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Das Reden von der Mitte – ideologischer Ballast eines Verlegenheitsbegriffs: Lena Kroeker / David O'Kane / Tabea Scharrer (Eds.), Middle Classes in Africa. Changing Lives and Conceptual Challenges. London: Palgrave Macmillan 2018, 376 S., gb., 117,69 € (zitiert als I)Nadine M. Schöneck / Sabine Ritter (Hrsg.), Die Mitte als Kampfzone. Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten. Bielefeld: transcript 2018, 350 S., kt, 29,99 € (zitiert als II)

Kößler, Reinhart
In: Soziologische Revue, Jg. 43 (2020-03-01), Heft 1, S. 64-71
Online review

Das Reden von der Mitte – ideologischer Ballast eines Verlegenheitsbegriffs: Lena Kroeker / David O'Kane / Tabea Scharrer (Eds.), Middle Classes in Africa. Changing Lives and Conceptual Challenges. London: Palgrave Macmillan 2018, 376 S., gb., 117,69 € (zitiert als I)Nadine M. Schöneck / Sabine Ritter (Hrsg.), Die Mitte als Kampfzone. Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten. Bielefeld: transcript 2018, 350 S., kt, 29,99 € (zitiert als II) 

Keywords: Mitte; Klasse; Rechtspopulismus; Deutschland; Afrika; globale Ungleichheit

Nadine M. Schöneck / Sabine Ritter (Hrsg.), Die Mitte als Kampfzone. Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten. Bielefeld : transcript 2018, 350 S., kt, 29,99 € (zitiert als II)

Lena Kroeker / David O'Kane / Tabea Scharrer (Eds.), Middle Classes in Africa. Changing Lives and Conceptual Challenges. London : Palgrave Macmillan 2018, 376 S., gb., 117,69 € (zitiert als I)

Mit Themen und Termini in der Sozialwissenschaft ist es manchmal wie mit der Parallelaktion in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften: Alle reden darüber, schon deshalb sind alle sich der Bedeutung des Gesprächsgegenstandes sicher, aber niemand weiß so recht, was darunter zu verstehen sei. Oder: „Politicians court the middle class. Pundits reference it. Sociologists study it. Most people think they belong to it. But we don't really know what it is" ([8], 2005: 7).

Die beiden anzuzeigenden Sammelbände, die sich aus sehr verschiedenen Perspektiven mit der (gesellschaftlichen) „Mitte", „Mittelschichten" und „Mittelklassen" befassen, belegen solche Diagnosen. Bereits Theodor [3] (1962: 235) sprach von einem „Verlegenheitsbegriff", dem „Posten ‚Sonstige' in der statistischen Tabelle". Nach [4] (2017) verdrängt die „Mitte" die zentrale Kategorie der „Klasse" und blendet zentrale Strukturmerkmale kapitalistisch geprägter Gesellschaften aus.

Gleichwohl zeigen die beiden hier zu besprechenden Bände, dass die Chiffre „Mitte" zentrale Themen der Schichtungsdynamik gegenwärtiger Gesellschaften anspricht. Einige Autor*innen thematisieren die terminologische Grundproblematik, operieren dann aber weiter mit den problematisierten Termini. Hier zeigt sich ein nicht immer reflektiertes begriffliches Defizit.

