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Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. A Life. Princeton, NJ 2017.

Gudian, Janus
In: Historische Zeitschrift, Jg. 306 (2018-06-01), Heft 3, S. 772-776
Online review

Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. A Life. Princeton, NJ 2017 

Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. A Life. 2017 Princeton University Press Princeton, NJ, 978-0691172828, $ 39,95

Robert Lerner forscht seit Jahrzehnten über den deutsch-amerikanischen Historiker Ernst Kantorowicz und hat im Zuge dessen eine große Anzahl an Kantorowicz-Memorabilien sowie Originalquellen in einem privaten Archiv zusammengetragen – von Kantorowiczʼ Kleiderbürste über ganze Konvolute seiner Korrespondenz bis hin zu unpublizierten Lebenserinnerungen von Kantorowiczʼ Vertrauten und Verwandten. Vor allem sind es die von Lerner im Verlauf der Jahre geführten Interviews mit Kantorowicz einstmals nahestehenden Personen, die das Alleinstellungsmerkmal seiner Arbeit ausmachen: Aufgrund sowohl der Anzahl als auch der Intensität, mit der sich Lerner seines Quellenschatzes bedient, basiert die vorliegende Biographie vorrangig auf (bislang unbekannten) Quellen. Die Sekundärliteratur hingegen wird von Lerner primär dann angeführt, wenn ihr auf Basis dieser neuen Quellen eine neue Erkenntnis, eine andere Sichtweise gegenübergestellt werden kann (etwa bezüglich der Annahme, ob der einstige ‚Jünger‘ Stefan Georges in seinem US-amerikanischen Exil in Berkeley seinerseits einen Dichterkreis um sich scharte, S. 299, 366 f.; dagegen spricht Lerner dezidiert von einem Schülerkreis – „circle“ – um Kantorowicz, S. 304).

Lerner beginnt seine Biographie nahezu romanartig, nämlich mit der Beschreibung eines Gemäldes, das handelnde Juden auf dem Posener Marktplatz von ca. 1835 zeigt und dem Leser das Milieu, in dem Kantorowiczʼ Großvater zu einem reichen Likörfabrikanten aufstieg, vor Augen führt. Doch kann Lerner im weiteren Verlauf seine eigene Herkunft als Mediävist nicht verbergen, denn seine große Stärke ist erstens nicht nur die akribische Recherche nach neuen Quellen, sondern auch die minutiöse Rekonstruktion der Kantorowiczʼschen Lebensgeschichte. Dabei ist die Detailsättigung derartig hoch, dass das Ergebnis fast schon wie ein biographisches Itinerar anmutet, das viele (auch kleine) Fragen beantwortet beziehungsweise Wissenslücken schließt (etwa dass der frühe Studienortwechsel Kantorowiczʼ von Berlin nach München im Februar 1919 durch „cherchez la femme“ bedingt war, S. 47), aber an manchen Stellen auch eine Gefahr der Überbordung birgt (wann kaufte Kantorowicz wo wie viele Teppiche und wie lang zierten diese seinen Hausstand, S. 32). Zweitens legt Lerner großen Wert auf das Kantorowicz umgebende Beziehungsgeflecht. So bespricht er jede für Kantorowicz maßgebliche Person bei ihrem Eintritt in dessen Leben eingehend und spürt den Bedeutungen und Auswirkungen nach, die diese Bekannt- oder Freundschaften für Kantorowicz hatten. Nicht nur, dass diese Darstellungsart an den Gedanken eines Personenverbands erinnert, sie wird vielmehr auch Kantorowicz und dessen Wertschätzung zwischenmenschlicher Beziehungen in besonderem Maße gerecht – empfing Kantorowicz doch zum Beispiel seine maßgebliche Sozialisation in den Diskussionen mit einem Dichter (und eben nicht an einer oder durch eine Institution). Drittens vermag Lerner aufgrund seines stupenden Wissens so manchen von Kantorowicz falsch datierten Brief neu zu datieren beziehungsweise den Entstehungszeitraum von undatierten Briefen derart einzugrenzen, dass aufgrund der neuen zeitlichen Einordnung auch neue Erkenntnisse möglich sind. So etwa im Hinblick auf die Frage, bei wem Kantorowicz sein historisches Rüstzeug erlernte: Der die Nationalökonomie studierende Kantorowicz (es stand die Option im Raum, in das familieneigene Unternehmen einzusteigen) besuchte Zeit seines Studiums angeblich nur ein einziges historisches Seminar – bei dem Althistoriker Alfred von Domaszewski. Aufgrund der von Lerner konstatierten schlechten handwerklichen Qualität der Dissertation von Kantorowicz folgert Lerner, dass es nicht Kantorowicz’ Doktorvater, der Kulturhistoriker Eberhard Gothein, gewesen sein konnte. Damit muss, so Lerner, der Besuch der nicht mehr datierbaren Veranstaltung Domaszewskis nach Kantorowicz’ Dissertation, aber vor dem Beginn seiner Arbeit an der Stauferbiographie „Kaiser Friedrich der Zweite“ gelegen haben. Damit fielen Domaszewski die Lorbeeren zu, einem Ernst Kantorowicz das wissenschaftlich korrekte Arbeiten vermittelt zu haben (S. 66 f.).

