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Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/New York: Campus 2017, 211 S., br., 19,95 €.

Hradil, Stefan
In: Soziologische Revue, Jg. 41 (2018-10-01), Heft 4, S. 647-651
Online review

Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/New York: Campus 2017, 211 S., br., 19,95 € 

Keywords: Sozialstruktur; soziale Ungleichheit; Europa; Lehre

Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/New York : Campus 2017, 211 S., br., 19,95 €

Sozialstruktur und soziale Ungleichheit

Dass Reichtum und Armut in vielen entwickelten Gesellschaften seit gut 40 Jahren zunehmen, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Dazu haben auch viele Veröffentlichungen von Sozialwissenschaftlern und Ökonomen beigetragen. Nicht wenige Autoren haben schon frühzeitig klar gemacht, dass es sich bei der wachsenden Ungleichheit um keine Eintagsfliege, sondern um eine Entwicklung von historischer Bedeutung handelt. Warum also das neue Buch des renommierten Historikers Hartmut Kaelble?

Der Verfasser untersucht anhand vorliegender empirischer Studien die Entwicklungen sozialer Ungleichheit seit dem späten 19. Jahrhundert und vergleicht dabei viele moderne, meist europäische Gesellschaften. Anders als die meisten Autoren beschränkt er sich nicht auf monetäre Ungleichheit. Er ist der Auffassung, dass soziale Ungleichheit in entwickelten europäischen Gesellschaften viele Dimensionen umfasst, die keineswegs alle eine Frage des individuell verfügbaren Geldes sind. Deshalb stellt er auch den Wandel ungleicher Bildungschancen, Wohnbedingungen, Gesundheitsverhältnisse, Auf- und Abstiege, soziale Distinktionen und Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit in den einzelnen Ländern vergleichend dar.

Was das Buch also auszeichnet, ist die überaus ambitionierte Perspektive des Autors: Er schaut so weit in die Vergangenheit zurück, wie wir über hinreichende Daten verfügen. Er sieht zugleich dimensional und im Ablauf sehr genau hin. Und er versucht, eine beträchtliche internationale Weite und Vielgestaltigkeit zu überblicken. Diese Sichtweise ist umso ehrgeiziger, als Hartmut Kaelble das Ergebnis in einem relativ schmalen Bändchen von knapp 180 Seiten Text präsentiert.

Selbstverständlich erzeugt dieses ambitionierte Unterfangen Fragen: Auch wenn er die jahrzehntelange Erfahrung und die vorliegenden Werke des Autors hoch schätzt, fragt sich der Leser schon bei Beginn der Lektüre, ob es möglich sein wird, so vielen Ansprüchen zugleich auf so wenig Raum zu genügen.

Bevor auf diese Fragen eingegangen wird, also Beurteilungen vorgenommen werden, erscheint es sinnvoll, die Ergebnisse zusammenzufassen, zu denen der Autor gelangt. Sie decken sich nicht immer mit gängigen Befunden.

Kaelble zeigt im Einklang mit vielen Autoren, dass die soziale Ungleichheit im Zuge der Industrialisierung verbreitet zugenommen hat. Er weist aber darauf hin (172ff.), dass schon vor dem Ersten Weltkrieg die Ungleichheiten der Einkommen, Gesundheit und Bildungschancen in vielen Industrieländern zurückgegangen sind. „Diese Tendenz der Abmilderung wurde kurzfristig unterbrochen durch eine Wiederverschärfung der sozialen Ungleichheit im Ersten Weltkrieg, setzt sich dann in den 1920er Jahren fort, wieder unterbrochen durch erneute Verschärfung in der Weltwirtschaftskrise. Im Zweiten Weltkrieg begann eine erneute Abmilderung, die sich allerdings in Europa zuerst mit riesigen Kriegszerstörungen und großem menschlichen Leid verband und daher keine wirkliche Errungenschaft war. Sie ging in der Prosperitätsphase weiter, erhielt dann einen völlig anderen Charakter, da sie jetzt mit einer außergewöhnlichen Verbesserung des Lebensstandards verbunden war. Eine Wiederverschärfung der sozialen Ungleichheit setzte seit den 1980er Jahren vor allem mit der Durchsetzung des Finanzkapitalismus ein, verlor allerdings während des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts ihre Dynamik. Auch wenn sich die soziale Ungleichheit seit den 1980er Jahren wieder verschärfte, blieb sie in Europa deutlich hinter ihrem Ausmaß vor 1914 zurück" (172). Insgesamt sieht Kaelble das Auf und Ab sozialer Ungleichheit also wesentlich differenzierter als üblich.