Thematisches Zentrum in II, entstanden im Anschluss an den 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, ist die Debatte über Abstieg oder Abbröckeln der „Mitte" sowie deren mögliche politische Auswirkungen besonders im Aufkommen des „Rechtspopulismus". Hinzu kommen die Distinktions- und Abgrenzungsproblematik. Eröffnet wird der Band durch Herfried Münklers Verweis auf den Ursprung der Debatte bei Aristoteles. Damit ist das Postulat einer Verknüpfung des „rechten Maßes" mit „mittlerem Einkommen" und einer Äquidistanz zwischen unterschiedlichen ethischen Orientierungen bezeichnet (34). Weitere Beiträge belegen die Diskursmächtigkeit solcher Vorstellungen. Berthold Vogel identifiziert „auf der Suche nach der Wirklichkeit der Mittelklasse" (46) strukturelle Verknüpfungen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und zumindest Teilen der „Mittelklasse", insbesondere der „Dienstklasse" als eines zentralen Momentes des „arbeitenden Staates" (43f.), so dass sich heute frage, in welcher Beziehung „die Prozesse der Reproduktionskrise" zu „den Dynamiken der Statusstabilisierung" stünden (46). In dieser Perspektive stehen auch familiäre Strategien, in der Generationenfolge den durch Beamtenstellung oder Kleinunternehmertum – zwei ebenso unterschiedliche wie zentrale der Mitte zugerechnete Positionen – erreichten Status zu erhalten, die Miriam Schad und Nicole Burzan an zwei Fallbeispielen vergleichen. Anstrengungen in Form von Bildungsstreben und einem leistungsorientierten Leben können mit Holger Lengfeld und Jessica Ordemann als „Investitionsarbeit" in den Status verstanden werden, deren Früchte gegenwärtig durch Veränderungen des Arbeitsmarktes gefährdet sind An die Stelle planvoller Strategien tritt ein „Durchwursteln" (80; vgl. [6], 2015). Die von Uwe Schimank auch in diesem Band konstatierte „ambivalente Lebenslage" macht für die der Mitte zugeordneten Gruppen langfristige Planung in die eigenen Lebensperspektiven ebenso wie jene der Folgegenerationen sowohl möglich als auch erforderlich (220). Im Hinblick auf die Raum- und Zeit-Beziehung der „Mittelschichten" pointiert Gunter Weidenhaus diesen „Planungsimperativ" (299).

Wenn die Herausgeberinnen zunächst von der „Anziehungskraft der Mittelschichtsgesellschaft" (12) sprechen, dann aber von „der Etablierung von Mittelstandsgesellschaften" (14), so verweist dies auf eine Spannung zwischen der Konstatierung gesellschaftlicher Zielvorstellungen und Strukturaussagen. Es gibt daher gute Gründe, der „Mittelschicht" im Anschluss an Ernesto Laclau „die Funktion eines ‚leeren Signifikanten'" zuzuweisen, wie dies Marion Barbehön, Marilena Geugies und Michael Haus (144) und auch Silke van Dyk (201f.) tun. Demnach lässt sich der Terminus nahezu beliebig mit Bedeutung füllen und es „lässt sich an seiner Verwendung der Versuch ablesen, die Gesellschaft als eine Einheit zu präsentieren" (Barbehön u. a.: 147), demnach Klassenstrukturen zu entthematisieren. Doch können derartige Operationen nur gelingen, wenn die oben angesprochenen gesellschaftlichen Bedingungen gegeben sind, und aus diesem Grund sind das „Schrumpfen" der Mitte und die daraus sich ergebende Verunsicherung besonders der unteren der dieser Formation zugerechneten Schichten denn auch hier ein wiederkehrendes Thema.

Die wahlpolitischen Folgen der Wahrnehmung, dass bei zunehmender Ungleichheit „die Mittelschicht schrumpft" (89), untersucht Ursula Dallmayer. Dabei würden Verunsicherung und Ressentiments unterschiedlich artikuliert. Während die „obere Mittelschicht" zu „alternativen Parteien" tendiere, bevorzuge die „untere" die LINKE – freilich stammen die Daten von 2012, können also die Erfolge der AfD noch nicht abbilden.

Die verbreitete Diagnose des „Schrumpfens" erfordert eine Definition, die sich möglichst auch an die Sozialstatistik herantragen lässt. Wie Judith Niehues deutlich macht, geht es unvermeidlich um Konstruktion und Komplexitätsreduktion. Sie plädiert für „eine Abgrenzung über das Einkommen" (55), wobei freilich „knapp 30 Prozent der Bevölkerung [...] ohne Einordnung" bleiben (56) und demnach offenbar nicht Teil der „Gesellschaft" sind, die in insgesamt fünf Gruppen gegliedert wird (57). Hier ist die „Mitte im engeren Sinn (80 bis unter 150 Prozent des Medianeinkommens)" in Deutschland von nahezu 55 Prozent 1997 auf knapp 50 Prozent 2005 zurückgegangen und danach konstant geblieben – ungeachtet abweichender subjektiver Zuordnungen, die freilich für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Sachverhalte entscheidend sein dürften. Freilich halten Schad und Burzan fest, dass solche „empirischen Befunde" vom jeweiligen „definitorische[n] Ansatz" abhängig sind (110).