Aber Lerner schreibt nicht nur als Mediävist über einen Mediävisten, sondern macht sich darüber hinaus auch die mäeutische Geschichtsschreibung des ‚amerikanischen‘ Kantorowicz zu eigen: In der chronologischen Darstellung vermeidet Lerner oftmals die thematische Abhandlung eines Aspekts, sondern greift diesen stattdessen mehrfach auf und überlässt es dabei dem Leser, aus der Fülle der Einzelinformationen nicht nur Querverbindungen zu konstruieren, sondern auch sich daraus ergebende Fragen zu formulieren. Zudem stellt Lerner in zahlreichen Fällen ganz bewusst das Forschen nach handlungsleitenden Motiven hintan und dokumentiert stattdessen das Geschehene (programmatisch auf S. 5, beispielhaft auf S. 352) – und eröffnet somit dem Leser einen Raum für eigene Schlüsse.

Dies lässt sich exemplarisch an Kantorowiczʼ dritter Station seiner Freikorpszugehörigkeit und seiner bis dato angenommenen antikommunistischen Einstellung aufzeigen (zuerst kämpfte er angeblich nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Heimatstadt Posen gegen die Polen, dann – schon als Student – in Berlin gegen den Spartakusaufstand und schließlich in München gegen die Räterepublik): Obwohl die Ernsthaftigkeit seines Kampfes gegen den Spartakusaufstand durch einen von Lerner entdeckten Brief an die Eltern nunmehr als widerlegt gelten kann (S. 36 f.), schmückte sich Kantorowicz Zeit seines Lebens mit dem Etikett „Spartacus victor“ (S. 37) und nutzte seinen bewaffneten Kampf gegen die Kommunisten später im Leben als Ausweis seiner deutsch-nationalen Gesinnung (als er 1933 gegen den Geist und die Auswirkungen des Berufsbeamtengesetzes protestierte, S. 160 ff.) beziehungsweise seiner politisch ‚untadeligen‘, d. h. nicht kommunistischen Haltung (als er 1949/50 in der Loyalty Oath-Affäre gegen die Auswirkungen des McCarthyismus Widerstand leistete, S. 39 f., 316, 326). Überzeugend verwirft Lerner zudem spätere Aussagen Kantorowicz’ über die Gründe für seinen Kampf gegen die Spartakisten (dass er sich durch den Aufruhr in seiner Arbeitsruhe gestört gefühlt habe, S. 37) als unglaubwürdig.

Zwar hinterfragt Lerner also die Ernsthaftigkeit von Kantorowicz’ tatsächlichem Kampf gegen die Spartakisten in Berlin und stuft die sich darauf beziehenden Aussagen als unglaubhaft ein, überträgt aber den einmal gesäten Zweifel leider nicht auf dessen Freikorpskämpfe in Posen oder München. Allerdings gibt Lerner dem Leser sämtliche Informationen an die Hand, hier in Eigenregie nach der Zuverlässigkeit der Kantorowicz’schen Aussagen zu fragen. So lassen sich Kantorowicz’ Angaben über seine Münchener Freikorpsepisode (dass er von Kommunisten beschossen worden sei und selbst geschossen, ja sogar getötet habe, S. 39) in Parallele zu seinen – unglaubwürdigen – Aussagen über seine Berliner Zeit setzen. Denn erstens nahm es Kantorowicz mit dem Wahrheitsgehalt seines Lebenslaufs nicht immer so genau, wenn es ihm nutzte (S. 51). Zweitens ist in einem selbstverfassten Curriculum Vitae eine Aussage von ihm überliefert (S. 39; die er aber bei einer Überarbeitung eliminierte, ebd. Anm. 52), wonach er in München im Zuge der Kämpfe verwundet wurde – er lag im Mai 1919 tatsächlich einmal im Krankenhaus, allerdings wegen einer Blinddarmoperation (S. 47 f.). Drittens hatte Kantorowicz im Laufe seines Lebens weder Berührungsängste gegenüber Kommunisten (Marion Gräfin Dönhoff nahm ihn in seiner Frankfurter Zeit zu kommunistischen Kundgebungen mit, S. 157) noch scheute er sich, vehement und mit vollem professoralem Gewicht für einen Kommunisten einzutreten (er schrieb 1950 – während er in der Loyalty Oath-Affäre jeglichen Verdacht von sich fernzuhalten bestrebt war, selbst ein Kommunist zu sein – einem solchen ein Empfehlungsschreiben und nochmals 1961, S. 377, 380 ff.). Viertens war er Lerner zufolge während der McCarthy-Ära bereit, Kommunisten in die Fakultät aufzunehmen (S. 326, 377). In der Zusammenschau des Gesagten kommen durchaus Zweifel sowohl an Kantorowicz’ Aussagen, er sei von Kommunisten beschossen worden, er habe selbst Kommunisten erschossen, als auch an dessen Kämpfen gegen die Münchener Räterepublik auf.

