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Die Variabilität frühneuzeitlicher Staatlichkeit.

Kaiser, Michael
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 83 (2019), S. 303-304
Online review

Die Variabilität frühneuzeitlicher Staatlichkeit  OLIVER KRAUSE: Die Variabilität frühneuzeitlicher Staatlichkeit. Die niederländische "Staats"-Formierung der Statthalterlosen Epoche (1650-1672) als interkontinentales Regiment (Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte 105), Stuttgart: Franz Steiner 2018, 529 S. ISBN: 978-3-515-11984-9.

Inwieweit können die Niederlande in der Vormoderne als Staat bezeichnet werden? Dies ist die Grundfrage einer Studie, die mit der Frage nach der Staatlichkeit der Niederlande ein klassisches Thema der politischen und Verfassungsgeschichte der Frühen Neuzeit erneut aufgreift. Anders als sonst üblich, wird die Staatsform der Niederlande aber nicht als Abweichung von der Norm verstanden. Vielmehr will die Arbeit einen erweiterten und einen variierten Staatsbegriff etablieren, der sich nicht mehr nur an territorialen Vorstellungen orientiert, sondern an einer weiter gefassten Raumkategorie.

Denn die niederländischen Provinzen beschritten einen anderen Weg, anders als die frühmodernen Territorialstaaten, die ein festes Territorium mithilfe von zentralisierten Zwangsmitteln und einer sich professionalisierenden Administration beherrschten: Sie bildeten eine föderalistische Union, in der etablierte und gut vernetzte Kaufmannsfamilien den Ton angaben; mit den Statthaltern gab es zwar schon sehr früh formal eine quasimonarchische Spitze, die jedoch in den Jahren 1650 bis 1672 wegfiel. Diese Phase identifiziert die Arbeit als "Kernzeit für die charakteristische Ausbildung der niederländischen Staats-Formierung" (S. 17).

Bevor diese relativ kurze Phase analysiert wird, holt die Arbeit weit aus und beschreibt die Genese der niederländischen Staatlichkeit, die in ihrer Besonderheit nicht als ,Staatsbildung' (dieser Begriff wird als Ausdruck eines letztlich zu teleologischen Ansatzes abgewiesen, wie er vor allem in der deutschen Debatte vorherrscht), sondern als ,Staats-Formierung' bezeichnet wird. Mit dem Kampf um die Unabhängigkeit und der Erlangung der Souveränität etablierte sich eine Staatsform, die ein dezentrales Gemeinwesen darstellte. Prägend waren hier verschiedene, familiär geprägte Korporationen auf den Ebenen der Städte, der Provinzen und der Union selbst. In dieses Geflecht war auch die oligarchische Herrschaftselite eingebunden.

Den Wegfall des Statthalteramts nach dem Tod Wilhelms II. 1650 schätzt die Studie als bedeutsamer als den Vertrag von Münster 1648 ein. Denn nun, als das niederländische Gemeinwesen allein aus korporativen und genossenschaftlichen Elementen bestand, setzten sich die Kräfte durch, die die Politik ganz auf eine Unterstützerrolle für den Handel ausrichteten. Die Kontrolle der europäischen Warenströme gehörte zwar von je her zu den niederländischen Grundfesten des Staatsverständnisses (eben nicht nur die Beherrschung des eigenen Territoriums!), führte hier aber geradewegs in den Konflikt mit der englischen Krone und später auch mit Frankreich.

Wenn die Ökonomie eine große Rolle spielte, beschränkten sich die Niederlande dabei nie nur auf den eigenen Binnenmarkt, sondern sahen stets den Außenhandel als wesentlichen Faktor ihrer Handelspolitik an. In diesem Denken lag die Basis für das "Verräumlichungsregiment", das eben anders als eine territorial verstandene Herrschaft nicht auf den üblichen Machtmitteln beruhte, sondern sich auf die Einrichtung einzelner Stützpunkte beschränkte, politischen Druck aber durch ökonomische Zwangsmaßnahmen ausübte. Eine funktionierende Seeherrschaft gehörte zu den Voraussetzungen dieser "Verräumlichungsstrategien", die die Niederlande zuerst im europäischen Kontext etablierten, sehr schnell aber auf überseeische Verhältnisse ausweiteten und hier perfektionierten.

