Zum Hauptinhalt springen

Wie ein Fleck zurückblieb: Mihailović, Dragoslav. 2018. Wie ein Fleck zurückblieb. Erzählungen – Leben. Aus dem Serbischen von Robert Hodel. Leipzig: Leipziger Literaturverlag (Bibliothek Ost-Südost neue Prosa), S. 387. ISBN: 978-3-86660-229–8

Cidilko, Vesna
In: Zeitschrift für Slawistik, Jg. 64 (2019-04-01), Heft 1, S. 153-156
Online review

Wie ein Fleck zurückblieb: Mihailović, Dragoslav. 2018. Wie ein Fleck zurückblieb. Erzählungen – Leben. Aus dem Serbischen von Robert Hodel. Leipzig: Leipziger Literaturverlag (Bibliothek Ost-Südost neue Prosa), S. 387. ISBN: 978-3-86660-229–8 

Mihailović, Dragoslav. 2018. Wie ein Fleck zurückblieb. Erzählungen – Leben. Aus dem Serbischen von Robert Hodel. Leipzig : Leipziger Literaturverlag (Bibliothek Ost-Südost neue Prosa), S. 387. ISBN: 978-3-86660-229–8.

Der Hamburger Slavist Robert Hodel kann neben Übersetzungen aus dem Russischen eine beträchtliche Anzahl von Übertragungen literarischer Texte aus dem Serbischen vorweisen. In Hundert Gramm Seele, zweisprachig, deutsch und serbisch 2011 in Leipzig erschienen, findet sich eine repräsentative Auswahl serbischer Poesie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine übersetzerische Herausforderung stellte mit Sicherheit die Übertragung ins Deutsche von Gedichten und Prosatexten des im sprachlichen Ausdruck äußerst hermetischen serbischen Modernisten Momčilo Nastasijević (Sind Flügel wohl..., Leipzig 2013) dar. In seiner neuesten Veröffentlichung Wie ein Fleck zurückblieb trägt Robert Hodel ausgewählte Erzählungen von Dragoslav Mihailović, einem der wichtigsten serbischen Autoren der Gegenwart zusammen. Wie bereits im Falle von Momčilo Nastasijević ist den rund zwölf Erzählungen ein umfangreiches und fundiertes Vorwort vorangestellt, das über das Leben und Werk des serbischen Schriftstellers Auskunft gibt, wobei sich hier nicht nur die profunde Kenntnis der Materie bemerkbar macht, sondern auch die Fähigkeit, diese einem nicht fachlich versierten Leserpublikum zu vermitteln.

Der im Jahre 1930 in der Stadt Ćuprija in Zentralserbien geborene Dragoslav Mihailović, Autor von Romanen, Erzählungen und nicht zuletzt Dramen, gehört wie einige andere Schriftsteller aus Südosteuropa zu den in Deutschland wenig bekannten und kaum rezipierten Autoren, deren Leben Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist. Es ist die europäische Geschichte, die sich auch im literarischen Werk Dragoslav Mihailovićs wiederspiegelt, wie es der Herausgeber und Übersetzer des vorliegenden Buches in seinem Vorwort zu Recht hervorhebt (S. 5). Seine anfängliche Akzeptanz des Kommunismus und die darauf folgende Ernüchterung nach der Offenbarung des wahren Wesens der stalinistischen Doktrin, die auch im Jugoslawien der Nachkriegszeit trotz des Bruchs Titos mit Stalin ihr Unwesen trieb, ist ein Erkenntnisprozess, der zum Europa des vergangenen Jahrhunderts gehört und den der serbische Schriftsteller mit Milan Kundera und Leszek Kołakowski teilt. Dragoslav Mihailović hat als kaum Zwanzigjähriger über ein Jahr in dem berüchtigten „Umerziehungslager" auf einer kahlen dalmatischen Insel, Goli Otok, das bereits zu Zeiten von Österreich-Ungarn als Gefängnis diente, verbracht. Dieser Umstand bestimmte seine gesamte Existenz, sein schwerfälliges berufliches Vorankommen genauso wie sein Privatleben. Nicht zuletzt diente es jedoch auch als Ansporn für sein Schreiben, aber auch für die Aufarbeitung dieses Teils der jugoslawischen Geschichte. Dragoslav Mihailović gehört zu dem kleinen Kreis von Betroffenen und Nichtbetroffenen, die sich noch vor dem Zerfall des jugoslawischen Staates mit der Dokumentierung der Goli-Otok-Thematik befasst haben. Das brachte ihm zahlreiche Schwierigkeiten ein, neben der jahrelangen ungeteilten ‚Aufmerksamkeitʻ der Geheimpolizei, die sich in einem umfangreichen Dossier niederschlug, welches der Schriftsteller nach dem Sturz von Slobodan Milošević kurz zur Einsicht bekam, mit der Auflage, keine Notizen und keine Fotokopien zu machen. Seine Arbeit an der Zusammenstellung der verschiedenen Texte zur dokumentarischen Prosa zum Thema Stalinismus in Jugoslawien, die mittlerweile 5 Bände umfasst, dauerte fast 40 Jahre.

