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Westfälische Erinnerungsorte.

Rutz, Andreas
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 82 (2018-10-01), S. 358-360
Online review

BESPRECHUNGEN Westfälische Erinnerungsorte  LENA KRULL (Hg.): Westfälische Erinnerungsorte. Beiträge zum kollektiven Gedächtnis einer Region (Forschungen zur Regionalgeschichte 80), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017,590 S. ISBN: 978-3-506-78607-4.

Die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit, nach Traditionsbildung, historischem Erinnern und Gedenken sowie der Bedeutung dieser Prozesse für vergangene Gegenwarten, aber auch unsere eigene Zeit spielen in der kulturwissenschaftlich geprägten Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren eine zunehmende Rolle. Einen wichtigen Referenzpunkt stellen dabei die sogenannten Erinnerungsorte dar, also Orte, Objekte, Personen, Ereignisse, Symbole, Rituale usw., die gleichsam Fixpunkte des kollektiven Gedächtnisses bilden und in denen sich die Erinnerung bestimmter sozialer Gruppen kondensiert findet. Das Spannende an solchen Erinnerungsorten ist, dass sie "Momente der Heterochronie" darstellen, wie Klaus Große Kracht mit Verweis auf Michel Foucault formuliert hat, denn in ihnen verbinden sich immer verschiedene Zeitschichten: "Eine an einen Erinnerungsort geknüpfte Vergangenheitsdeutung wird genutzt, um Interessen der jeweiligen Gegenwart an eine bestimmte Zukunftserwartung durchzusetzen" (S. 109). Daraus ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit einer regelmäßigen Aktualisierung des Forschungsgegenstandes, denn Erinnerung verändert sich kontinuierlich. Somit können auch neue Erinnerungsorte entstehen oder alte Erinnerungsorte neue Facetten hinzugewinnen. So ist etwa der im vorliegenden Band zu findende Beitrag zum ,Kiepenkerl', dem Prototyp des westfälischen Wanderhändlers, mittlerweile von einem Ereignis überholt worden, das sicherlich die kollektive Erinnerung in Münster verändern wird, nämlich der Amokfahrt vom 7. April 2018, bei der ein 48-Jähriger mit einem Campingbus in die am Kiepenkerl-Denkmal sitzenden Restaurantgäste raste und mehrere Menschen tötete.

Das Konzept der Erinnerungsorte geht auf den französischen Historiker Pierre Nora zurück, der zwischen 1984 und 1992 eine mehrbändige Sammlung von französischen ,lieux de mémoire' publizierte. Mit den ,Deutschen Erinnerungsorten' adaptierten Etienne François und Hagen Schulze das Konzept 2001 für Deutschland. War dieses Werk wie sein französischer Vorläufer auf die Nation fokussiert, liegen mittlerweile auch für zahlreiche deutsche Regionen, Bundesländer oder historische Landschaften Publikationen zu Erinnerungsorten vor oder werden noch erarbeitet: Schlesien (2005), Schleswig-Holstein (2006), Oberschwaben (2009), Oldenburg (2012), Baden-Württemberg (2012), Böhmen und Mitteldeutschland (2013), Ruhrgebiet (2013ff.), Rheinland-Pfalz (2015), Niedersachsen (2015ff.) (Nachweise S. 15). Wie die Herausgeberin der Westfälischen Erinnerungsorte' in ihrer Einleitung sehr zutreffend herausarbeitet, bietet die Untersuchung regionaler Erinnerungsorte eine hervorragende Möglichkeit, Regionen zu dekonstruieren, indem die narrativen und performativen Strategien ihrer Herstellung und Reproduktion im kollektiven Erinnern analysiert werden. Das methodische Dilemma dieses Verfahrens besteht freilich darin, dass die Bearbeitung spezifisch regionaler Erinnerungsorte das Vorhandensein einer bestimmten Region impliziert und die Region, die man doch eigentlich dekonstruieren wollte, durch die Auseinandersetzung mit ihren Erinnerungsorten reifiziert wird.

Diese Problematik dürfte insbesondere bei der Nutzung von Erinnerungsorten in der historischen Vermittlungsarbeit eine Rolle spielen. Umso positiver hervorzuheben ist, dass der vorliegende Band aus zwei Projektseminaren an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Sommersemester 2015 und im Wintersemester 2015/16 hervorgegangen ist. Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren wurde so aus studentischen Kreisen rekrutiert. Sie haben das Thema somit nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch selbst erforscht, um es dann hoffentlich künftig als Multiplikatoren in die historische Bildungsarbeit einzubringen. Weitere Beiträger sind bereits in Forschung und Lehre tätig und stammen aus dem Umfeld der Abteilung für westfälische Landesgeschichte des Historischen Seminars, dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und dem Institut für vergleichende Städtegeschichte (alle Münster).

