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Der Erste Weltkrieg und die Städte.

Schloßmacher, Norbert
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 82 (2018-10-01), S. 323-325
Online review

Der Erste Weltkrieg und die Städte  FRANK BECKER (Hg.): Der Erste Weltkrieg und die Städte. Studien zur Rhein-RuhrRegion, Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2015,334 S. ISBN: 978-3-95605-011-4.

Lange Zeit befasste sich die Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs nahezu ausschließlich mit dem Geschehen an den Fronten, mit Fragen der Diplomatie und mit den Entscheidungen der militärischen Oberkommandos und der jeweiligen Regierungen. Mittlerweile ist Gemeingut geworden, dass es auch eine Heimatfront gab, dass auch und vielleicht gerade Städte und Gemeinden und ihre Bürgerinnen und Bürger, auch weitab vom eigentlichen Kriegsgeschehen, in nahezu allen Bereichen des Daseins nicht nur in das kriegerische Geschehen involviert waren, sondern tief in Mitleidenschaft gezogen wurden. Bahnbrechend in diesem Zusammenhang war zweifellos die meisterliche Studie von Roger Chickering über Freiburg im Ersten Weltkrieg, in deutscher Sprache erschienen im Jahre 2007.

Auch der vorliegende Band mit seinen insgesamt elf Beiträgen -- bei den Autorinnen und Autoren handelt es sich, mit Ausnahme des Herausgebers, um junge Historikerinnen und Historiker der Universität Duisburg-Essen -- thematisiert ganz unterschiedliche Aspekte kommunaler Weltkriegsgeschichte im nördlichen rheinisch-westfälischen Raum. Schwerpunkte liegen dabei auf Untersuchungen zur angeblichen oder tatsächlichen ,Juli-Begeisterung' und dem ,August-Erlebnis', zu Fragen der Fürsorge und Ernährung, zur Rolle des Arbeiters im Krieg, der sich verändernden Situation der Frauen im Alltag und der Kriegsrezeption in Form des ,Heldengedenkens'.

Moritz Herzog (S. 11^18) befasst sich mit der Stimmung in der Stadt Duisburg in den Tagen um den Kriegsausbruch und kommt zu dem -- mittlerweile nicht mehr überraschenden -- Resultat, dass neben Kriegsbegeisterung auf der einen und Skepsis, Vorbehalten und Angst auf der anderen Seite die Gier nach Informationen, das unbändige Interesse an Nachrichten die Atmosphäre in der Stadt im Besonderen prägte. Dass dabei der lokalen Presse eine große Bedeutung zukam, und zwar sowohl als Lieferant von Neuigkeiten als auch als Akteur, bleibt festzuhalten.

Auch Vanessa Vogt (für Gelsenkirchen, S. 49-83) und Kyra Palberg (für Essen, S. 84-111), die ihre Augenmerke auf die Augusttage 1914 legen, bestätigen den von Jeffrey Verhey in seiner im Jahre 2000 erschienenen Studie über den ,Geist von 1914' erstmals ausdrücklich geäußerten Befund, dass keinesfalls Kriegsbegeisterung in den Straßen vorherrschte, wie es endgültig ab 1916 zum wesentlichen Bestandteil der Propaganda und schließlich zum Mythos wurde, sondern dass "Gefasstheit" und "Entschiedenheit" sowie die oft zitierten "ernsten Gesichter" das Stadtbild dominierten. Auch die Diagnose, dass in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und innerhalb der verschiedenen politischen Strömungen durchaus gegensätzliche Haltungen zum Krieg virulent waren, wird durch die Forschung insbesondere der beiden letzten Jahrzehnte bestätigt.

Dass es der Bochumer Stadtverwaltung ähnlich erging wie den Verantwortlichen in den meisten anderen Städten, überrascht nicht: Sie stand den Herausforderungen des Kriegs vornehmlich auf dem Feld der sozialen Arbeit völlig unvorbereitet gegenüber. Daniel Z i m e r stellt dar, insbesondere unter Verwendung der zeitgenössischen Presse, inwieweit private Initiativen, Vereine und Organisationen gleichsam einsprangen und die Kriegswohlfahrtspflege vor Ort leisteten (S. 113-135).

