Die Urkunden Kaiser Ludwigs des Frommen (
Auf über 1.676 Seiten liefert Kölzers umfassende kritische Edition den Text von 418 Urkunden, die aus über 200 Archiven und Bibliotheken zusammengestellt wurden und für Empfänger ausgestellt wurden, deren räumliche Ausdehnung sich über neun moderne europäische Länder erstreckt. Jede handschriftliche Abschrift wird vermerkt, jede bekannte Edition wird aufgeführt und Regesten und Verzeichnisse werden ebenfalls genannt. Ergänzt werden die Urkunden durch eine Liste von 227 'Deperdita' sowie einige ausgewählte Briefe und ein Register (keine Edition) der ,Formulae Imperiales'. Im Zuge der Edition wurden auch Korrekturen in Bezug auf andere karolingische Urkunden vermerkt, die jetzt auch online zur Verfügung stehen1. Es ist kaum eine Überraschung, dass ein solch gewichtiges Werk der Forschung, das die Reihe über die frühmittelalterlichen fränkischen Herrscher in den MGH endlich zum Abschluss bringt, 2017 mit dem Wedekind Preis für Deutsche Geschichte ausgezeichnet wurde.
Der Mangel an einer kritischen Edition hat die Forschung zu Ludwig natürlich kaum aufgehalten, den Kölzer in seiner Einleitung in traditionellen Farben als eine tragische Figur zeichnet, die nach ersten erfolgreichen Herrschaftsjahren weder die eigene Familie noch den Adel im Griff hatte. In der vorliegenden Edition gibt es nur zwei Urkunden, die in dem von Mühlbacher 1908 herausgegebenen Register nicht verzeichnet sind; und nur eine Urkunde (D. 126, 817 für St. Martin in Tours) sowie ein Brief von Agobard von Lyon waren bisher unediert. Die Bedeutung der Edition liegt nicht so sehr in neuen Texten als darin, wirklich zuverlässige Texte für das gesamte Corpus zur Verfügung zu stellen und die Unsicherheit zu beheben, die bleibt, wenn man auf Migne oder schlimmer noch Bouquet zurückgreifen muss.
Was für Fortschritte in unserem Verständnis von Ludwig und seiner Regierung bringt uns die Edition? Zunächst einmal gibt uns Kölzer einen tieferen Einblick, wie diese Texte am Hof Ludwigs überhaupt hergestellt wurden. Die Kanzlei ist deutlich schwerer zu identifizieren, als man angesichts des hohen Standards der Urkundenproduktion erwarten könnte. Obwohl wir die Namen der ,Erz- kanzler', die die Urkundenherstellung in ihrer Gesamtheit beaufsichtigten, kennen sowie auch die der ,Rekognoszenten', die die Urkunden beglaubigten, kennen wir doch die Namen der Schreiber, die sie tatsächlich fertigten, keinesfalls. In Anbetracht der textlichen "Variationsfreude" hält sich Kölzer sehr zurück, den ,Diktatvergleich' zu verwenden, um den Produktionsprozess zu beleuchten.
Auf der Basis der paläographischen Analyse der 92 im Original überlieferten Urkunden kann man 40 Schreiber identifizieren, die je mindestens eine Urkunde geschrieben haben. Bei der Identifikation und Unterscheidung individueller Hände bleibt ein geringer subjektiver Anteil an der Entscheidung nicht aus und von daher ist es schade, dass die Edition keine Abbildungen enthält, sondern den Leser nur auf online verfügbare Bilder und die noch nicht erschienenen ,Digitalen Urkundenbilder' verweist. Indes lässt sich der sorgsamen und methodischen Analyse von Kölzer und seinem Team kaum etwas entgegenhalten, zumal detailreiche zusätzliche Belege auf der MGH-Webseite zur Verfügung stehen2. Eine so hohe Anzahl von Schreibern zieht natürlich Schlussfolgerungen nach sich, wie wir uns denn die Tätigkeit der .Schreibstube' vorzustellen haben, die offenbar auf einer großen Gruppe und häufigem Wechsel beruhte.