Das Spektrum der behandelten Erinnerungsorte ist notwendigerweise breit, auch wenn nicht alle denkbaren Erinnerungsorte Aufnahme gefunden haben. Es reicht von konkreten Orten wie ,Porta Westfalica' und .Wewelsburg' über historische Persönlichkeiten wie .Widukind' und ,Annette von Droste-Hülshoff' sowie Ereignisse wie ,Varusschlacht' und,Ruhrbesetzung' bis hin zu Symbolen wie ,Westfalenross' und ,Westfalenlied' und Aspekten der Alltagskultur wie .Pumpernickel' und Schützenwesen'. Darunter finden sich auch etliche Erinnerungsorte, die nur Teilregionen Westfalens betreffen, wie etwa .Fürstin Pauline zur Lippe' oder die zahlreichen mit dem Ruhrgebiet verknüpften Erinnerungsorte, etwa .Ruhrbergbau',,Ruhrpolen und -polinnen' oder ,Ruhrkessel'. Die spannende Frage, inwieweit es sich hierbei überhaupt um ,westfälische' Erinnerungsorte handelt, wird erfreulicherweise in den Beiträgen immer wieder aufgegriffen. Andere Erinnerungsorte weisen weit über Westfalen hinaus oder liegen sogar außerhalb der Region, wie etwa das .Königreich Westphalen' und das ,Oldenburger Münsterland'. Solche Erinnerungsorte werden mit einigem Recht auch von anderen Regionen beansprucht, was die Lektüre der betreffenden Artikel besonders reizvoll macht, erweist sich das Potenzial des Konzepts anhand dieser grenzüberschreitenden' Erinnerungsorte doch als besonders produktiv. Denn Erinnerungsorte, die in der kollektiven Erinnerung unterschiedlicher Regionen eine Rolle spielen, eignen sich kaum dazu, die vermeintliche Identität einer bestimmten Region zu beweisen. Vielmehr erhellen sie überdeutlich den konstruktiven Charakter kollektiver Erinnerungen und Zuschreibungen.

Aus dieser Beobachtung lassen sich verschiedene Perspektiven für die künftige Forschung ableiten. Neben der Erforschung von Erinnerungsorten einer Region, die für die jeweilige Landesgeschichte sowie die Vermittlungsarbeit vor Ort weiterhin wichtig ist, kann meines Erachtens vor allem die vergleichende Forschung zu Erinnerungsorten neue Möglichkeiten eröffnen. Hier geraten zum einen die Erinnerungsorte in den Blick, die, wie gerade angedeutet, von verschiedenen Regionen (oder auch Nationen) gleichermaßen beansprucht bzw. kollektiv erinnert werden. Der Vergleich kann hier Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Erinnerungskultur sowie der Aneignung bzw. Instrumentalisierung von Vergangenheit aufzeigen, aber auch diesbezügliche Auseinandersetzungen zwischen den betreffenden Akteuren um das historische Erbe offenlegen. Darüber hinaus wären Vergleiche wünschenswert, die in systematischer Perspektive die Inhalte und Formen regionaler Erinnerungskultur miteinander in Beziehung setzen, also etwa danach fragen, welche Eigenschaften die Persönlichkeiten haben, die in den unterschiedlichen Regionen als Erinnerungsort dienen, und auf welche Weise sie erinnert werden. Solche Vergleiche wären nicht nur für die Konstruktion kollektiver Erinnerung allgemein aufschlussreich, sondern auch für die Frage, inwieweit die kollektive Erinnerung einer Region tatsächlich regionalspezifisch ist oder vielmehr gängigen, in allen Regionen zu findenden Konstruktionsprinzipien folgt.

Die Forderung nach vergleichenden Forschungen zu Erinnerungsorten bedeutet freilich nicht, dass auf Forschungen regionalen Zuschnitts verzichtet werden sollte. Der vorliegende Band stellt ein gelungenes Beispiel dafür dar, wie das Konzept der Erinnerungsorte in einer Region genutzt werden kann, um viele bekannte, aber auch eine ganze Reihe weniger vertraute Aspekte des kollektiven Gedächtnisses kritisch aufzuarbeiten. Umso mehr ist dem Band eine weit über die Fachöffentlichkeit hinausgehende Aufmerksamkeit zu wünschen. Bräuchte, so ist abschließend mit Blick auf den Zuständigkeitsbereich dieser Zeitschrift zu fragen, das Rheinland nicht auch eine entsprechende Aufarbeitung seiner Erinnerungsorte? Ich würde sagen unbedingt, am besten online als Teil des Portals Rheinische Geschichte und dann gelegentlich in Buchform mit einer Auswahl der spannendsten Artikel.

By Andreas Rutz, Bonn

Titel:
Westfälische Erinnerungsorte.
Autor/in / Beteiligte Person: Rutz, Andreas
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 82 (2018-10-01), S. 358-360
Veröffentlichung: 2018
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • WESTFALISCHE Erinnerungsorte: Beitrage zum kollektiven Gedachtnis einer Region (Book)
  • KRULL, Lena
  • URBAN history
  • NONFICTION
  • GERMANY
  • Subjects: WESTFALISCHE Erinnerungsorte: Beitrage zum kollektiven Gedachtnis einer Region (Book) KRULL, Lena URBAN history NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GERMANY

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