Die Koppelung des literarischen Wirkens mit der Politik ist im Falle von Mihailović prägend, stellt jedoch gleichzeitig eines der wenigen Beispiele für direkte Zensureingriffe der obersten Parteiführung dar. Josip Broz Tito äußerte sich 1969 ausnahmsweise öffentlich negativ zum – bereits nach wenigen Aufführungen wahrscheinlich von ihm persönlich verbotenen – Drama Kad su cvetale tikve (‚Als die Kürbisse blühten'), entstanden nach Motiven des gleichnamigen Romans von Mihailović. Aleksandar Tišma, ein anderer großer Autor der serbischen Literatur, bezeichnet in seinem Tagebuch diesen Roman als das erste politisch frei verfasste Buch im sozialistischen Jugoslawien. Tišma war es auch, der die Bühnenfassung des Romans 1969 in Letopis matice srpske veröffentlichen ließ; man kann auch sagen, es gewagt hat, diesen Text zu veröffentlichen. Dragoslav Mihailović hat für die serbische Literatur im dokumentarischen Bereich das bewirkt, was Alexander Solženicyn und andere Klassiker der mittlerweile umfangreichen russischen Lagerliteratur, wie Varlam Šalamov, Vasilij Aksenov oder Evgenija Ginzburg, geleistet haben. Dabei ist Mihailovićs künstlerisches, literarisches Zeugnis, aus der Verbindung von politischer Geschichte und individuellem Schicksal entstanden, der deutschen kulturellen Öffentlichkeit kaum bekannt. Obwohl sein Roman Kad su cvetale tikve vier Jahre nach dem Erscheinen von Peter Urban ins Deutsche übersetzt wurde und unter dem Titel Als die Kürbisse blühten 1972 in Frankfurt am Main herauskam, sind wahre Wurzeln dieses Buches kaum nachvollzogen, so dass sich die Kenntnis des historisch-politischen Hintergrundes dem deutschen Leser, ähnlich wie im Falle der polnischen Lagerliteratur, von wenigen Ausnahmen abgesehen, völlig entzieht. Ähnlich wie im Falle von Jósef Czapski, dessen Na nieludzkiej ziemi (‚Auf unmenschlicher Erde') 1949 in Paris erschien, aber erst 1967 in der Übersetzung von Willy Gromek in Köln herauskam, lernt der deutsche Leser auch Dragoslav Mihailović mit Verspätung kennen. Daher kann der Wert einer solch detaillierten Einführung ins Leben und Werk des serbischen Autors wie wir sie hier vorfinden, nicht hoch genug geschätzt werden.

Sie lässt das Dasein der jugoslawischen Oppositionellen und der liberal denkenden intellektuellen Kreise in Belgrad der ausgehenden 1960er Jahre lebendig werden, zu denen namhafte Autoren wie Danilo Kiš und Borislav Pekić, aber auch Borislav Mihailović Mihiz, Mirko Kovač und der Filmemacher und Schriftsteller Živojin Pavlović gehören. Auch eine spannungsvolle Begegnung Dragoslav Mihailovićs mit Milovan Đilas im Hause des Schriftstellers Matija Bećković gehört dazu. Diese unbeabsichtigte persönliche Konfrontation wirft ein unerwartetes Licht auf die Person des einzigen jugoslawischen Dissidenten, welcher Mihailović vorgeworfen haben soll, den Sieg über den großen Stalin nicht gebührend zu würdigen (S. 78). Dennoch vermisst man Einiges mehr an Informationen zu Milovan Đilas, zum Beispiel und vor allem den Hinweis, dass Đilas nicht nur Titos Chefideologe (S. 63), sondern auch der einzige jugoslawische Dissident war, was in der dem ehemaligen engsten Mitarbeiter Titios gewidmeten Fußnote auf S. 63 unerwähnt bleibt. Das gleiche gilt für Milan Gorkić, Titos Konkurrenten für den Posten des Parteivorsitzenden, welcher dem deutschen Leser völlig unbekannt sein dürfte.

Der einführende Teil der vorliegenden Publikation bietet Informationen zur Zeitgeschichte, liefert aber auch eine Fülle an Material, um das literarische Werk von Dragoslav Mihailović und seine Genese zu erforschen. So dürfte es kaum bekannt sein, dass er im April 1955 zum Beispiel bei Dimitrije Vučenov eine Arbeit zum Modernisten Miloš Crnjanski, der zu dem Zeitpunkt im Londoner Exil lebte und nach wie vor als politischer Gegner galt, schrieb (S. 54). Crnjanski gehörte wohl kaum zum bevorzugten Forschungsobjekt des Belgrader Professors Vučenov, der junge Schriftsteller Dragoslav Mihailović jedoch dürfte eine spürbare Affinität zum narrativen und motivischen Œuvre Crnjanskis entdeckt haben.

