Tamás Vonyó, The Economic Consequences of the War. West Germany's Growth Miracle after 1945. 2018 Cambridge University Press Cambridge, 9781107128439, £ 75,–
Das westdeutsche Wirtschaftswunder gehört zweifellos zu den am intensivsten erforschten Gebieten der jüngeren Wirtschaftsgeschichte. Der in Mailand lehrende und an der Universität Oxford ausgebildete ungarische Wirtschaftshistoriker Tamás Vonyó beweist Mut und Selbstbewusstsein, sich auf dieses bestens bekannte Gebiet vorzuwagen. Gut 35 Jahre nach der ersten „Abelshauser-Kontroverse" schlägt er sich hierbei auf die Seite der Verfechter der Rekonstruktionshypothese, die er mit einigen neuen Argumenten und einer sehr gründlichen Auswertung der offiziellen Statistiken stützt.
Vonyó argumentiert, das Wirtschaftswunder müsse zunächst geographisch differenziert werden. Weil die urbanen Industrien durch den Wohnungsmangel bis Mitte der 1950er Jahre an Arbeitskräfteknappheit gelitten hätten, sei das Wirtschaftswachstum von den ländlichen Regionen und den dort angesiedelten Klein- und Mittelbetrieben getragen worden. Nicht Kapitalmangel, sondern Arbeitskräftemangel in den Städten habe das Wirtschaftswunder anfangs behindert. Außerdem zerfalle das Wirtschaftswunder in zwei sehr unterschiedliche Phasen: Vor 1955 sei das Wachstum extensiv und durch die Zuwanderung und den Kapazitätsausbau geprägt gewesen. Erst danach sei es zur Steigerung der Arbeitsproduktivität gekommen, und die in dieser Hinsicht besonders erfolgreichen Sektoren, insbesondere die Chemieindustrie, hätten das Wachstum angeführt. Schließlich seien Wirtschaftswunder und Rekonstruktion nur bis Mitte der 1950er Jahre exportgetrieben gewesen, während es danach bis Mitte der 1960er Jahre zu einer Abschwächung der Exportabhängigkeit gekommen sei.
Für Kenner der deutschsprachigen Debatten ist vieles des Geschriebenen bekannt. Das Buch ist nicht zuletzt als eine Bilanz der Forschung für ein internationales Publikum gedacht. Zugleich hat Vonyó aber den Anspruch, mit seinen eigenen Forschungsergebnissen die Debatte neu zu beleben und ältere Sichtweisen zu korrigieren. Häufig ist das sehr plausibel, und es ist besonders hervorzuheben, dass Vonyó die technischen Argumente der stärker formal argumentierenden wirtschaftshistorischen Forschung in allgemein verständlicher Sprache einbezieht. Andere Passagen des Buches sind aber weniger überzeugend. So schießt er mit seiner fundamentalen Relativierung der liberalen Politik unter Ludwig Erhard doch sehr weit über das Ziel hinaus. Sicher wird in der deutschen Forschung die Bedeutung der „Sozialen Marktwirtschaft" gelegentlich übertrieben. Vollständig wirtschaftsliberal war die Bundesrepublik der Wohnungszwangswirtschaft und der Zinsbindung – da wird man Vonyó Recht geben – sicher nicht. Dass es aber vor 1967 in der Bundesrepublik keinen „politischen Konsens" über das Programm der Sozialen Marktwirtschaft gegeben habe (S. 188), ist ebenso unrichtig wie die Behauptung, das Bundesministerium für Wirtschaft sei mindestens bis 1952 von Planwirtschaftlern mit brauner Vergangenheit beherrscht gewesen.
Einigen Zündstoff enthält auch Vonyós Darstellung der außenwirtschaftlichen Verflechtung der Bundesrepublik. Von einer Analyse der wertmäßigen geographischen und güterspezifischen Struktur des Exports zwischen den 1920er und den 1960er Jahren schließt er auf eine langfristige Kontinuität nicht nur der globalen Verflechtung zweier sehr unterschiedlicher Territorien unter sehr unterschiedlichen weltpolitischen Rahmenbedingungen, sondern letztlich auch auf die historische Kontinuität des gesamten deutschen Wirtschaftsregimes und seiner „institutionellen komparativen Kostenvorteile". Für Entscheidungen der wirtschaftlichen Akteure, von Wirtschaftspolitikern, Unternehmenslenkern, Gewerkschaftern und von Konsumenten sowieso, bleibt bei dieser obsessiven Betonung der Pfadabhängigkeit kaum Platz. Die „wirtschaftlichen Konsequenzen des Krieges" waren unabhängig von dem sie verwaltenden Personal? Das macht angesichts des gegenwärtigen politischen Spitzenpersonals doch Hoffnung.
By Jan-Otmar Hesse
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