Den Ideologieverdacht, den diese begrifflichen Unklarheiten im Hinblick auf den Terminus „Mitte" (und entsprechende Komposita) nahelegen, erhärtet Stephan Lessenichs Blick auf die Geschichte der deutschen Soziologie. Theodor Geigers Diagnose vom „Überwiegen des Mittelstandskontingents im NS" (1962: 235) allein müsste die Erwartung einer quasi vorgegebenen Mäßigung als illusorisch erweisen. Lessenich verweist weiter auf Helmut Schelskys Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" und schließt sich Ulf Kadritzkes Diagnose an, nach der dies als „modernisierte Fassung einer Volksgemeinschaft der Mitte gelten" könne (zit. 165). Damit ist jedoch für Lessenich die „Mitte" keineswegs erledigt. Vor allem gegenüber Oliver Nachtweys These von der „Abstiegsgesellschaft" pointiert er das nach dem Ende der Aufstiegstendenz der Nachkriegszeit „reaktivierte Mittelstandssyndrom von Veränderungserfahrungen, Verlustängsten und Verschwörungsphantasien" (175), dem insbesondere die Sozialdemokratie nichts entgegenzusetzen habe. Silke van Dyk spitzt eine weitgehend komplementäre Diagnose dahingehend zu, dass die Besetzung des „leeren Signifikanten" Mitte diskursiv gleichbedeutend mit der Definition dessen sei, für das nach wie vor der Anspruch erhoben werde, als das „Allgemeine" letztlich normbildend wirken zu können.

Das Erleben der „Rückkehr" sozialer Ungleichheit konstatiert Uwe Schimank für die „Unterschichten" seit den 1980er, für „größere Teile der Mittelschichten" seit den 1990er Jahren (226). Er sieht deutlich differenzierte Verlaufsformen je nach der Ausstattung von insgesamt vier Fraktionen mit größerem oder geringerem ökonomischem und kulturellem Kapital. Verschränkt mit der insgesamt auf die „Neuen sozialen Bewegungen" zurückgeführten „Identitätspolitik" (225) artikuliert sich Verunsicherung und wahrgenommene Statusgefährdung zuerst in dem Bestreben nach einer kulturellen und sozialen Schließung. Im Anschluss u. a. an Arlie Hochschild plädiert Schimank dafür, bestehende „empathy walls" zu überwinden (234), ohne freilich klar zu reflektieren, dass die geforderte Lernbereitschaft mindestens zweiseitig sein müsste. Auf ein ähnliches Dilemma läuft auch Cornelia Koppetschs These von einem gespaltenen Heimatbezug zwischen kosmopolitisch und lokal orientierten Schichten hinaus.

Hier setzen selbstreflexive Perspektiven ein, die ausdrücklich von Oliver Dimbath in seiner Abschlussreflexion mit dem Hinweis eingeführt werden, der auch in soziologischen Zeitdiagnosen anzutreffende „Mittelschicht-Bias" (317) sei wesentlich auf die Zugehörigkeit der Autor*innen solcher Analysen zu eben diesen Gruppen zurückzuführen. Freilich dürfte die in den Beiträgen immer wieder angeführte und bei weitem mehrheitliche Selbst-Identifikation als „Mitte" ihren Teil hierzu beitragen. Vor allem ist mit van Dyk an den Anspruch der „Mitte" zu erinnern, das „Allgemeine" zu repräsentieren, unvermeidlich in scharfer Abgrenzung gegen ein Anderes, das, wie Niehues erwähnt hat, zuweilen nicht einmal statistisch erfasst und als dem Sozialen nicht zugehörig definiert wird.

Unverkennbar sind die Beiträge in II auf Deutschland konzentriert, ja, beschränkt. Einzig Lessenich reflektiert die Lage der „Mitte" in einer Weltgesellschaft, die durch Konkurrenz und die Auseinandersetzung um den Fortbestand einer im globalen Maßstab privilegierten „imperialen Lebensweise" ([1], 2017) bestimmt ist (173); Schimank erwähnt Hoffnungen auf „die wachsende ‚Mitte'" in Afrika, China und Indien (217).

