Hedwig Richter, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. 2017 Hamburger Edition HIS Hamburg, 978-3-86854-313-1, € 42,–
Die Praxis der Wahlen in Preußen und den USA steht im Mittelpunkt des Buches von Hedwig Richter, das aus einer Greifswalder Habilitationsschrift hervorgegangen ist. Ihr Erkenntnisziel reicht freilich über „Technik und Materialität" (S. 541) der Wahlen hinaus, das Buch will auch eine Ideengeschichte des Wahlrechts und des Wählens im 19. Jahrhundert präsentieren. Richter geht dabei davon aus, dass es sich bei der Etablierung des Wahlrechts und der Durchsetzung allgemeiner Wahlen um ein „Elitenprojekt" mit Disziplinierungsabsicht (S. 10) gehandelt habe, das der Legitimation erst der Staats- und dann der Nationsbildung zu dienen hatte. Äußerliche Zeichen der Disziplinierung ließen jedoch auf sich warten: Das Interesse an den Wahlen in Preußen war bis zur Revolution 1848 eher gering; in den USA hingegen verhalfen das höhere Maß an Partizipation und das demokratische Selbstverständnis des Landes den Wahlen zur Popularität, die aber oft mit Spektakel und auch mit Gewalt verbunden war. Die Entstehung eines politischen Massenmarktes, die Dynamik des Parteienwesens und die Wahlrechtsausweitung liefen in der zweiten Jahrhunderthälfte dann Hand in Hand (was Richters These vom andauernden „Elitenprojekt" etwas in Frage stellt). Am Beginn des 20. Jahrhunderts war in beiden Ländern ein Konsens gewachsen, der die Massenpartizipation durch das Männerwahlrecht prinzipiell nicht mehr bestreiten konnte – noch vorhandene Einschränkungen wurden allmählich (im Fall der Exklusion vieler African Americans in den USA allerdings doch nur sehr allmählich) von der Öffentlichkeit in Frage gestellt. Freilich war in Preußen, darauf weist Richter zu Recht hin, das Einverständnis mit der Massenpartizipation, das auch die konservativen Eliten erfasste, nicht gleichbedeutend mit einer Akzeptanz von Demokratie und Parlamentarismus.
Richters Buch ist, gerade im Blick auf die Technik des Wählens, umfänglich und detailliert, jedoch erstaunt es, wie wenig Aufmerksamkeit sie dem Prozess der Auszählung und der Weitergabe der Ergebnisse aus den Stimmbezirken nach ‚oben' widmet. Gewiss läßt sich argumentieren, dass es sich bei einer Wahl um die „Technik des Abstimmens" handelt, mit der „kollektive politische Entscheidungen" getroffen werden (S. 19). Aber die „Entscheidung" hängt mindestens ebenso von der Ergebnisermittlung ab wie von der individuellen Wahlhandlung. Die Zeitgenossen wussten das: „You have the liberty of voting for any one you please; but we have the liberty of counting in any one we please" heißt es auf einer Karikatur aus New York, die sich im Buch abgebildet findet (S. 426). Technik und Materialität der Ergebnisermittlung aber geraten Richter nur selten in den Blick, und auch die Wahlprüfungspraxis der Parlamente spielt in der Studie keine große Rolle. Nicht recht klar wird auch, warum sich Richter für die Methode des Vergleichs entschieden hat. Dass die Sonderwegsthese und die Erzählung eines „American exceptionalism" im Vergleich nicht als letzte Worte bestehen bleiben können, war zu erwarten. Aber ein paar Unterschiede sind doch auch offensichtlich. Mit der Feststellung: „In der Mitte des 19. Jahrhunderts aber war das preußische Wahlrecht im internationalen Vergleich recht gewöhnlich" (S. 253) vergibt Richter jedoch Chancen der Erklärung der Unterschiede – denn hier wüsste man dann schon gerne, an welchem internationalen Maßstab sie das Dreiklassenwahlrecht misst.
Gleichwohl bietet das Buch eine Fülle von Erkenntnissen vor allem für die Geschichte der Wahlpraxis in Preußen. Die geringe Popularität der Wahlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hing auch damit zusammen, dass der Vorgang der Wahl eine „Zumutung" (S. 49) war: Die langwierige Identifizierung der Wähler durch das Verlesen der Namen und die zeitraubende Ballotage (die Entscheidung über Kandidaten durch das Deponieren einer weißen oder schwarzen Kugel in ein Gefäß) wirkten abschreckend auf potentielle Wähler. Die Durchsetzung von Massenwahlen war ohne die Technik der schnelleren Stimmabgabe nicht denkbar. Die Geheimhaltung der individuellen Wahl – durch den Einsatz von Wahlkabinen und neutralen Wahlumschlägen – aber trat erst am Ende des 19. Jahrhunderts hinzu. Diese allmähliche „Disziplinierung des Wahlaktes" und die „Idee der rationalen Stimmabgabe" (S. 548) haben, so zeigt sich Richter überzeugt, Gewalt als Teil der Wahlhandlung reduziert und eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen, dass Frauen schließlich ebenso wie Männer wahlberechtigt werden konnten.
By Marcus Gräser
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