Seine Sicht der Entwicklungen der letzten 40 Jahre in den europäischen Ländern fasst der Verfasser in fünf Punkten zusammen (168ff.):

  • ‒ Erstens verschärften sich die Einkommens- und Vermögensungleichheiten, unter anderem wegen der neuen Bedeutung der Finanzwirtschaft.
  • ‒ Zweitens veränderten sich andere Ungleichheiten: Es verschärften sich Ungleichheiten der Wohnkosten, der ethnischen sozialen Distinktion, der Gesundheit und der Vorstellungen von sozialer Ungleichheit. Es milderten sich aber auch Ungleichheiten: So verbesserten sich die Bildungschancen für Frauen, Unterschichten und Immigranten. Es wuchsen die Mobilitätschancen und soziale Distinktionen nahmen ab.
  • ‒ Drittens verliefen nicht alle Entwicklungen in den letzten vier Jahrzehnten linear. Zunächst verloren neben den Armen auch die mittleren Einkommen, aber nicht mehr im neuen Jahrhundert. Seither gewinnen die Reichen und verlieren die Armen.
  • ‒ Viertens verbesserten sich seit den 1980er Jahren trotz verschärfter Einkommens- und Vermögensungleichheiten die Bildungs- und Mobilitätschancen.
  • ‒ Fünftens entstanden nach dem Fall der Mauer in Osteuropa ähnliche Ungleichheiten wie im Westen. Und Europa blieb im Vergleich mit den USA und den meisten Ländern der südlichen Hemisphäre „ein Kontinent begrenzter Ungleichheit" (170).

Wohltuend ist das offenkundige Bemühen des Verfassers, sich von der ideologischen Aufgeladenheit zahlreicher Ungleichheitsdebatten zu lösen, indem er nüchtern von empirischen Befunden ausgeht und erst aus diesen seine Schlüsse zieht. Konsequenterweise ist denn auch der bei weitem größte Teil des Buches der empirischen Beschreibung gewidmet. Im Kern entspricht diese Vorgehensweise der der Sozialberichterstattung bzw. der der Soziale-Indikatoren-Bewegung.

Freilich ist mit dieser Verfahrensweise auch die Gefahr verbunden, insbesondere die an Verallgemeinerungen gewöhnten sozialwissenschaftlichen Leser mit zahlreichen empirischen Einzelbefunden und -vergleichen allein zu lassen und gelegentlich auch zu langweilen.

Man kann sicher darüber streiten, ob ein diachron wie synchron so weitgespanntes Vorhaben wie das Hartmut Kaelbles ohne theoretischen Bezugsrahmen durchführbar ist. Kaelble meint, ohne ihn auszukommen. Er deutet im Verlauf seiner – prinzipiell chronologisch gegliederten – Ungleichheitsbeschreibungen zwar hin und wieder die theoretischen Erklärungen Simon Kuznets' und Thomas Pikettys an. Aber diese theoretischen Erklärungen werden weder im Ganzen referiert, noch gar diskutiert oder einander gegenübergestellt, was sich aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit (Industriegesellschaft vs. Kapitalismus als Ursache sozialer Ungleichheit) angeboten hätte. Die beiden Theorien liegen der empirischen Darstellung auch nicht (deduktiv) zugrunde. Erst am Schluss seines Buches (also quasi induktiv) stellt Kaelble beide Theorien kurz dar, um sie beide gleich wieder zu verwerfen und seine eigene komplexere Erklärung zu skizzieren, die die Entwicklung sozialer Ungleichheit als Ergebnis der jeweiligen historischen Gesamtsituation sieht.

Dem Theoriedefizit des zu rezensierenden Buchs entspricht ein allgemeines Erklärungsdefizit. Nur an wenigen Stellen (z. B. 100f.) werden zusammenfassende „Erklärungen" im Umfang von je etwa einer halben Seite angeboten. Sie stellen allerdings bloße Aneinanderreihungen von „Gründen" dar. Mögen dem Leser viele der genannten „Gründe" intuitiv wichtig, andere marginal, manche auch abwegig erscheinen, ohne Theorie wird weder ihr Stellenwert noch ihr Zusammenhang deutlich.

Es erstaunt, dass die Erklärung der seit 40 Jahren wachsenden monetären Ungleichheit, die in der ökonomischen Literatur dominiert, an keiner Stelle des Buches erwähnt wird. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler halten den „skill biased technological change" für die wichtigste Ursache der wachsenden Ungleichheit, also die wachsenden Anforderungen der neuen Technologien an die Qualifikation der Arbeitenden. Vielen empirischen Untersuchungen zufolge reicht das Angebot an Qualifizierten nicht aus, um die wachsende Nachfrage nach ihnen zu befriedigen, also verbessert sich deren Lage im deutlichen Gegensatz zur Lage der gering Qualifizierten.