Dabei zeigen Mihailovićs Erzählungen und Romane nicht nur eine sichtbare Anlehnung an die Realität und Nähe zu der sogenannten Wirklichkeitsprosa, die die serbische Literatur in den sechziger und siebziger Jahren, aber auch gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts maßgebend bestimmt hat, sondern sie weisen stets auch viel Autobiographisches auf und deuten auf die ausschlaggebende Kraft von Mihailovićs Lebensweg für sein literarisches Schaffen. Sein von der Kindheit an durch den frühen Verlust der Mutter und die Alkoholsucht des Vaters beschwerliches Dasein war geprägt durch die direkte Wahrnehmung sozialer und wirtschaftlicher Härte, die seine Sensibilität für solche Aspekte des Lebens auch in sein literarisches Werk einfließen lassen. Es ist die Welt der Gelegenheitsarbeiter und der Arbeitslosen, der Kleinkriminellen, der verwahrlosten und missbrauchten Kinder, die in seinen Erzählungen dargestellt wird. Oft finden sich darunter Meisterwerke psychologischer Schilderung (Sie tun sich zusammen; Lilika). Parallelen zu der meisterhaften Darstellung des Bösen und der Gewalt wie wir sie etwa in Schule der Gottlosigkeit von Aleksandar Tišma beobachten, finden sich auch bei Mihailović in der Schilderung der Menschen, die im Namen der Ideologie Verbrechen verüben (Das Geleit). Mihailović geht aber noch weiter und zeigt totalitäre Mechanismen in ihrer Beschaffenheit und die unheilvolle Verbindung von Macht und Ideologie auf. Die Menschen werden zu Opfern und Handlangern zugleich in einer tragischen Zeit. Eine weitere Besonderheit seiner narrativen Manier ist die Handhabung der Sprache, die sich in der Inkorporierung des skaz, einer russischen Erzähltradition, manifestiert. Die betonte Mündlichkeit von Mihailovićs Figuren, die an die Grenzen des Dialektalen und des Derb-Umgangssprachlichen geht, dürfte eine der Hauptschwierigkeiten darstellen, einen weiteren wichtigen Roman Dragoslav Mihailovićs, Petrijin venac (Kranz der Petrija) adäquat ins Deutsche zu übertragen. In dem Substandard von Mihailovićs Figuren sah Danilo Kiš eine Form des magischen Realismus eines Borges, in dessen literarische Schöpfungen sich die motivische und emotionale Welt von Mihailovićs Romanen und Erzählungen fast nahtlos einzufügen scheint. Gleichzeitig sind Mihailovićs Figuren auch in der Biographie ihres Autors verankert, wie es der titelgebende Text der vorliegenden deutschen Auswahl seiner Erzählungen zeigt.

Zu den Vorzügen der Einführung des Herausgebers gehört auch die Tatsache, dass sie einen recht umfassenden Charakter hat. So geht Robert Hodel dezidiert auf das essayistische Werk Mihailovićs ein, um das regional- und sprachpolitische Denken des Autors aufzuzeigen, eng verbunden mit der sog. ‚jugoslawischen Frage' oder dem ‚historischen Projekt „Jugoslawien"', wie es Hodel formuliert (S. 118). Dragoslav Mihailović bedauert keinesfalls die Auflösung des gemeinsamen Staates, welchen er klar ablehnt, ohne jedoch nationalistische Aspirationen zu pflegen. Dennoch passt er nicht in das gewohnte Raster der südslawischen Autoren, die gegenwärtig bevorzugt ins Deutsche übersetzt werden und eine gewisse Rezeption im deutschsprachigen Raum erfahren. Er ist nicht auf die gleiche Art ins politische Geschehen involviert wie Sreten Ugričić und auch nicht in der erklärten Position des seit Miloševiećs Zeiten politisch Verfolgten und Andersdenkenden wie Bora Ćosić, oder gar vermeintlich oder wirklich Protestierenden wie manch anderer Autor aus der Region. Er ist einfach ein guter Schriftsteller. Hoffen wir, dass dies positive Auswirkungen auf die Aufnahme seines Werkes in Deutschland haben wird.

By Vesna Cidilko

Reported by Author

Titel:
Wie ein Fleck zurückblieb: Mihailović, Dragoslav. 2018. Wie ein Fleck zurückblieb. Erzählungen – Leben. Aus dem Serbischen von Robert Hodel. Leipzig: Leipziger Literaturverlag (Bibliothek Ost-Südost neue Prosa), S. 387. ISBN: 978-3-86660-229–8
Autor/in / Beteiligte Person: Cidilko, Vesna
Link:
Zeitschrift: Zeitschrift für Slawistik, Jg. 64 (2019-04-01), Heft 1, S. 153-156
Veröffentlichung: 2019
Medientyp: review
ISSN: 0044-3506 (print)
DOI: 10.1515/slaw-2019-0011
Schlagwort:
  • WIE ein Fleck zuruckblieb: Erzahlungen-Leben (Book)
  • MIHAILOVIC, Dragoslav, 1930-2023
  • LITERATURE
  • NONFICTION
  • Subjects: WIE ein Fleck zuruckblieb: Erzahlungen-Leben (Book) MIHAILOVIC, Dragoslav, 1930-2023 LITERATURE NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Humboldt-Universität zu Berlin, Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Slawistik und Hungarologie, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin
  • Full Text Word Count: 1577

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -