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Lothar Burchardt, Amerikas langer Arm. Kontroversen um die Nutzung von Grönland im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 2017, 412 S., EUR 59,95 [ISBN 978‑3‑631‑73520‑6].

Scholz, Michael F.
In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 78 (2019-05-01), Heft 1, S. 267-270
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Lothar Burchardt, Amerikas langer Arm. Kontroversen um die Nutzung von Grönland im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 2017, 412 S., EUR 59,95 [ISBN 978‑3‑631‑73520‑6] 

Grönlands Besetzung war der erste Schritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Lothar Burchardts Studie analysiert die Hintergründe des nordamerikanischen Engagements in Grönland und fragt nach Motiven und Möglichkeiten der USA sowie Kanadas, Dänemarks und Deutschlands. Für den emeritierten Konstanzer Geschichtsprofessor, der auch Gastprofessuren in den USA und Kanada innehatte, illustriert das amerikanische Eindringen in Grönland beispielhaft die bestimmenden Elemente der Außenpolitik Franklin D. Roosevelts (S. 375).

Da er das Grönland-Abenteuer nicht nur als Geschichte auf diplomatischer Ebene versteht, macht der Autor bewusst »Anleihen vor allem bei den Nachbardisziplinen Wirtschaftsgeschichte, Technikgeschichte und Militärgeschichte« (S. 13). In seiner chronologisch angelegten historischen Darstellung gibt Burchardt zunächst einen Überblick über die wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Interessen, die von verschiedener Seite auf Grönland gerichtet waren.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die rechtliche Situation Grönlands ungeklärt. Dänemark hatte wiederholt seine Souveränität über Grönland proklamiert, was von Norwegen aber infrage gestellt wurde. Zu dem kamen Kaufabsichten Großbritanniens. Doch 1916 stimmten die USA der dänischen Kontrolle über Grönland zu, was ihnen im Gegenzug den Erwerb der dänischen westindischen Besitzungen sicherte, den heutigen Virgin Islands. 1933 erkannte auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag den dänischen Souveränitätsanspruch auf Grönland an.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges galt Grönland weitgehend als erforscht. An Bodenschätzen bekannt war Kryolith, ein nur dort zu findendes Mineral, das als unentbehrlich für die Produktion von Aluminium galt. Doch mit dem Wechsel der europäischen Produzenten zum synthetischen Kryolith wurde das grönländische für sie »eher uninteressant« (S. 30). Von Bedeutung hingegen waren die von der dänischen Verwaltung in Grönland frei erteilten meteorologischen Informationen, denn die meteorologische Entwicklung auf dem Atlantik und in weiten Teilen Europas hängt zu einem guten Teil von den Wetterverhältnissen in und um Grönland ab.

Aus US-Sicht gehörte Grönland zur »westlichen Hemisphäre« und unterlag damit der Monroedoktrin, wie Burchardt detailliert darstellt. Im Gefolge der deutschen Besetzung Dänemarks im April 1940 trat ein fundamentaler Wandel der nordamerikanischen Grönlandpolitik ein. Hitlers aggressiver Akt bot den USA eine »günstige Situation« zum Eingreifen. War eine Mehrheit der US-Bürger noch Mitte der 1930er Jahre isolationistisch eingestellt, konnte eine anglo-amerikanische Propaganda nun eine deutsche Gefahr auch für den amerikanischen Kontinent behaupten, darunter, dass Deutschland seine Hände nach Grönland ausstreckte und dort militärische Stützpunkte einrichten wolle. Dies wurde von der Presse durch Spekulationen und Gerüchte begleitet. Dass Deutschland zu Aktionen dieser Art weder technisch noch unter den gegebenen Umständen politisch und strategisch im Stande war, wie Burchardt überzeugend darlegt, und dass Roosevelt und seine Administration dies sehr wohl wussten, erfuhr die Öffentlichkeit nicht (S. 205 f.). Burchardt zeigt den eher taktischen Charakter des Deutschland-Arguments auf, das praktisch nur gegenüber der Öffentlichkeit verwendet wurde, aber fast nie in der internen Kommunikation auftauchte (S. 361). Auf deutscher Seite habe es laut Burchardt hinsichtlich Grönlands nur ein Motiv gegeben – die regelmäßige Bereitstellung meteorologischer Daten. Eine in Nordostgrönland anzulegende Wetterstation würde sich aber erübrigen, sobald die normalen grönländisch-dänischen Wetterberichte wieder gesendet würden.

Das Interesse von Deutschlands Kriegsgegnern an Grönland konzentrierte sich auf die Kryolith-Versorgung, die meteorologische Nutzung und vor allem auf den Gebrauch Grönlands als Zwischenstopp auf dem Flug von Nordamerika nach Großbritannien, wichtig für den Transfer in Nordamerika gebauter Flugzeuge nach England. Im State Department wurden dementsprechend vier Ziele einer US-Grönlandpolitik formuliert: Schutz vor deutscher oder anglo-kanadischer Besetzung, Schutz des nordamerikanischen Kontinents, Unterstützung des Kampfes gegen Deutschland sowie die langfristige Sicherung militärischer und ziviler Rechte der USA.