Der Perspektivwechsel auf Analysen zu Afrika südlich der Sahara, wie sie in I geboten werden, eröffnet jedoch nicht allein den Blick auf eine bereichernde Empirie, sondern kann auch die begriffliche Problematik der Rede von der „Mitte" weiter verdeutlichen. Der Band präsentiert weitgehend Arbeiten aus dem Max-Planck-Institut für Ethnologie in Halle und der Universität Bayreuth.

Zunächst zeichnen die statistischen Messzahlen, soweit sie für die „Mittelklasse" herangezogen werden, ein grundsätzlich anderes Bild, wenn es nicht um Deutschland, sondern um Afrika geht und damit zumindest ausschnitthaft eine globale Perspektive eröffnet wird. Dieter Neubert und Florian Stoll (61) verweisen auf Kennziffern für die „Mittelklasse" in Afrika, die von einem Pro-Kopf-Einkommen von US$ 2 bis zu US$ 100 pro Kopf und Tag reichen; überwiegend wird die Obergrenze zu den „Reichen" mit US$ 20 angesetzt. Die Vorstellung von einer „globalen Mittelklasse" lässt sich mit solchen Zahlen nur schwer vereinbaren; vielmehr unterstreichen sie im Vergleich mit Westeuropa, aber auch Asien die fortbestehende globale Ungleichheit. Dominique Darbon zeichnet den diskursiven Ort der „Erzählung von der ‚afrikanischen Mittelklasse'" (Neubert/Stoll) nach. Diese gehe auf eine Reihe von Berichten der Afrikanischen Entwicklungsbank (AfDB) und ihr nahestehender Expert*innen von 2011 zurück und laufe „im Wesentlichen auf eine Neubestimmung der Armen" hinaus (48), also ähnlich wie bei der Klassenfrage auf die Entthematisierung einer zentralen Problematik. Doch konstatiert Darbon auch Veränderungen in der Herausbildung einer oberhalb der extrem Armen situierten Floating Class, die bei höchst prekärem Status dennoch „sich und ihre Familie unter Einsatz vielfältiger Einkommensquellen in eine neue und bessere Zukunft projiziere" und damit über hergebrachte „duale" Schichtenmodelle hinausgehe (51). Dagegen argumentieren Neubert und Stoll, die von ihnen kurz gestreiften Konzepte von Marx, Weber und Bourdieu reichten vor allem aufgrund der hier durchgehend betonten ökonomischen Grundlagen der Sozialstruktur zur Erfassung der afrikanischen Realität nicht aus, weil hier besonders deutlich sozioökonomischer Status einerseits, Milieuzugehörigkeit und Lebensstil andererseits nicht deckungsgleich seien. Doch legen weitere Beiträge solcher Zusammenhänge in vielfältiger Weise die Annahme nahe, dass Milieu und Lebensstil materielle Grundlagen erfordern. Sehr deutlich zeigt dies der Versuch von Tsiry Andrianampiarivo, im einzigen stärker quantitativ argumentierenden Beitrag unterschiedliche Grade und Ausprägungen eines „mäßigen Wohlstandes" in einer ländlichen Region Madagaskars mit entsprechenden Langzeitstrategien sowie Formen des „Lebensunterhalts" (livelihood) zu verknüpfen. Doch wird damit geradezu ein Leitmotiv des Bandes angesprochen.

Ähnlich wie Neubert und Stoll betonen David O'Kane und Tabea Scharrer, dass von „Klassen" in afrikanischen Gesellschaften vor der Kolonisierung nicht gesprochen werden könne. Sie verbinden dies mit einem Überblick über die Geschichte afrikanischer Gesellschaftssysteme und deren Erforschung. Ab dem späten 18. Jahrhundert habe die „Einbeziehung afrikanischer Regionen in globale kapitalistische Netzwerke" zu „neuen Formen der Stratifikation" (86) geführt. Sowohl nach der Entkolonisierung als auch in den Siedlergesellschaften des südlichen Afrika führte dies zum Auftreten von „Mittelklassen", vor allem in letzteren mit „destabilisierenden" Konsequenzen (88). Es fragt sich, ob dies der Dynamik der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen vor allem in Südafrika seit den letzten Jahrzehnten der Apartheid gerecht wird, deren Massencharakter eher unter dem Aspekt des „Prekariats" diskutiert wird ([5], 2014). Soweit von einer Rolle der „Mittelklasse" gesprochen werden kann, würde dies eher den Interpretationen entsprechen, die diese als entscheidende Kraft bei der Beendigung diktatorischer Regime in Ost- und Südostasien gesehen haben.

