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Gelsenkirchen im Nationalsozialismus.

Mertens, Annette
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 82 (2018-10-01), S. 337-339
Online review

BESPRECHUNGEN Gelsenkirchen im Nationalsozialismus  DANIEL SCHMIDT (Hg.): Gelsenkirchen im Nationalsozialismus. Katalog zur Dauerausstellung (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte, Bd. 12), Essen: Klartext Verlag 2017, 280 S. ISBN: 978-3-8375-1672-2.

Am 8. Mai 2015 -- genau 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs -- wurde in dem ehemaligen Polizeigebäude in der Cranger Straße 323 in Gelsenkirchen die Dauerausstellung,Gelsenkirchen im Nationalsozialismus' eröffnet. Daniel Schmidt hat nunmehr als Herausgeber einen Begleitband zur Ausstellung vorgelegt, der die Ausstellungstexte in überarbeiteter und erweiterter Form sowie einen großen Teil der gezeigten Abbildungen beinhaltet, darunter in erster Linie Fotografien, aber auch viele zeitgenössische Schriftstücke, Zeitungsartikel, Propaganda-Plakate und einiges mehr.

Der Band ist untergliedert in sieben chronologisch sowie thematisch definierte Abschnitte, die sich an den klassischen Zäsuren 1914, 1933, 1939, 1945 und 1949 orientieren. Auf das Kapitel über den Aufstieg des Nationalsozialismus seit Beginn des Ersten Weltkriegs folgt der Abschnitt über das Jahr 1933 als Jahr der Gleichschaltung'. Zwei Kapitel befassen sich unter den Titeln ,Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft -- Anspruch und Wirklichkeit' bzw.,Macht und Ohnmacht im ,Dritten Reich" mit den Jahren 1933 bis 1939. Es folgen die Abschnitte über den Krieg 1939 bis 1945 sowie über ,Befreiung und Nachkriegszeit' 1945 bis 1949. Das Schlusskapitel Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit' nach 1945 thematisiert verschiedene Formen der Erinnerungskultur.

Als Schlüsselbegriff, der sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel zieht, dient der von den Nationalsozialisten propagierte Begriff der Volksgemeinschaft'. Die Leitfrage der Ausstellung zielt auf die Bedingungen, unter denen die sog. .Volksgemeinschaft' "bereit war, im Namen einer rassistischen und menschenverachtenden Ideologie an Verbrechen mitzuwirken, die mit alltäglicher Ausgrenzung begannen und schließlich in Krieg und Massenmord gipfelten" (S. 11). So beleuchtet der Band die "Mechanismen von Integration und Ausgrenzung", die in der Schule und Arbeitswelt ebenso wie in der Freizeit wirkten, setzt sich mit den Auswirkungen des Krieges auf das volksgemeinschaftliche Empfinden auseinander, schildert mit Blick auf die im Krieg weiter radikalisierte Gegnerverfolgung und -ermordung die Entwicklung der Volksgemeinschaft' zur "Verbrechensgemeinschaft" (S. 165) und gibt schließlich einen Ausblick darauf, wie sich das "Erbe der Volksgemeinschaft" auch noch Jahre nach dem Krieg "in konkurrierenden Gedenkorten und Gedenkpraktiken" widergespiegelt habe (S. 255).

Die allgemeine Darstellung der Geschichte der NS-Zeit wird jeweils mit lokalen Beispielen und Besonderheiten verknüpft. Dabei ist es den Verfassern überzeugend gelungen, auch komplexe und vielschichtige Zusammenhänge und eine Fülle an Informationen in kurzer, präziser und zugleich gut verständlicher Form zusammenzufassen. Ambivalente Begriffe wie .Widerstand', .Befreiung' und .Wiedergutmachung' werden hinterfragt und treffend erläutert. Inhaltlich erfahren auch sachkundige Leser durchaus noch Neues, etwa über die Instrumentalisierung des mit der Stadt Gelsenkirchen untrennbar verbundenen Fußballclubs FC Schalke 04 (S. 90-94) oder über die kommunistisch orientierte Widerstandsgruppe um Franz Zielasko (S. 174-179).

