Bernard Capp, The Ties that Bind. Siblings, Family, and Society in Early Modern England. 2018 Oxford University Press Oxford, 978-0-19-882338-4, £ 60,–
Bernard Capp, Emeritus Professor an der University of Warwick, zielt mit dieser Studie auf die Schließung einer Forschungslücke. Anders als andere Themen zum Bereich der Familie haben Geschwisterbeziehungen bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren. Wenig überraschend ist daher, dass die bestehende Forschung zu teils konträren Ergebnissen kommt und für das frühneuzeitliche England entweder die Geschichte einer überwiegend von Rivalität gekennzeichneten sozialen Formation zeichnet oder im Kontrast dazu die bemerkenswerte Harmonie solcher Beziehungsformen herausstellt. Capp begegnet beidem – dem empirischen Desiderat wie der starken Deutungsvarianz – mit den klassischen Tugenden des Sozialhistorikers. In einer argumentativ ausgewogenen, an empirischen Details reichen und zugleich ungemein präzisen Studie untersucht Capp die historische Spezifik von Geschwisterbeziehungen im frühneuzeitlichen England.
Eingangs skizziert der Autor die sozial- und rechtshistorischen Rahmenbedingungen, die – insbesondere durch die Primogeniturregelung – die Besonderheiten Englands markieren. Auf dieser Grundlage untersucht Capp entlang weitgestreuter Quellenüberlieferungen die sozialen und kulturellen Konsequenzen dieser Bedingungen und beschreibt so im ersten Teil seiner Studie die Erfahrungen und Auswirkungen von Geschwisterbeziehungen in der Kindheit und im Erwachsenenalter, wobei er ein besonderes Augenmerk auf die Bedeutung der Geburtsreihenfolge für die Betroffenen und das soziale Umfeld legt. Anschließend nimmt er die weibliche Perspektive ein und beleuchtet Geschwisterbeziehungen unter Frauen sowie über die Geschlechtergrenze hinweg. In voller Kenntnis der Durchlässigkeit von Familiengrenzen und der Diskontinuitäten innerhalb einzelner Familien leuchtet Capp sodann die Welt der Halb- und Stiefgeschwister aus, um anschließend nach der religiösen Dimension von Geschwisterbeziehungen zu fragen. In einem zweiten Teil wählt Capp einen anderen Ansatz und wirft mit einigen ausgewählten Fallstudien (am Bekanntesten etwa Samuel Pepys) ein eindrucksvolles Licht auf die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Geschwisterbeziehungen innerhalb einzelner Biographien. Damit konturiert er zugleich die historischen Spannungen zwischen individuellem Erleben, öffentlicher Meinung und rechtlichem Diskurs und unterstreicht so die Problematik allzu eindeutiger und geradliniger Narrative.
Das Buch ist nicht nur überaus lesenswert und voll gut erzählter Geschichten, sondern leistet einen wichtigen Forschungsbeitrag. Jenseits der offensichtlichen Behebung eines Forschungsdesiderates liegt der Wert der Studie gerade in der Umsicht und Gelassenheit der Interpretation. So gelingt es Capp, Geschwisterbeziehungen trotz schwieriger Quellenlage auch jenseits der Eliten zu untersuchen und in ihrer partiellen Eigensinnigkeit gegen die Praktiken der Oberschichten abzugrenzen. Auch die konsequente Berücksichtigung der weiblichen Perspektive spricht für das Bestreben, die Varianz der Deutungen und Bedeutungen von Geschwisterbeziehungen für alle gesellschaftlichen Sektoren auszuleuchten. Dieser Grundhaltung entspricht es auch, dass Capp sich einem allzu eindeutigen Narrativ konsequent entzieht und eine angenehme Offenheit in der Interpretation wahrt. Dass die Studie dabei alle empirischen Sonderfälle respektiert und doch zugleich überzeugend an die historisch gegebenen sozialen Rahmenbedingungen rückbindet, ist vielleicht das überzeugendste Element des Buches.
By Hannes Ziegler
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