An dieser Stelle taucht die VOC auf, also die 1602 gegründete Vereinigte Ostindienkompanie, die zwar genuin eine ökonomisch geprägte Körperschaft darstellte, in Übersee aber anstelle der Generalstände die handelnde politische Kraft war. Im asiatischen Raum schwang sich die VOC zur politischen Akteurin auf; dazu gehörten diplomatische Initiativen gegenüber den asiatischen Mächten Japan und China, die in einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen europäischen Mächten resultierten. Diese wurden aber auch militärisch in die Schranken gewiesen, so dass auch hier die Distributionswege, so weit es ging, gesichert wurden. Die VOC sah sich dabei nicht im Gegensatz zu den Generalstaaten; im Gegenteil, beide Organisationsformen, die Generalstände wie die VOC, waren aufeinander angewiesen. Entsprechend gab es ein eher komplementäres Verständnis. Dieses wurde auch für das Staatsverständnis der Niederlande wesentlich, da das in Asien praktizierte "Verräumlichungsregiment" erheblichen Einfluss auf die Staatsvorstellungen in den Niederlanden selbst hatte.

So entwickelte sich das, was in dieser Studie als "korporativ-maritimer Distributions-Staat" bezeichnet wird, womit die interne, nicht zentralistische Herrschaftsorganisation beschrieben wird, deren Macht vor allem auf der Kontrolle von Waren- und Wissensströmen beruhte (wobei die eigene territoriale Absicherung vernachlässigt wurde). Die Hochzeit dieses Systems war das 17. Jahrhundert, doch bereits in den 70er Jahren wurde die teilweise beherrschende, ja monopolartige Stellung der Niederlande von anderen Mächten infrage gestellt. Damit geriet auch der niederländische, vom Prinzip der "Verräumlichung" bestimmte Staatsbegriff in den Hintergrund, es setzten sich die heute noch dominierenden Staatsvorstellungen durch.

Der Wert dieser Studie, die auf eine Leipziger Dissertation 2015/16 zurückgeht, besteht genau darin, dass sie diese fast verloren gegangene Staatsvorstellung nicht nur wiederentdeckt, sondern auch rehabilitiert. Sie tut dies auf einer theoriesatten Grundlage, auf der dann viele zeitgenössische Materialien (Resolutionen, Verträge, Sendbriefe, private Korrespondenzen) ausgewertet werden; ein umfänglicher Anhang bietet einige zentrale Dokumente im Wortlaut. Den großen Bogen zwischen der spezifischen Herrschaftsetablierung in den Niederlanden selbst und dem sich entwickelnden ostindischen Kolonialreich nachzuvollziehen, verlangt durchaus eine konzentrierte Lektüre. Dabei werden auch Bezüge zu anderen Staatsbildungsexperimenten verfolgt, etwa zur Eidgenossenschaft und zum böhmischen Versuch der Ständestaatsbildung zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs. Selbst wer dem Autor nicht in allen Punkten folgen mag, wird doch aus der hier vorgenommenen Erweiterung eines sehr eng territorial und terrestrisch definierten Staatsbegriffs viele Anregungen gewinnen können.

By Michael Kaiser, Köln / Bonn

Titel:
Die Variabilität frühneuzeitlicher Staatlichkeit.
Autor/in / Beteiligte Person: Kaiser, Michael
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 83 (2019), S. 303-304
Veröffentlichung: 2019
Medientyp: review
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • DIE Variabilitat fruhneuzeitlicher Staatlichkeit: Die nieder landische Staats Formierung der Statthalterlosen Epoche (1650-1672) als interkontinentales Regiment (Book)
  • KRAUSE, Oliver
  • GERMAN history
  • NONFICTION
  • Subjects: DIE Variabilitat fruhneuzeitlicher Staatlichkeit: Die nieder landische Staats Formierung der Statthalterlosen Epoche (1650-1672) als interkontinentales Regiment (Book) KRAUSE, Oliver GERMAN history NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review

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