Die Lesetexte und Abbildungen werden ergänzt durch Kurzbiographien von Gelsenkirchener Bürgern, die die NS-Zeit erlebt (aber nicht immer überlebt) haben. Als Beispiele ausgewählt wurden Angehörige der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen, Männer wie Frauen, junge wie alte Menschen, Täter ebenso wie Gegner und Opfer des Nationalsozialismus und solche, die sich nicht eindeutig als das eine oder andere charakterisieren lassen.

Die Darstellung jener Bevölkerungsgruppen, die der propagierten Volksgemeinschaft' nicht angehören wollten oder durften, bietet ein breites Spektrum, das weit über die großen Gruppen der jüdischen Bevölkerung und der politisch Verfolgten hinausgeht. Neben konfessionellen und verschiedensten oppositionellen Gruppierungen werden auch die in der Erinnerungskultur lange Zeit vergessenen Opfer wie Sinti und Roma sowie die Opfer der Krankenmorde berücksichtigt.

Die Aussagekraft der Texte wird freilich in dem Band um ein Vielfaches gesteigert durch die enorme Kraft der Bilder und die Authentizität der Originalquellen. Gerade die Schilderung einzelner, lokaler Beispiele und die Präsentation von Dokumenten, die Einzelschicksale illustrieren, lässt die Darstellung umso eindrucksvoller wirken und die geschilderten Ereignisse gleichsam lebendig werden: Etwa der Abdruck einer amtlichen Mitteilung an die Witwe eines Hilfsschlossers, der wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen verhaftet worden war, über die Vollstreckung des Todesurteils (S. 171) oder die Schilderung der Rückkehr eines 1939 in die USA emigrierten Juden, der als US-Soldat 1945 nach Gelsenkirchen zurückkam und in seinem früheren Elternhaus auf den Mann traf, der das Haus samt Mobiliar übernommen hatte (S. 233f.). Den absurden Charakter des rassenideologisch verblendeten nationalsozialistischen Menschenbildes verdeutlicht die Ausstellung durch ein denkbar einfaches Mittel, nämlich die Gegenüberstellung zweier Familienfotos aus den 1930er Jahren, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen: Eltern in Festtagskleidung posieren mit ihren jeweils drei Kindern, ebenfalls fein herausgeputzt und etwas steif in die Kamera schauend. Und doch könnte der Unterschied zwischen beiden Familien größer nicht sein: Das eine Bild zeigt eine jüdische Familie, die als "gemeinschaftsfremd" stigmatisiert und verfolgt wurde, während die andere, eine nicht jüdische Familie, den Nationalsozialisten als "Volksgenossen" galt (S. 100).

Dies sind nur wenige Beispiele aus der Fülle an Bildern und Dokumenten, die Beeindruckendes, Besonderes, Alltägliches, Erschreckendes, Grauenhaftes und bisweilen auch Kurioses (etwa die Silberhochzeit im Bunker, S. 192) über ,Gelsenkirchen im Nationalsozialismus' abbilden. Der Band ist nicht nur zum Durchlesen, sondern besonders auch zum immer neuen Durchblättern geeignet und löst damit zweifellos den Anspruch ein, jenes "entdeckende Lernen" zu ermöglichen, dem sich die Ausstellung verpflichtet fühlt (S. 12). Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis sowie ein Personenregister erleichtern dabei die Orientierung im Band, der als rundum gelungen bezeichnet werden kann.

By Annette Mertens, Bonn

Titel:
Gelsenkirchen im Nationalsozialismus.
Autor/in / Beteiligte Person: Mertens, Annette
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 82 (2018-10-01), S. 337-339
Veröffentlichung: 2018
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • GELSENKIRCHEN im Nationalsozialismus: Katalog zur Dauerausstellung (Book)
  • SCHMIDT, Daniel
  • NATIONAL socialism
  • NONFICTION
  • Subjects: GELSENKIRCHEN im Nationalsozialismus: Katalog zur Dauerausstellung (Book) SCHMIDT, Daniel NATIONAL socialism NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review

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