"Wir müssen lernen, in Fesseln zu tanzen", schrieb Leo Kestenberg an seine Schülerin und spätere Sekretärin Hana Shmuell. Dieses Lebensmotto, kann für uns aber auch zum Anlass genommen werden, zurückzublicken zu den Wurzeln aus denen sich die Strukturen der heutigen öffentlichen Musikschule entwickelt haben. Wie sind die Visionen der Gründerväter und Vordenker darin eingegangen? Wie spiegeln sich die Fesseln, in denen wir heute zu Leben glauben, in den verschiedenen Gründungsphasen wider? Welche Fesseln haben wir hier längst überwunden, welche Visionen sind aber womöglich auf der langen Reise auch verloren gegangen?
In der vorliegenden Schrift wird dem Leser zunächst eine theoretische Rahmung zur Kulturellen Bildung vorgelegt (S. 37), die dann anhand ihrer Vorgeschichte weiter aufgeschlüsselt werden soll. Die Ausführungen zu reformpädagogischen Bewegungen (S. 70), zur Jugendmusikbewegung (S. 100), zur musischen Erziehung und Bildung (S. 121) spannen dabei einen weiten Bogen, der 1 nicht zwischen schulischer und außerschulischer Bildung trennt. Es ist kennzeichnend für diese Schrift, dass sich auch die anschließenden Ausführungen zur Volksmusikschule (z. B. die Kritik Hermann Kretzschmars) und Reformbestrebungen Leo Kestenbergs nie isoliert der Musikschule zuwenden, sondern immer auch aus der Perspektive der allgemeinbildenden Schule betrachtet werden. Damit scheint hier ein Gesamtkontext musikalischer Bildung auf, bei dessen praktischer Umsetzung wir uns bis heute bemühen müssen.
All diese historischen Überlegungen münden schließlich In eine Auseinandersetzung mit den Strukturplänen der öffentlichen VdM-Muslkschu- len, In denen sich auch der Autor selbst fest verortet sieht (S. 13). Es sind letztlich die grundlegenden Fragen nach dem "Wo komme Ich her, wo gehe ich hin?", die den Autor treiben und ihn zur Reise in die Vergangenheit veranlassen. Die insgesamt sehr deskriptive Darstellung, die sich vornehmlich anhand formaler Rahmungen (wie etwa der Schulgesetze, Denkschriften, Lehr- und Strukturpläne) an der historischen Darstellung abarbeitet und diese in den Kontext einer Geschichte der musikalischen Bildung stellt, wie sie Karl Heinrich Ehrenforth und Wilfried Gruhn bereits hinlänglich vorgelegt haben, sollte nun zum Ausgangspunkt auch wissenschaftlicher For schungen werden, die sich aus solch einer Erlassperspektive der ideengeschichtlichen Untersuchung mit all ihren normativen Setzungen lösen und sich mit der konkreten Situation in den Schulen selbst auseinandersetzen. Dem geneigten Leser scheinen nicht nur diese Fragen nach solch einer empirischen Wesensschau immer wieder auf -- mit Kestenberg richtet sich sein Blick dabei nach vorn: Haben wir heute inzwischen gelernt, in Fesseln zu tanzen? Hat der einzelne Lehrer vielleicht gar das Tanzen verlernt, weil er sich im Schoß der institutionellen Rahmungen seine Fesseln gar nicht mehr spürt? Wie sieht der Tanz einer Musikschule "als Subventionsgegenstand öffentlicher Finanzhaushalte" (S. 13), Im Wirkungszusammenhang der Kooperationen mit allgemeinbildenden Schulen (S. 3Wff.), zwischen musikalischer Breitenarbelt und Spitzenförderung heute aus? Wie lässt sich die gegenwärtige Situation in den Kontext der "deflatorischen Grundlagen der kulturellen Bildung" (S. 37) stellen?
Wer sich aus seiner eigenen Unterrichtspraxis heraus diesen Fragen stellen möchte, wer In den eigenen oder In den ihm auferlegten Fesseln tanzen oder diese Fesseln gar lösen möchte, dem sei dieses Buch als Lektüre empfohlen: Solch ein Blick zurück führt uns zu den Wurzeln all unseres Tuns und öffnet uns für die zentrale Frage, "welche Aufgabe die öffentliche Musikschule zukünftig wie verwirklichen kann und soll" (S. 13).
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By Jürgen Oberschmidt