Diese Politik wurde unterstützt von dem ambitionierten dänischen Gesandten in Washington, Henrik Kauffmann, der sich von der Zusammenarbeitspolitik seiner Regierung mit der deutschen Besatzungsmacht distanzierte. Kauffmann hintertrieb damit aber auch die verantwortliche Rolle der Landvögte Grönlands als Vertreter der dänischen Krone. Er erklärte, dass alle aus Kopenhagen kommenden Anordnungen nicht befolgt werden dürften und er als der oberste durch die US-Administration anerkannte Repräsentant des freien Dänemark das Sagen hätte. Dafür hatte er sich vom State Department Rückendeckung geholt. Damit bot er den USA die Möglichkeit einer möglichst legal wirkenden Regelung ihrer Grönlandpolitik. US-Außenminister Cordell Hull handelte mit Kauffmann ein Abkommen aus, dem die grönländischen Landvögte zustimmen durften. Burchardt schreibt Kauffmann am Abkommen eine »ebenso tatkräftigte wie rechtswidrige Assistenz« zu (S. 367). Dänemark stellte daraufhin den Diplomaten offiziell kalt und beschlagnahmte sein Privatvermögen.

Bei dem Hull-Kauffmann-Abkommen vom April 1941 wurden Kongress und US-Öffentlichkeit umgangen, indem Hull die Form eines bloßen »Abkommens« wählte, nicht aber die eines regelrechten Vertrags. Abkommen mussten nicht vom Senat ratifiziert werden, sondern fielen in die Kompetenz des Präsidenten. Dänemark und Deutschland spielten bei alledem nur Nebenrollen, auch die Grönländer hatten keinen Einfluss auf das Geschehen. Ihre Zustimmung war ihnen mit der Drohung, dass sie andernfalls mit einer anglo-kanadischen oder gar deutschen Invasion und Okkupation rechnen müssten, abgenötigt worden. Die ursprünglich für Dänemark zentrale Frage nach dem »Schutz« der »Eskimobevölkerung« vor »einem vorschnellen Kontakt mit der euro-amerikanischen Zivilisation« (Grönlandgesetz 1925) stand ebenso zur Disposition. Zwangsläufig ergab sich aus dem Umgang der Amerikaner mit der einheimischen Bevölkerung eine fortschreitende Amerikanisierung, die mit dem Verlust der kulturellen Identität und sogar der Heimat (zwangsweise Umsiedlung) verbunden war (S. 311–315). »Das Abkommen stellte Grönland faktisch unter amerikanische Kuratel und gliederte es kaum anders in die alliierten Kriegsanstrengungen ein, als es die Deutschen gegenüber dem Mutterland getan hatten« (S. 252).

Nach dem Ende des Krieges ratifizierte eine dänische Übergangsregierung das Abkommen am 16. Mai 1945; Kauffmann erhielt einen Orden, doch eine politische Kariere blieb ihm in Dänemark versagt. Der Artikel X des Abkommens, bewusst vage formuliert, bot den Amerikanern die Gelegenheit, nach Kriegsende in Grönland zu bleiben und die sich dort bietenden aeronautischen und militärischen Möglichkeiten zu nutzen. Ein Rückbau der in Grönland bestehenden US-Basen war nicht beabsichtigt. Diese Flugplätze sollten erhalten bleiben. Unter dem Deckmantel der Gewinnung meteorologischer Daten wurde Grönland von den USA militärisch weiter ausgebaut (S. 345 f.). Spätere dänische Forderungen nach Neuverhandlungen erschienen ihnen nur dann akzeptabel, wenn sie »die Verteidigung der westlichen Hemisphäre« sicherstellten. Seit 1951 war es allen NATO-Staaten erlaubt, im Kriegsfall die militärischen Anlagen in Grönland zu nutzen. Damit sollte zumindest eine völlige US-Kontrolle Grönlands verhindert werden. Doch Thule (Thule Air Base) ist weiterhin ein Stützpunkt nicht Dänemarks, sondern der USA (S. 357). »Völkerrechtlich« war das amerikanische Grönland-Abenteuer ab initio fragwürdig, so das Fazit von Burchardt, da mit schweren Geburtsfehlern behaftet. Der amerikanische Präsident habe »weder völkerrechtlich, noch moralisch, sondern pragmatisch« gedacht und gehandelt – »in den Kategorien des für die Vereinigten Staaten Nützlichen« (S. 377). Burchardt versteht die Grönlandambitionen der USA als »Machtpolitik zum Wohle der Vereinigten Staaten« und »mindestens in Teilen gleichsam als geopolitische[n] Greifreflex« (S. 380).

Burchardts kritischer Blick auf die US-amerikanische Außenpolitik liest sich spannend und ist in der Forschung wohl verortet, wie die umfangreichen Anmerkungen und das Quellen‑ und Literaturverzeichnis aufzeigen. Das Buch enthält neben einem Glossar der historischen und heutigen Ortsnamen auch Abbildungen, leider aber kein Register.

By Michael F. Scholz

Reported by Author

Titel:
Lothar Burchardt, Amerikas langer Arm. Kontroversen um die Nutzung von Grönland im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 2017, 412 S., EUR 59,95 [ISBN 978‑3‑631‑73520‑6].
Autor/in / Beteiligte Person: Scholz, Michael F.
Link:
Zeitschrift: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 78 (2019-05-01), Heft 1, S. 267-270
Veröffentlichung: 2019
Medientyp: review
ISSN: 2193-2336 (print)
DOI: 10.1515/mgzs-2019-0055
Schlagwort:
  • AMERIKAS langer Arm: Kontroversen um die Nutzung von Gronland (Book)
  • BURCHARDT, Lothar
  • NONFICTION
  • HISTORY
  • GREENLAND
  • Subjects: AMERIKAS langer Arm: Kontroversen um die Nutzung von Gronland (Book) BURCHARDT, Lothar NONFICTION HISTORY
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GREENLAND
  • Author Affiliations: 1 = Uppsala (Schweden), Sweden
  • Full Text Word Count: 1148

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