Zwei weitere wichtige Aspekte der vorliegenden Biographie gilt es zumindest anzudeuten: zum einen Lerners weitreichende Erkenntnis, dass die Ursprünge des zentralen Kapitels „Aevum“ in Kantorowicz’ Alterswerk „The Kingʼs Two Bodies“ bis 1935 zurückreichen, als er sich mit der NS-Ideologie und NS-Politik auseinanderzusetzen hatte – eventuell sogar bis 1932, als Kantorowicz Stefan George ein (nicht realisiertes) Projekt skizzierte (die Entstehungsgeschichte der „King’s Two Bodies“ wird angesprochen auf S. 155, 180, 195 ff., 217 f., 250, 344, 351); zum anderen den Fluchtpunkt der vorliegenden Biographie beziehungsweise Lerners These, dass sich „EKa“ (wie Lerner Kantorowicz in der Regel nennt, ohne dabei die notwendige kritische Distanz zu verlieren) im Verlauf seines Lebens von der politischen Rechten nicht nur entfernt habe, sondern sogar zur politischen „Linken“ eines John F. Kennedy übergewechselt sei (S. 5: „from the right of Hindenburg to the left of Kennedy“, zudem S. 326, 377, 388). Die Argumente, die Lerner für diese Entwicklung anführt, sind unter anderem Kantorowiczʼ Einsatz in der Loyalty Oath-Affäre („Kantorowiczʼs support of the position that ‚so long as the Communist Party in the United States is a legal party, affiliation with that party in and of itself should not be regarded as a justifiable reason for exclusion from the academic profession‘ put him about as far left on the issue of academic freedom as it was possible to go. In that regard ‚left of him was only the wall‘ “, S. 326), seine vehemente Kritik an der US-Politik im Kalten Krieg (S. 377) sowie am Rassismus (emotional vertrat Kantorowicz die Ansicht, die Universitäten für die farbige Bevölkerung zu öffnen, S. 379).

Robert E. Lerners fulminantes wie akkurates Werk, das mit 29 (teilweise unbekannten) Abbildungen illustriert ist sowie von einem Abkürzungsverzeichnis und einem Personenindex ergänzt wird (vielleicht enthält die in Vorbereitung befindliche deutsche Ausgabe eine Bibliographie), dürfte nicht zuletzt aufgrund der zugrunde liegenden (Zeitzeugen-)Interviews und des daraus geschöpften Detailreichtums, aus dem ein vielfarbiges Lebensbild eines der bedeutendsten Mediävisten des 20. Jahrhunderts komponiert wird, zu einem Grundlagenwerk der künftigen Kantorowicz-Forschung werden.

By Janus Gudian

Titel:
Robert E. Lerner, Ernst Kantorowicz. A Life. Princeton, NJ 2017.
Autor/in / Beteiligte Person: Gudian, Janus
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 306 (2018-06-01), Heft 3, S. 772-776
Veröffentlichung: 2018
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2018-1193
Schlagwort:
  • ERNST Kantorowicz: A Life (Book)
  • LERNER, Robert E.
  • KANTOROWICZ, Ernst
  • HISTORIANS
  • NONFICTION
  • GERMANY
  • Subjects: ERNST Kantorowicz: A Life (Book) LERNER, Robert E. KANTOROWICZ, Ernst HISTORIANS NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GERMANY
  • Author Affiliations: 1 = Goethe-Universität, Historisches Seminar, Mittelalterliche Geschichte, Frankfurt am Main, 60329, Germany.
  • Full Text Word Count: 1494

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