Die Perspektive des Milieus wird vor allem in drei Fallbeispielen für soziale Mobilität in unterschiedlichen Fassungen aufgenommen. Die Herausgeber*innen bezeichnen dies als „Herzstück" des Buches (107). Wie auch in II wird hier der Terminus „Mittelklasse" weitgehend ohne Bezug auf die anderwärts aufgezeigte begriffliche Problematik mit großer Selbstverständlichkeit, oft ohne weitere Definition verwendet.

Der Süden Ghanas blickt, wie Jan Budniok und Andrea Noll zeigen, auf 120 Jahre „Mittelklasse" zurück, im Wesentlichen Lehrer und Juristen, die mehrmals dem Fahrstuhleffekt (Ulrich Beck) unterlegen seien. Auf einen ähnlichen Sachverhalt in Südafrika verweist auch Jason Musioka. Budniok und Noll können diese Perspektive für Ghana dank eigener ethnologischer Forschung mit einer Serie eindrucksvoller Biographien unterlegen, die zugleich in den unterschiedlichen Perioden sehr unterschiedliche Möglichkeiten und Strategien des Statuserwerbs deutlich machen sowie wie in der Studie von Schad und Burzan strategisch geprägte transgenerationale Prozesse aufzeigen.

Für einen kollektiven sozialen Abstieg unter Beibehaltung eines geradezu kastenähnlichen Statusanspruchs steht die von Johanna Sarre erforschte Gruppe der „Nubier" in Kibera (Nairobi), heute der größte Slum Afrikas. Sie leiten sich von regional rekrutierten Soldaten der Kolonialarmee her, die über Generationen hinweg eine zunächst privilegierte, abgegrenzte Gruppe bildeten. Sie „besaßen ‚moderne' Lebensstile und disponibles Einkommen" als Kennzeichen der „Mittelklasse" (147). Der noch in der Kolonialzeit einsetzende soziale Abstieg war verbunden mit der demographischen Expansion Kiberas. Die Unabhängigkeit Kenyas 1964 verstärkte diese Tendenzen. Den Niedergang führt Sarre neben mangelnder formaler Schulbildung als Eingangsbedingung für sozialen Aufstieg auf das religiös motivierte Versäumnis zurück, für die bewohnten Grundstücke Privateigentum zu beanspruchen.

Eine ganz andere Perspektive eröffnet Astrid Bochows Studie über die Herausbildung neuer Berufsgruppen, ausgehend vom Aktivismus während der akuten, durch die HIV/AIDS-Pandemie in Botswana seit den 1990er Jahren ausgelösten Krise. Es zeigt sich, dass die Konstituierung einer Profession verschränkt ist mit dem Status als „Wohltäter*innen". Stärker als der „finanzielle Status" (161) ist es die fortbestehende Diskriminierung der Infizierten, die den neuen Professionellen hilft, „im Alltagsleben neue Formen der sozialen Differenzierung [zu] verfolgen" (170), auch aufgrund einer sehr aktiven Rolle des Staates.