Der Herausgeber, der an der Universität Duisburg-Essen lehrende Frank Becker (S. 136-158), untersucht die Kriegsjahre bei der Krupp AG, bekanntlich nicht nur der größte Arbeitgeber in Essen, sondern auch weit über die Stadt und das Ruhrgebiet hinaus ein Synonym für ein erfolgreiches deutsches Industrieunternehmen. Ihre Beschäftigungszahlen verdreifachten sich zwischen 1914 und 1918, und zwar auf mehr als 110.000 Beschäftigte, darunter ca. 28.000 Frauen, eine Zahl, die in diesen Jahren um das Zwanzigfache gestiegen war. Die ,Burgfrieden-Haltung' der Arbeiter, als Resultat des allgemeinen Stimmungsumschwungs an der Monatswende Juli/August 1914 identifiziert, wird als äußerst fragil eingeschätzt. Die aufgezeigten "paternalistischen Wohlfahrtsmaßnahmen" wie auch die zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung für verwundete und gefallene ,Kruppianer', so ein weiterer Befund, entsprangen weniger einer grundsätzlich altruistischen Einstellung der Unternehmensleitung, sondern wurden als durchaus eigennützige Instrumentarien einer am Rüstungsgeschäft gut verdienenden Firma eingesetzt.

Drei vergleichsweise kleineren Kommunen mit jeweils spezifischen Strukturen widmen sich die Beiträge von Lukas Bergmann (Kleve, S. 159-187), Jan Matschke (Wesel, S. 188-216) und Carsten Michael Buck (Burgsteinfurt, heute Teil der Stadt Steinfurt, S. 217-237). Vieles ist kriegsbedingt vergleichbar, zum Teil identisch, anderes differiert: Vielleicht auch aufgrund der Grenznähe scheint die Not in Kleve geringer gewesen zu sein. Wesel musste sich aufgrund seiner großen Festung noch zusätzlichen Herausforderungen stellen. Anhand des stark agrarischen Charakters von Burgsteinfurt wird die ganz unterschiedliche Lebenssituation von Selbstversorgern und Versorgungsberechtigten anschaulich skizziert.

Die insbesondere kriegsbedingt sich verändernde Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft, vor allem in der Arbeitswelt, ist das Thema von Nora D ü d i η g (S. 238-270). Obwohl die Standesunterschiede offenkundig bleiben -- auf der einen Seite der ehrenamtliche Hilfsdienst, auf der anderen Seite die notwendige Erwerbstätigkeit -- und die meisten Frauen nach Kriegsende in ihre frühere Rolle zurückkehren (müssen), stellt sich dennoch die gesellschaftliche Realität der Frauen 1918 anders dar als noch vier Jahre zuvor.

Einen analytisch-interpretatorischen Ansatz verfolgt Helena E s s e r (S. 271-299) bei ihrer Betrachtung der Traueranzeigen für gefallene Soldaten in der Oberhausener Presse. Bei aller Unterschiedlichkeit der Gestaltung, in der Wortwahl und in der Verwendung von Symbolen gleichen sich all diese Anzeigen hinsichtlich der Heroisierung des,Opfertodes' und der Mythologisierung des Geschehens. Eine Reflexion der Sinnhaftigkeit des Krieges verbietet sich, der Tod legitimiert den Krieg geradezu.

Anne Büttner (S. 300-319) erstellt für Duisburg eine Art Topographie der Gefallenen-Ehrenmale. Zwei wesentliche Gestaltungsmerkmale lassen sich unterscheiden, die unter anderem auch mit der zeitlichen Distanz zum Kriegsgeschehen zu tun haben: auf der einen Seite das Heldenhafte der zu Würdigenden, auf der anderen Seite die Darstellung von Erschöpfung, Schmerz, Verzweiflung.

Der Krieg veränderte nicht nur das Leben der Soldaten von Grund auf; auch die Menschen an der Heimatfront erlebten entbehrungsreiche, schmerzhafte und leidvolle Jahre. Dies zeigt der Band für alle untersuchten Kommunen nachdrücklich und eindringlich. Überraschende Forschungsergebnisse waren nicht zu erwarten, zumal die in jenen Jahren recht uniform berichtende lokale Presse die wichtigste Quellenbasis bildet.

By Norbert Schloßmacher, Bonn

Titel:
Der Erste Weltkrieg und die Städte.
Autor/in / Beteiligte Person: Schloßmacher, Norbert
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 82 (2018-10-01), S. 323-325
Veröffentlichung: 2018
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • DER Erste Weltkrieg und die Stadte: Studien zur Rhein-Ruhr-Region (Book)
  • BECKER, Frank
  • WORLD War I
  • NONFICTION
  • GERMANY
  • Subjects: DER Erste Weltkrieg und die Stadte: Studien zur Rhein-Ruhr-Region (Book) BECKER, Frank WORLD War I NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GERMANY

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