Zum Zweiten ermöglicht die Aufbereitung der Urkunden als Corpus klarere Urteile über die individuellen Texte, mit Auswirkungen auf weitere Zweige der Geschichtsforschung. Historiker der fränkischen Mission in Skandinavien müssen sich nun mit Kölzers Auseinandersetzung mit D. 338 befassen, die er auf zehn Seiten ausführt (S. 833-843, mit einem Zusatz auf S. 1674) -- der Urkunde, mit der angeblich im Jahr 834 das Bistum Hamburg gegründet wurde. Auch Historiker der Stadt Reims können an Kölzers Einschätzung des D. 245, in dem Ludwig dem Erzbischof die Stadtmauer gewährte, kaum vorbei -- eine Urkunde, die, wie Kölzer argumentiert, von Hinkmar von Reims bearbeitet wurde und deren bemerkenswerte ,gelasianische' Arenga folglich mehr über das Frankenreich der 860er Jahre als über das der 820er Jahre aussagt. Die Papstgeschichte wird nicht umhinkommen, die Urkunde D. 125, das berühmte .Hludowicianum', neu einzuschätzen, in dem Ludwig sein Verhältnis zum Papsttum regelte und von dem nun auf Basis eines 2006 entdeckten Textzeugnisses gezeigt werden konnte, dass es als echt einzustufen ist.
Vor allem aber liefert uns Kölzers Edition die Möglichkeit, ein besseres Verständnis von Ludwigs Regierung insgesamt zu erreichen. In diesen Urkunden sehen wir gleichsam den Rhythmus des Re- gierens eines immens wichtigen frühmittelalterlichen Herrschers. Die meisten Urkunden wurden in den Sommermonaten ausgestellt. Fast ein Viertel der Urkunden sind auf die ersten drei Jahre zu datieren, während die Produktion in den letzten Jahren deutlich abnahm. Im Zuge des Aufstandes von 833 verlor Ludwig den Zugang zu seinem Siegeltypar und musste mit einem Ersatz vorliebnehmen, ehe er 836 das Original wiedererhielt -- ohne dass wir wüssten, wer das Typar in der Zwischenzeit besaß. Wir können auch die sich wandelnde Form seines Hofes wahrnehmen. Obwohl die ,Ordinatio Imperii' 817 verabschiedet wurde, wurde Lothar doch erst 825 als Mitkaiser genannt, eine Praxis, die 829 wieder aufgegeben wurde, während die Präsenz der Kaiserin Judith immer spürbarer wurde. An Hinweisen in den Texten und sogar an den Tironischen Noten einer Urkunde (D. 272) lässt sich das nachvollziehen. Der Wandel in den Vorstellungen des Hofes ist ebenfalls erkennbar. Ludwig führte ein, die ,Getreuen der ecclesia' anzusprechen, ein Ausdruck, den Karl noch nicht verwendet hatte; nach dem Aufstand setzte er seine Innovationen fort und änderte die Legitimationsformel zu divina repropriante dementia.
Am Ende seines Vorwortes gibt Kölzer seiner Sorge Ausdruck, dass die moderne deutsche Universität möglicherweise nicht mehr die Kapazitäten oder den Willen habe, solche langfristigen und ehrgeizigen hilfswissenschaftlichen Projekte zu unterstützen. Aus der Perspektive von außen lässt sich nur sagen, dass der Rezensent hofft, dass diese Besorgnis sich als vollkommen unbegründet erweist. Editionen wie diese sind Basisforschung mit großer Auswirkung, und das Leben dieser Editionen in den Bücherwänden misst sich in Jahrzehnten und nicht in bloßen Jahren, eine Langzeitwirkung, die sich kaum unterschätzen lässt. Monographien und Aufsätze sowie digitale Analyse werden sich auf die Texte stützen, die diese Edition bereitstellt, und damit sind für die Zukunft viele Fragen für eine lange Zeit vorgegeben. Tatsächlich hat die Edition schon Früchte getragen, wie man an Susanne Zwierleins Untersuchung der Arengen Ludwigs und Sarah Patts Forschungen zu den .Formulae Imperiales' sehen kann3. Ein Forschungsumfeld, das sich in Zukunft um Projekte eines solchen Kalibers nicht schert, wäre sehr kurzsichtig und wahrlich nicht im Einklang mit bester akademischer Tradition.
By Charles West, Sheffield