Die Möglichkeiten, auf historisches Quellenmaterial zuzugreifen, werden seit einigen Jahren zunehmend größer. Dies ist insbesondere den Bemühungen zahlreicher Archive zu verdanken, ihre Findmittel in digitaler Form online verfügbar zu machen -- und diese zunehmend mit Digitalisaten des Archivguts zu verknüpfen. Hierdurch eröffnen sich den Nutzerinnen und Nutzern viele neue Möglichkeiten, vor allem hinsichtlich der Recherche und des erleichterten Zugriffs. In der Regel geht mit diesen Projekten jedoch keine über die bereits vorhandenen Informationen hinausgehende inhaltliche Bearbeitung einher. Vor diesem Hintergrund ist es sehr erfreulich, dass die Publikation analoger Editionen und Regestenwerke -- zumindest was Quellen zur Geschichte des Niederrheins angeht -- keineswegs rückläufig ist. Daran, dass dies so ist, hat Dieter Kastner einen nicht unbeträchtlichen Anteil[
Sein jüngstes, hier zu besprechendes Werk widmet sich den Urkunden des Augustinerchorherrenstifts Gaesdonck bei Goch. Hierzu ist einschränkend zu bemerken, dass Kastner sich ausschließlich mit den noch gegenwärtig vor Ort, im Archiv des heutigen Collegium Augustinianum Gaesdonck überlieferten Stücken (102 Originalurkunden und 304 abschriftlich überlieferte Texte) beschäftigt hat, während der im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland in Duisburg liegende Gaesdoncker Urkun-denbestand mit 110 Ausfertigungen nur insoweit berücksichtigt wurde, wie sich Abschriften der jeweiligen Urkundentexte im Gaesdoncker Bestand nachweisen ließen. Aus der Sicht des Forschenden ist diese Einschränkung, die ihren Grund vor allem in der im Reihentitel zum Ausdruck kommenden Beschränkung auf nichtstaatliches Archivgut haben dürfte, zweifellos bedauerlich. Doch während der im Landesarchiv verwahrte Bestand schon seit langer Zeit bequem zur Nutzung zur Verfügung steht (wenn auch die Findmittel zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider noch nicht über das Portal
Die im Geist der Devotio moderna lebende Laienbrüdergemeinschaft, aus der 1400 ein Kanonikerstift der Windesheimer Kongregation hervorgehen sollte, ist erstmals im Jahr 1365 in Goch fassbar. Obwohl man in der Stadt mit dem Bau einer neuen Klosteranlage bereits begonnen hatte, zog die Gemeinschaft 1406 auf den Hof Gaesdonck, den sie durch Schenkung erhalten hatte. Hier errichtete sie das Kloster, dessen 1437 geweihte Kirche bis heute erhalten ist. Die urkundliche Überlieferung zeugt vom wirtschaftlichen Wohlstand der Gaesdoncker, vor allem im 15. Jahrhundert, aber auch von der Buchproduktion im eigenen Skriptorium. Nach der Säkularisation 1802 gelang es einigen Gaesdoncker Brüdern, das Kloster zu erwerben. 1823 vermachten sie die Anlage dem Bistum Münster zur Gründung einer Bildungseinrichtung -- dieser Umstand erklärt, warum ein Teil des Stiftsarchivs bis heute vor Ort erhalten ist.
In gewohnter und bewährter Weise hat Dieter Kastner umfassende Vollregesten der Urkunden erstellt und dabei großen Wert darauf gelegt, sprachliche Besonderheiten im Originalwortlaut wiederzugeben und insbesondere Eigennamen nicht durch Normalisierung zu entstellen. "Sie sind nun mal die wichtigsten Merkmale der Individualität und des Selbstverständnisses einer Person. Es geht nicht an, die Bewohner dieser Region ihrer niederrheinländischen Sprache und Kultur zu entkleiden und zu Hochdeutschen oder auch (Küsten)Holländern zu machen" (S. 20). Für die konsequente Umsetzung dieses in anderen Quellenwerken leider oft allzu leichtfertig missachteten Grundsatzes sei dem Bearbeiter ein ausdrückliches Lob ausgesprochen!
Die Auswertungsmöglichkeiten des mitgeteilten Materials reichen weit über die -- im Übrigen längst noch nicht umfassend aufgearbeitete -- Geschichte des Provenienzbildners hinaus. Besonders wertvoll sind die Quellen für die Wirtschafts-und Sozialgeschichte sowie die Topographie von Stadt und Amt Goch. Aber auch für die Erforschung der Geschichte des Herzogtums Geldern oder der geldrischen Quartiershauptstadt Nimwegen bietet der Inventarband bisher wenig bekanntes Quellenmaterial in großem Umfang. Neben der großen Zahl von Urkunden, die Stiftungen oder Besitztransaktionen betreffen, stößt man bei der Durchsicht auch auf das eine oder andere überraschende Stück wie beispielsweise jene Urkunde Johanns II. von Kleve aus dem Jahr 1482, in der er dem Kloster die Pflicht erlässt, die herzoglichen Jagdhunde großzuziehen.
Mit dem Gaesdoncker Urkundeninventar hat Dieter Kastner die Materialbasis für eine tiefergehende Erforschung der niederrheinischen Geschichte des Spätmittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit wieder einmal um einen bislang wenig bekannten Bestand bereichert. Es ist zu hoffen, dass diesem Band noch manche weitere Publikation folgen wird.
By Manuel Hagemann, Marburg