Eine ganze Reihe von Beiträgen belegen unterschiedliche Dimensionen des engen Zusammenhanges, der zwischen einem der „Mittelklasse" in irgendeiner Weise zuzuordnenden Status und dessen sehr unterschiedlicher, aber letztlich wohl unerlässlichen materiellen Unterfütterung besteht. Das gilt für die Bedeutung eines sehr lose bestimmten „Eigentums" am eigenen Wohnhaus im Township Alexandra sowie der angrenzenden Siedlung Linbro Park (Johannesburg), der Barbara Heer nachgegangen ist; in anderer Weise lässt sich dies für die explosionsartig gestiegenen Kosten von Hochzeitsfeierlichkeiten geltend machen, die, wie Julia Pauli in ihrer Studie zu dem kleinen Ort Fransfontein im nordwestlichen Zentralnamibia aufzeigt, einerseits zum Entrée und zugleich Nachweis der Zugehörigkeit zur Mittelklasse geworden sind, andererseits aber eben dadurch für Mittellose zur Barriere für die Eheschließung selbst. Lena Kroeker zeigt, wie angesichts eines eng beschränkten Instrumentariums sozialstaatlicher Institutionen in Kenya bessergestellte Familienmitglieder ärmere Verwandte unterstützen, während die von ihnen selbst verfolgten Strategien zur Absicherung gegen einen sozialen Abstieg im Gegensatz dazu berufliche und religiöse Netzwerke sowie Formen der Nachbarschaftshilfe einsetzen. Sozial eher homogene Milieus sind daher gegenüber den heterogenen, durch Ungleichheit gekennzeichneten Verwandtschaftsbeziehungen privilegiert. Die Grenzen beruhen, mit Bourdieu gesprochen, deutlich auf unterschiedlicher Ausstattung mit ökonomischem Kapital, das durch die Transferleistungen an Ärmere in moralisches und eventuell auch politisches Kapital transformiert werden kann. Jason Musyoka dagegen verweist auf die „Verstricktheit" der „Mittelklassen", die ihnen angesichts der Ansprüche „ärmerer Verwandter" die Manövrierfähigkeit nehme (241).

Die Hoffnungen, die sich immer wieder mit einer politischen, Demokratie begünstigenden Rolle der „Mitte", der „Mittelklasse" usw. verbinden, werden bereits von Neubert und Stoll gedämpft, die diese Sichtweise eher einem kritisch zu reflektierenden „Mittelklasse-Narrativ" zuweisen (73). Gestützt wird eine solche optimistische Perspektive ehestens in David O'Kanes Darstellung des Aufbaus einer privaten Universität nach dem Bürgerkrieg in Sierra Leone, die sich speziell der politischen Bildung verpflichtet sieht, ohne doch der Parteipolitik zu verfallen. Die Perspektiven dieses Experimentes erscheinen O'Kane notwendigerweise als unbestimmt. Grundeigentum regt in Heers Darstellung eher dazu an, durch den geschickten Einsatz politischer Instrumente die spezifischen eigenen Interessen der Eigentümer*innen geltend zu machen. Musyoka wiederum betont die entgegen Hoffnungen auf stabilisierende, Demokratisierung begünstigende Effekte bestehenden destabilisierenden Konsequenzen der Existenz von „Mittelklassen", die er als Konsequenz der oben erwähnten „Verstricktheit" versteht.

In ihrer Schlussbetrachtung macht Rachel Spronk noch einmal deutlich, auf welch schwankendem Boden dies alles steht, fragt man nach den Begriffen, die solchen Überlegungen zugrunde liegen. Der Hinweis, dass „Afrika" ein höchst fragwürdiges Konstrukt ist, gehört zur Routine in der regionalwissenschaftlichen Literatur; doch auch mit der „Mittelklasse" ist es nicht besser. Spronk fragt zunächst, ob diese „Kategorie" „unkritisch [...] afrikanischen Wirklichkeiten übergestülpt" werden könne (315), um zu dem Schluss zu kommen, dies gehe „auch nirgendwo sonst" (316). Dies schließt, wie auch Spronk betont, keineswegs aus, dass es sich um reale, sogar höchst wichtige Erscheinungen handele, die sich jedoch eher mit Bezeichnungen wie Floating Class fassen ließen (318), was zu dem Versuch führen soll, terminologisch stärker das Prozesshafte und Flüssige der gemeinten gesellschaftlichen Sachverhalte zu markieren. Abschließend wendet sich Spronk gegen die Projektion eines überlasteten Terminus wie der „Mittelklasse" und plädiert unter Verweis auf die inzwischen etablierte postkoloniale Kritik etwa der „Provinzialisierung Europas" ([2], 2000) für eine radikal induktive Begriffsbildung im Sinne einer Perspektive „von Afrika aus" (324).

