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Geheime Depeschen aus Berlin. Der französische Botschafter François-Poncet und der Nationalsozialismus. Hrsg. von Jean-Marc Dreyfus. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchges. 2018, 255 S., EUR 39,95 [ISBN 978‑3‑534‑26966‑2]

Nübel, Christoph
In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 78 (2019-05-01), Heft 1, S. 262-264
Online review

Geheime Depeschen aus Berlin. Der französische Botschafter François-Poncet und der Nationalsozialismus. Hrsg. von Jean-Marc Dreyfus. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchges. 2018, 255 S., EUR 39,95 [ISBN 978‑3‑534‑26966‑2] 

Geheime Depeschen aus Berlin. Der französische Botschafter François-Poncet und der Nationalsozialismus. Hrsg. von Jean-Marc Dreyfus. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer, Darmstadt : Wissenschaftliche Buchges. 2018, 255 S., EUR 39,95 [ISBN 978‑3‑534‑26966‑2],

Der französische Botschafter in Berlin, André François-Poncet, sandte zwischen 1931 und 1938 eine ganze Reihe teils überlanger Depeschen an den Quai d'Orsay. Als studierter Germanist und langjähriger Deutschlandkenner fühlte er sich berufen, die üblichen politischen Analysen, die man in Paris von den Auslandsvertretungen erwartete, mit weitreichenden Betrachtungen über die Entwicklung des Nationalsozialismus oder den deutschen Nationalcharakter anzureichern. Die von Jean-Marc Dreyfus besorgte Auswahl umfasst entgegen des Titels jedoch nicht nur Texte aus der Feder François-Poncets (so weit sich seine Autorschaft angesichts der botschaftsinternen administrativen Prozesse überhaupt mit Sicherheit feststellen lässt), sondern auch der französischen Konsulate in Stuttgart, Königsberg oder Wien (im Falle des »Anschlusses« 1938). Ein Register steht nicht zur Verfügung, dafür hat der Herausgeber die ausgewählten und verständlicherweise gekürzt abgedruckten Dokumente zu sieben Kapiteln gruppiert, was dem interessierten Leser einen themenorientierten Zugriff auf die Quellen ermöglicht. Die im Band versammelten Dokumente berichten von der Agonie der Weimarer Republik, dem nationalsozialistischen Machtausbau, der NS-Ideologie und ‑Propaganda, der Lage der Wirtschaft und der Judenverfolgung. Der Herausgeber beabsichtigt, die ganze Bandbreite dessen, was über NS-Deutschland berichtet wurde, abzubilden. Einen besonderen Schwerpunkt bilden allerdings die judenfeindlichen Maßnahmen des »Dritten Reiches«, die auch in den französischen diplomatischen Berichten viel Raum einnahmen. Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich also nicht um eine Quellenedition, sondern um einen Dokumentenband, der sich an ein breites, historisch interessiertes Publikum richtet. Er ist aus einem Sammelband hervorgegangen, der die diplomatischen Berichte einer Vielzahl von Staaten über NS-Deutschland analysiert hat (Fremde Blicke auf das »Dritte Reich«. Berichte ausländischer Diplomaten über Herrschaft und Gesellschaft in Deutschland 1933–1945. Hrsg. von Frank Bajohr und Christoph Strupp, Göttingen 2011).

Die französischen Berichte basierten auf eigenen Beobachtungen, einem Netzwerk von Informanten, Gesprächen mit anderen ausländischen Vertretern und der Pressebeobachtung. Es ist beeindruckend zu sehen, wie gut die Diplomaten zunächst über den Charakter des NS-Regimes im Bilde waren. Detailliert wurde um 1931 über die Versuche der NSDAP berichtet, die Gunst der Arbeiterschaft zu gewinnen, wobei die französischen Diplomaten davon ausgingen, dass die NSDAP daran scheitern werde, in dieses Milieu einzubrechen. Das war ein Fehlurteil, wie wir heute dank der Forschungen Jürgen W. Falters wissen. Auch die Machtübernahme und der brutale Ausbau der Diktatur bis 1934 fanden Niederschlag in den Berichten. Die hemmungslose Gewalt gegen die Opposition, die rasche Eroberung des Staates durch Personalaustausch und legislative Maßnahmen, aber auch die Tendenz der Deutschen, dem »Führer entgegenzuarbeiten« (wie Ian Kershaw das nach einem Quellenfund genannt hat), machte es zum Erstaunen François-Poncets und anderer möglich, dass Deutschland binnen weniger Monate sein Gesicht völlig veränderte.

