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Eschwege.

Münster, Keywan Klaus
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 416-418
Online review

Eschwege  WINFRIED SPEITKAMP: Eschwege. Eine Stadt und der Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen81), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2015, 318 S. ISBN: 978-3-942225-30-4.

Dass die Umbenennung eines Straßennamens allzu schnell zum lokalen Politikum werden kann, zeigt sich bereits seit längerem in zahlreichen deutschen Städten. Erbittert geführte Diskussionen um Hindenburgplätze, -Straßen und -alleen zeugen von einer Umbenennungswelle, in der sich streitbare Erinnerungskultur in Form eines Straßenschildes zu materialisieren scheint. Dass sich dieser Auf- arbeitungsprozess der NS-Vergangenheit nicht auf Städte wie Münster oder Bonn beschränkt, zeigt die Geschichte der Straße ,Am Ottilienberg' der hessischen Kreisstadt Eschwege.

Es war der langjährige, nach 1945 stets hochverehrte Bürgermeister Alexander Beuermann (18971963, BM 1934-1945), der sich zum Nukleus des städtischen Aufarbeitungsprozesses entwickelte. Daran anknüpfend konstatiert der Kasseler Historiker Winfried Speitkamp, Autor der vorliegenden Studie, im Vorwort: "Am Anfang war Beuermann" (S. 1). Denn die Verdienste eines Kommunalpolitikers, der sein Amt 1945 verloren hatte, seit 1948 aber als Erster Beigeordneter die Geschicke der Stadt mit lenkte, spaltete die hessische Bürgergemeinde. Letztlich war es jener kontrovers geführte Streit über die 2009 erfolgte Umbenennung der ,Beuermann-Straße' in ,Am Ottilienberg', welcher den Anstoß für Winfried Speitkamps Arbeit gab. Angesichts ,Alex' Beuermanns leidenschaftlich diskutierter Stellung und seiner seit den 1990er Jahren immer wieder unterstrichenen Verstrickung in die Verbrechen des NS-Staates beauftragte die Stadt den Verfasser mit der offenen wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Geschichte. Seinen Anspruch, kein juristisches Gutachten zur Überführung von Tätern vorzulegen, sondern Einblicke in die städtischen Verhältnisse zwischen 1933 und 1945 zu ermöglichen, erfüllt der Kasseler Historiker dabei gänzlich. Die Stadtgeschichte Eschweges im Nationalsozialismus bildet ein wünschenswertes Beispiel für die Verschmelzung von geschichtswissenschaftlichem Interesse und der lokalen Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit.

Winfried Speitkamps acht Hauptkapitel umfassende Studie nutzt sowohl chronologische als auch systematische Zugriffe. Nach einer auf das Jahr 1933 zulaufenden Schilderung von Geschichte und Profil der Stadt Eschwege (S. 15-44) thematisiert Speitkamp den Beginn der nationalsozialistischen Machtdurchdringung des kommunalen Raumes (S. 45-68). Über den Wunsch zur Rückkehr in eine von vermeintlicher Ordnung, Vertrautheit und Konstanz gekennzeichnete Zeit habe man den "stürzenden Wandel der Verfassungsnormen in der Stadt" (S. 68) rasch akzeptiert. Nicht zuletzt an diesem Punkt habe die Person Beuermanns, der bereits vor seiner Ernennung zum Bürgermeister 1934 als (dem Nationalsozialismus weitestgehend gleichgültig gegenüberstehender) Stadtverordneter in Eschwege wirkte, als Beweis gelten können, dass man es mit keiner allzu großen politischen Zäsur zu tun hatte. Das dritte Kapitel (S. 69-111) dient Speitkamp dazu, das multipolare, von Pragmatismus -- ja, teils auch Skrupellosigkeit -- geprägte Verhältnis von Partei, Staat und Kommune auszuleuchten. Diesen systematischen Ansatz wählt er auch bei den darauffolgenden Kapiteln, die die Bereiche ,Schule und Kirche' (S. 113-154) sowie ,Feste und Traditionen' (S. 155-183) behandeln. Mit der 1938 in Eschwege gewählten Faschingsparole ,Es geht nichts über Gemütlichkeit' leitet der Autor in sein sechstes Kapitel ein, das den durchaus janusköpfigen, von Ausgrenzung und einer "neuen Normalität" geprägten städtischen Alltag untersucht (S. 185-216). Dabei nimmt Speitkamp vorrangig zwei Gesichtspunkte in den Blick: 1. Die Überwölbung des privaten und konfessionellen Raumes mit nationalsozialistischen Werten, Inhalten und Formen. 2. Die vor allem den jüdischen Bevölkerungsteil betreffenden "Dynamiken der Ausgrenzung" (S. 206), welche schließlich auch mit einer Radikalisierung von imaginierter und realer Gewalt einherging. Der Grund dafür, dass die Stadtverwaltung diesen Prozess letztlich gleichermaßen verkannt wie vorangetrieben habe, sei neben der Normalisierung oben genannter Entwicklungen darin zu suchen, dass man stets darum bemüht schien, daraus "Nutzen für die Stadt […] zu ziehen" (S. 213). Den einleitend geöffneten chronologischen Erzählrahmen schließt Speitkamp mit seinen beiden letzten Kapiteln, die das Kriegsleben und -erleben in Eschwege (S. 217-245) thematisieren und einen Ausblick auf die Nachkriegszeit geben, dabei aber wohlgemerkt das Augenmerk auf personelle Kontinuitäten und Diskontinuitäten bzw. deren Wahrnehmung legen (S. 247-287).

Daran bereits erkennbar ist Speitkamps Fokus auf das personelle Element -- das ,Netzwerk' -, wie es in neueren Abhandlungen allzu häufig heißt. Dabei verkörperte der einleitend erwähnte Beuermann die städtische Elite keineswegs alleine. Weitere in Eschwege zuletzt vermehrt in die Kritik geratene Namen wie Fritz Neuenroth, Ludwig Hindenlang oder Kurt Holzapfel tauchen auf und werden von Speitkamp in beeindruckender Quellenarbeit miteinander in Verbindung gesetzt. Es sind jene kommunalpolitischen Akteure, welche die Geschichte der Stadt Eschwege maßgeblich prägten und die zu den Exponenten des "Eschweger Bildungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsbürgertums [zählten], das annahm, für die Stadt das Beste zu tun" (S. 290). Keiner der Verantwortlichen habe sich dem Nationalsozialismus vor 1933 besonders verbunden gefühlt, sei militanter Gegner der Republik, Verkünder einer monarchischen oder gar völkischen Revolution gewesen. Skrupel, den eigenen Dienst seit 1933 unter nationalsozialistischer Herrschaft zu verrichten, bestanden hingegen auch nicht. Handlungsorientierung seien die Kultur, Identität und die gepflegten Traditionen der Stadt Eschwege gewesen, wobei man seine politischen Vorhaben zielführend mit den "Ansprüchen der nationalsozialistischen Zeit" verbunden habe. Genau an diesem Punkt verschmolz die vermeintliche Autonomie und Autarkie des städtischen Lebens mit der Hierarchie des NS-Staates.

Hier führt Speitkamp seine beiden Untersuchungsbereiche zusammen. Denn es habe Amtsträger wie Beuermann und ihre "Face-to-Face-Beziehungen vor Ort" gebraucht, um gewissermaßen zwischen einem parteiamtlichen, auf Gleichschaltung gepolten Zentrum und einer hessischen Peripherie mit eigenen Traditionen und Gepflogenheiten zu vermitteln: "Sie produzierten gemeinsam das, was sich als Nationalsozialismus in der Kommune darstellte" (S. 291). Immer wieder unterstreicht Speitkamps Darstellung, dass es sich beim Nationalsozialismus -- sofern man überhaupt von einem Nationalsozialismus sprechen möchte -- im kommunalen Raum immer nur um ein "Kompromissprodukt zahlreicher Gruppen" handeln konnte -- zumindest dort, wo städtische Partikularinteressen mit einem überformten, unitaristischen Nationalsozialismus kollidierten.

Mit seiner Darstellung hat Speitkamp eine quellengesättigte, das Maßband der Landesgeschichte hochhaltende Studie vorgelegt. Wenngleich das wohl auf den Entstehungskontext zurückzuführende letzte Kapitel (,Übergänge und Vergangenheitspolitik') im Rahmen des circa 300 Seiten starken Buches hätte etwas konziser ausfallen können, gelingt dem Autor eine über Eschwege hinausweisende große Forschungsleistung, der eine breite Rezeption -- auch außerhalb der Kreisstadt -- zu wünschen ist.

By Keywan Klaus Münster, Bonn

Titel:
Eschwege.
Autor/in / Beteiligte Person: Münster, Keywan Klaus
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 81 (2017), S. 416-418
Veröffentlichung: 2017
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • ESCHWEGE: Eine Stadt und der Nationalsozialismus (Book)
  • SPEITKAMP, Winfried
  • NATIONAL socialism
  • NONFICTION
  • HISTORY
  • Subjects: ESCHWEGE: Eine Stadt und der Nationalsozialismus (Book) SPEITKAMP, Winfried NATIONAL socialism NONFICTION HISTORY
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 959

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