So verständlich und berechtigt es erscheint, dass dem Buch ein historisch, dimensional und international so weit gespannter Analyserahmen zugrunde gelegt wird, je weiter die Darstellung fortschreitet, desto offenkundiger wird es, dass die empirischen Befunde nicht immer ausreichen, um diesen weiten Rahmen solide auszufüllen. Mag sein, dass dem Autor empirische Studien entgangen sind, mag sein, dass sie einfach nicht vorliegen. Klar wird aber, dass nicht wenige Interpretationen empirisch auf dünnem Eis stehen. Ein Beispiel stellt die angebliche Abmilderung der sozialen Distinktion (142-144) in den letzten Jahrzehnten dar.

Es stärkt das Vertrauen der soziologischen Leser in die Interpretationen des Autors auch nicht, wenn unerlässliche sozialwissenschaftliche Grundkategorien und Unterscheidungen an zahlreichen Stellen nicht expliziert werden. So wird zwischen Bildungsexpansion, absoluten und relativen Bildungschancen kategorial nicht zureichend unterschieden (z. B. 78). Dementsprechend wird die Bildungsexpansion der Nachkriegszeit unbesehen als Vermehrung von Bildungschancen z. B. auch der Unterschichtenkinder gedeutet (79). Auch wird nie dargestellt, ob Mobilitätsdaten sich auf Inter- oder auf Intragenerationen-Mobilität beziehen. Es mag sein, dass im deutschen Wirtschaftswunder von 1950 bis 1970 die Inter-Generationen-Aufstiege trotz angeblich gewachsener Bildungschancen sich kaum verbessert haben. Die Chancen der Karriere-Aufstiege wurden ganz sicher besser, als Deutschland von Gastarbeitern unterschichtet wurde und nicht wenige deutsche Handarbeiter deswegen ins Büro aufstiegen.

Allerdings sollten uns diese ärgerlichen Mängel im Detail den Blick nicht dafür verstellen, dass der Historiker Hartmut Kaelble mit manchen allzu einfachen Urteilen aufräumt, die auch in der Soziologie vertreten werden. Dazu gehören folgende:

  • ‒ Eine Verschärfung der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen besagt keineswegs, dass die gesamte Struktur sozialer Ungleichheit ungleicher wird. Bevor wir unbesehen von der Hegemonie des Geldes ausgehen, sollten wir auch Befunde zu anderen Bereichen sozialer Ungleichheit zur Kenntnis nehmen. Wir werden feststellen, dass die einzelnen Dimensionen sozialer Ungleichheit logisch wie empirisch unabhängiger voneinander sind, als oft vermutet.
  • ‒ Eine bestimmte Entwicklung sozialer Ungleichheit ist nie allein die Auswirkung einer Wirtschaftsordnung (Kapitalismus) oder einer technologischen Veränderung (Industriegesellschaft). „Ungleichheit ist immer ein Ergebnis von spezifischen historischen Konstellationen" (172). Hierzu gehören auch politische Interventionen wie Steuern, Wohlfahrtsstaat und Bildung. Außerdem formen – so könnte man Hartmut Kaelbles Ausführungen ergänzen – auch die jeweiligen demografischen Entwicklungen und die kulturellen Veränderungen die ungleichheitsprägenden historischen Konstellationen.
  • ‒ Wenn auch die finanziellen Ungleichheiten in den letzten vier Jahrzehnten auf der ganzen Welt zunahmen, so hielten sich diese Verschärfungen in Europa dennoch in Grenzen. Verglichen mit den Gegebenheiten in den USA, in Südamerika oder Asien und anders als hierzulande noch im 19. Jahrhundert, machen sich europäische Eigenheiten dämpfend bemerkbar. Dazu zählen nicht zuletzt die mehr oder minder ausgebauten Sozialstaaten.

By Stefan Hradil

Reported by Author

Titel:
Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main/New York: Campus 2017, 211 S., br., 19,95 €.
Autor/in / Beteiligte Person: Hradil, Stefan
Link:
Zeitschrift: Soziologische Revue, Jg. 41 (2018-10-01), Heft 4, S. 647-651
Veröffentlichung: 2018
Medientyp: review
ISSN: 0343-4109 (print)
DOI: 10.1515/srsr-2018-0078
Schlagwort:
  • MEHR Reichtum, mehr Armut: Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Book)
  • KAELBLE, Hartmut
  • POVERTY
  • NONFICTION
  • Subjects: MEHR Reichtum, mehr Armut: Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Book) KAELBLE, Hartmut POVERTY NONFICTION
  • Europa
  • Lehre
  • soziale Ungleichheit
  • Sozialstruktur
  • Sozialstruktur Language of Keywords: English; German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Institut für Soziologie, Universität Mainz Universität Mainz, Institut für Soziologie Mainz Germany
  • Full Text Word Count: 1499

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