhein, Saar und Ruhr 1918-1924 (Book) SELBACH, Hans-Ludwig CATHOLIC Church NONFICTION TWENTIETH century CATHOLIC Church history
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GERMANY
  • Full Text Word Count: 1553

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