Bei aller Diversität konvergieren die Bände in der Problematik ihres zentralen Terminus. Es zeigt sich zugleich, dass die Überwindung einer regionalbezogenen Provinzialität ein dringliches Desiderat ist, gerade wenn das Etikett „Mittelklasse" global gesehen Unterschiede gesellschaftlicher Lagen eher verdeckt als Gemeinsamkeiten bezeichnet. Auch ein solcher Befund macht den Rückgriff auf ein differenziertes Konzept der Klasse dringlich (vgl. auch [7], 2019). Wie bereits Geiger gezeigt hat, lässt sich nur so ein Gesamtbild des gesellschaftlichen Zusammenhangs gewinnen, während die Fixierung auf eine oft minoritäre Mitte riskiert, eine solche Perspektive aus dem Blick zu verlieren.

Literatur 1 Brand, U.; Wissen, M. Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus; Oekom: München, 2017. 2 Chakrabarty, D. Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference; Princeton University Press: Princeton, 2000. 3 Geiger, T. Zur Theorie des Klassenbegriffs und der proletarischen Klasse. In Arbeiten zur Soziologie; Geiger, T., Hrsg.; Luchterhand: Neuwied/Berlin, 1962; pp 206–259 (zuerst: Schmollers Jahrbuch 1930). 4 Kadritzke, U. Mythos „Mitte" Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage. Bertz + Fischer: Berlin, 2017. 5 Saul, J. Neue Formen des Widerstands. Proletariat, Prekariat und die afrikanischen Aussichten in der Gegenwart. Peripherie2014, 136, 487–507. 6 Schimank, U., Lebensplanung!? Biografische Entscheidungspraktiken irritierter Mittelschichten. Berliner Journal für Soziologie2015, 25, 7–31. 7 Vester, M. Von Marx bis Bourdieu. Klassentheorie als Theorie und Praxis. In Klassen – Fraktionen – Milieus. Beiträge zur Klassenanalyse (1); Vester, M.; Kadritzke U.; Graf, J., Hrsg.; Rosa-Luxemburg-Stiftung: Berlin; 2019; pp 9–67. 8 Wheary, J. Measuring the Middle Class. Assessing What it Takes to Be Middle Class; Demos Working Paper, 2005. https://www.demos.org/research/measuring-middle-assessing-what-it-takes-be-middle-class (Zugriff Aug 3, 2019).

By Reinhart Kößler

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Titel:
Das Reden von der Mitte – ideologischer Ballast eines Verlegenheitsbegriffs: Lena Kroeker / David O'Kane / Tabea Scharrer (Eds.), Middle Classes in Africa. Changing Lives and Conceptual Challenges. London: Palgrave Macmillan 2018, 376 S., gb., 117,69 € (zitiert als I)Nadine M. Schöneck / Sabine Ritter (Hrsg.), Die Mitte als Kampfzone. Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten. Bielefeld: transcript 2018, 350 S., kt, 29,99 € (zitiert als II)
Autor/in / Beteiligte Person: Kößler, Reinhart
Link:
Zeitschrift: Soziologische Revue, Jg. 43 (2020-03-01), Heft 1, S. 64-71
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: review
ISSN: 0343-4109 (print)
DOI: 10.1515/srsr-2020-0008
Schlagwort:
  • MIDDLE Classes in Africa: Changing Lives & Conceptual Challenges (Book)
  • DIE Mitte als Kampfzone: Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten (Book)
  • KROEKER, Lena
  • O'KANE, David
  • SCHARRER, Tabea
  • SCHONECK, Nadine M.
  • RITTER, Sabine
  • NONFICTION
  • Subjects: MIDDLE Classes in Africa: Changing Lives & Conceptual Challenges (Book) DIE Mitte als Kampfzone: Wertorientierungen und Abgrenzungspraktiken der Mittelschichten (Book) KROEKER, Lena O'KANE, David SCHARRER, Tabea SCHONECK, Nadine M. RITTER, Sabine NONFICTION
  • Afrika
  • Deutschland
  • globale Ungleichheit
  • Klasse
  • Mitte
  • Rechtspopulismus
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Ruhestand (bis 2015 Arnold-Bergstraesser-Institut, Freiburg,) Germany
  • Full Text Word Count: 2953

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