Matthias Middell, The Practice of Global History. European Perspectives. 2019 Bloomsbury Publishing New York, 978-1-4742-9215-3, £ 85,-
Der zuweilen aus guten Gründen beargwöhnte Sammelband erfreut sich in der Globalgeschichte besonderer Beliebtheit. Dies liegt daran, dass eine Geschichte, die nicht nur Europa oder den Westen behandelt und die sich in der außerwestlichen Welt nicht – wie die ältere Weltgeschichtsschreibung – auf „große" Zivilisationen beschränkt, die Expertise vieler Regionalspezialisten zusammenführen muss. Hinzu kommt, dass Globalgeschichte kein eng definierter Ansatz ist, sondern eher ein Dach, unter dem sich die verschiedensten Theoriepräferenzen versammeln. Auch diese Art von Vielfalt lässt sich in Aufsatzsammlungen gut abbilden.
Ein solcher Band sollte allerdings von einem gewissen thematischen Rahmen zusammengehalten werden. Dies ist hier nicht der Fall. Das Buch verbirgt seinen institutionellen Ursprung nicht. Es enthält acht Beiträge, die aus Referaten auf einem 2014 in Paris veranstalteten Kongress des European Network in Universal und Global History (ENIUGH), dem vierten Treffen dieser Art, hervorgegangen sind. Der Zweck der Veröffentlichung soll es sein, so der Herausgeber „to present for the first time an overview of the most debated topics and to highlight the most recent developments in global history practiced by Europeans." „For the first time?" Mehrere Handbücher und Sammelwerke haben bereits Ähnliches unternommen, vor allem sehr erfolgreich der Band „Global History, Globally: Research and Practice around the World", herausgegeben von Sven Beckert und Dominic Sachsenmaier und 2018 ebenfalls bei Bloomsbury erschienen. Hier wird auch ein präziseres Verständnis von „practice" sichtbar als in Matthias Middells Sammlung, wo der Begriff im Ungefähren bleibt und man keine Einblicke in das Metier und das öffentliche Wirken von Globalhistorikern erhält. Ob die Kapitel nicht nur in biographischer Zufälligkeit von sieben Europäern und einer Europäerin geschrieben wurden, sondern eine charakteristisch europäische – vor allem im Gegensatz zu einer US-amerikanischen – Färbung erkennen lassen, wäre eine reizvolle Frage, die bestenfalls angerissen wird.
Die Beiträge sind nach Art und Umfang sehr unterschiedlich. Die Spannweite reicht von einer allzu detaillierten und nur großzügig unter „Globalgeschichte" rubrizierbaren Abhandlung des Kulturhistorikers Christophe Charle über Paris als Kulturmetropole (mit einer wichtigen Unterscheidung zwischen „internationaler" und „transnationaler" Reichweite) bis zu Marcel van der Lindens thesenartig verdichteter Vorstellung von „global labour history" (mit dem schönen Zentralbegriff der „teleconnections"). Ein Kapitel über Demographie und Migration (Attila Melegh) ist ein nützlicher Literaturbericht. James Mark und Tobias Rupprecht bleiben zum Glück nicht dabei stehen, das Fehlen der „sozialistischen Welt" in der bisherigen Globalgeschichtsschreibung zu beklagen, sondern skizzieren ein chancenreiches Forschungsfeld. Alessandro Stanziani steuert den lebhaftesten Text des Bandes bei, indem er Mythen über die Wirtschaft des späten Zarenreichs pulverisiert. Man muss allerdings Russlandexperte sein, um gegen solchen Revisionismus Widerspruch zu wagen. Eric Vanhaute fasst die seit mindestens vier Jahrzehnten geführte (und vermutlich endlose) „Great Divergence"-Debatte um den relativen „Aufstieg" Europas und Chinas unpolemisch mit Samthandschuhen an und verzichtet auf eine – von Beobachtern des Geschehens sehnsüchtig erwartete – argumentationslogische Entwirrung des Debattengetümmels. Er wünscht sich nur höflich etwas mehr Systemtheorie, Regionalbezug und Mehrschichtigkeit.
Wer bisher noch nicht wusste, was es mit Globalgeschichte auf sich hat, wird es aus diesem Buch nicht erfahren. Wer tiefer in die Materie eingedrungen ist, mag, je nach spezifischem Interesse, den einen oder anderen Beitrag lesenswert finden.
By Jürgen Osterhammel
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