Dabei war auch der Botschafter phasenweise vom Nationalsozialismus fasziniert, wenn er auch keinen Zweifel daran ließ, dass er die Gewalt des Regimes verurteilte. Seine Schilderung des Reichsparteitags in Nürnberg 1936 jedenfalls verrät viel über die zeitgenössische Wirkung aufwändiger propagandistischer Inszenierungen. Allein solche Berichte machen das Buch lesenswert, wenngleich es auch nichts völlig Neues enthält. Weniger ergiebig ist dagegen die Lektüre jener Dokumente, die allein auf Basis von Presseartikeln entstanden sind und die teilweise noch nicht einmal eine Einordnung oder Wertung seitens der Botschaft beinhalteten. Auf deren Abdruck hätte verzichtet werden können, auch wenn sie zeigen, dass die Qualität der gesammelten Informationen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre abnahm.

Das Militärische diente François-Poncet und anderen als Deutungsmuster, um die Organisation und Ideologie des Nationalsozialismus zu erfassen. SA und SS seien Hitlers »Armee«, allerdings von zweifelhaftem militärischem Wert. Die deutsche Aufrüstung wurde genauestens beobachtet und beispielsweise aufmerksam registriert, dass das Olympische Dorf nach dem Ende der Spiele als Wehrmachtkaserne dienen sollte. Infolge dieser Maßnahmen werde sich Deutschland, so urteilte man, »zum gewaltigsten militärischen Werkzeug [...] entwickeln, das es je gab« (18. Juni 1936). Mit der Militarisierung von Staat und Gesellschaft gehe ein alter Traum deutscher Militärführer in Erfüllung, was für die französischen Diplomaten die Willfährigkeit der Reichswehr/Wehrmacht gegenüber der Partei erklärte. Überhaupt schienen die Deutschen alles Militärische zu lieben: »Selbst in seiner Freizeit ist der Deutsche gern Soldat« (24. Juli 1935). Trotz solcher Verallgemeinerungen geriet das Schicksal von Dissidenten und Verfolgten nicht aus dem Blick.

Bedauerlicherweise ist die Kommentierung der Dokumente nicht immer hilfreich. Lücken, Redundanzen, Ungenauigkeiten und sogar Fehler dürften der Leserschaft einiges Kopfzerbrechen bereiten. Nur zwei Beispiele: Im Buch wird erläutert, großdeutsche Bestrebungen hätten darauf gezielt, die mit Versailles verlorenen Territorien wiederzugewinnen oder eine »Osterweiterung« anzustreben. Zu Hans Frank wird angeführt, dass er angeblich bereits 1919 Hitlers Rechtsanwalt gewesen sei (tatsächlich war er damals 19 Jahre alt und legte erst 1927 sein zweites Staatsexamen ab). Leider trifft auch die Übersetzung nicht alle Feinheiten der zeitgenössischen und wissenschaftlichen Terminologie genau.

Insgesamt zeigen die Dokumente sehr anschaulich, wie die französische Diplomatie in Deutschland das düstere Bild eines Landes in Bewegung zeichnete. Deren Richtung war noch nicht abschließend bestimmbar, verhieß aber nichts Gutes. »Wenn der Minotaurus alle seine inneren Feinde verschlungen haben wird, wenn er nichts mehr zu brechen und zu beißen hat, wie wird er sich dann verhalten?« (13. September 1936). Die Dokumente offenbaren, wie viel zeitgenössische Beobachter über den Nationalsozialismus in Erfahrung bringen konnten. Sie präzisieren und erweitern das, was wir über ausländische Perspektiven auf das Deutschland der 1930er Jahre wissen.

By Christoph Nübel

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Titel:
Geheime Depeschen aus Berlin. Der französische Botschafter François-Poncet und der Nationalsozialismus. Hrsg. von Jean-Marc Dreyfus. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchges. 2018, 255 S., EUR 39,95 [ISBN 978‑3‑534‑26966‑2]
Autor/in / Beteiligte Person: Nübel, Christoph
Link:
Zeitschrift: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 78 (2019-05-01), Heft 1, S. 262-264
Veröffentlichung: 2019
Medientyp: review
ISSN: 2193-2336 (print)
DOI: 10.1515/mgzs-2019-0046
Schlagwort:
  • GEHEIME Depeschen aus Berlin: Der franzosische Botschafter Francois-Poncet und der Nationalsozialismus (Book)
  • DREYFUS, Jean-Marc
  • NATIONAL socialism
  • NONFICTION
  • Subjects: GEHEIME Depeschen aus Berlin: Der franzosische Botschafter Francois-Poncet und der Nationalsozialismus (Book) DREYFUS, Jean-Marc NATIONAL socialism NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Potsdam, Germany
  • Full Text Word Count: 906

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