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Klaus von See, Beatrice La Farge und Katja Schulz: Kommentar zu den Liedern der Edda. Götterlieder. Bd. 1/I, Bd. 1/II.

Böldl, Klaus
In: European Journal of Scandinavian Studies, Jg. 50 (2020-10-01), Heft 2, S. 377-379
Online review

Klaus von See, Beatrice La Farge und Katja Schulz:Kommentar zu den Liedern der Edda. Götterlieder. Bd. 1/I, Bd. 1/II 

Klaus von See, Beatrice La Farge und Katja Schulz : Kommentar zu den Liedern der Edda. Götterlieder. Bd. 1/I, Bd. 1/II. Heidelberg 2019, pp. 1724.

Mehr als ein Vierteljahrhundert ist ins Land gegangen, seit 1993 mit dem Modell eines Kommentars zu dem Götterlied Skírnismál ein erster Testballon für das Unternehmen Edda-Kommentar ausgesandt wurde, dessen Monumentalität – der Modellkommentar umfasst gerade einmal 100 Seiten – sich damals noch nicht abzeichnete. Der nun erschienene und von vielen Kollegen mit Spannung erwartete Band 1 musste mit seinen insgesamt 1724 Seiten in zwei Teilbände unterteilt werden. Bei den in diesem siebten Band kommentierten Überlieferungen handelt es sich um die Götterlieder Vǫluspá, Hávamál, Vafþrúðnismál, Grímnismál sowie das Zwergenverzeichnis der Gylfaginning. Hervorzuheben ist, dass die Hauksbók-Version der Vǫluspá als eigenständige Überlieferung gewürdigt wird und nicht, wie dies in der Forschung lange üblich war, nur ergänzungsweise Berücksichtigung findet. Die Synopse der beiden Versionen (S. 1567-1575) macht die Berechtigung dieser Vorgehensweise unmittelbar anschaulich.

Die beiden ersten Götterlieder-Kommentare sind bereits 1997 bzw. 2000 erschienen, sodass die Kommentare zu den mythologischen Texten insgesamt recht unterschiedliche Forschungsstände repräsentieren. Gleichwohl ist die Begründung der Autorinnen, den ersten Band mit seinen besonders bedeutsamen Liedern ans Ende dieses langfristigen Projekts zu setzen und damit eine Pause von fast zwei Jahrzehnten in der Kommentierung der Götterlieder in Kauf zu nehmen, durchaus nachvollziehbar: „[M]it der Erfahrung und dem Wissensfundus der anderen Bände im Rücken" (S. 5) dürfte es tatsächlich einfacher gewesen sein, einer Dichtung wie der Vǫluspá gerecht zu werden. Schon ein Blick auf den bloßen Umfang lässt erkennen, welcher Aufwand mit der Kommentierung allein dieses Liedes verbunden war: Rund 550 Seiten werden dem Lied in seinen beiden Varianten gewidmet.

Auf den Aufbau des Werkes, etwa auf die Prinzipien, die Einleitungs- und Stellenkommentar strukturieren, braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden; es sind im Wesentlichen dieselben, die die Nutzer des Kommentars seit mehr als zwei Jahrzehnten gewöhnt sind und die sich dem Anfänger leicht erschließen werden. An den vorigen Kommentarbänden wurde gelegentlich kritisiert, dass sie zu Lasten von Transparenz und Handhabbarkeit zu sehr ins Detail gingen und eine Tendenz zur Ausuferung zeigten. Wäre dieses Monitum stichhaltig, so träfe es auf den vorliegenden Band in besonderem Maße zu, zumal auf den Vǫluspá-Kommentar. Doch macht das gute halbe Tausend Seiten, das die Autorinnen auf die verschiedenen Auslegungen dieser Überlieferung und ihrer Details verwenden, gerade deutlich, welch immensen Resonanzraum dieses sinistre Gedicht bildet. Unabhängig davon, ob man einzelne Details für obsolet hält, bildet der Vǫluspá-Kommentar die Vielschichtigkeit des Textes wie auch der Perspektiven, die von verschiedenen Disziplinen und in verschiedenen Phasen der Forschung auf diesen geworfen wurden, auf höchst eindrucksvolle Weise ab. Auf den Unterpunkt „Literarisches Nachleben" konnte hier verzichtet werden, denn über die Rezeption der Vǫluspá informiert der entsprechende, sehr ausführliche Artikel von Sarah Timme in Gylfis Täuschung, dem vom Nachbarprojekt „Edda-Rezeption" herausgegebenem rezeptionsgeschichtlichen Lexikon (Heidelberg 2019, S. 657-682).

Ein potenzielles Dilemma besteht in der Notwendigkeit, sich bei der jede Strophenkommentierung einleitenden Übersetzung der Verse, die „nicht auf Kosten der Verständlichkeit des deutschen Textes" (S. 6) gehen soll, auf Begriffe festzulegen, deren kritische Beleuchtung dann erst einen wesentlichen Teil der folgenden Besprechung ausmacht. Gerade bei der Vǫluspá, die bekanntlich auch auf lexikalischer Ebene eine Fülle von Deutungsproblemen aufwirft, wird diese Schwierigkeit bei einigen Versen offenbar. Gegenstand intensiver Diskussionen sind beispielsweise die Begriffe für die verschiedenen Geistesgaben und Seelenkräfte, die die Götter dem ersten Menschenpaar mitteilen (Str. 18, S. 186). Der Halbvers „óð gaf Hœnir" wird übersetzt „Hœnir gab Dichtung" da óð als Simplex lediglich in der Bedeutung ‚Dichtung' belegt ist. Indessen liegt es auf der Hand, dass die Fähigkeit zu dichten wohl kaum zur elementaren Ausstattung des Menschenwesens gehört, und im Kommentar werden denn auch weitaus plausiblere Übersetzungsvarianten diskutiert und nahegelegt. Es ist zweifellos ein vertretbares Prinzip, den Übersetzungen jeweils eindeutig belegte Wortbedeutungen zugrunde zu legen, auch wenn diese im Bedeutungsgefüge des Verses nicht stimmig erscheinen, doch stellen sich die Verse dadurch weniger als poetisch geformte Aussagen denn als bloße Wortfolgen dar. Ähnlich verhält es sich mit der „Hofwiese", auf der die Asen ihrem Brettspiel nachgingen („Teflðo í túni"; Str. 6, S. 122). Ungeachtet ihrer etwas profanierenden Konnotation mag die Wahl der altisländischen Grundbedeutung „Hofwiese" für tún angemessen sein; im Kommentar vermisst man allerdings jeden Hinweis auf die sakralen Implikationen dieses Worts, wie sie sich u. a. aus mehreren der schwedischen Ortsnamen mit dem Suffix –tuna ergeben. Hier zeigt sich ein weiteres grundsätzliches Dilemma der Vǫluspá-Kommentierung: Man kann von einem Liedkommentar schwerlich erwarten, dass er eine vollständige Religionsgeschichte liefert, auch wenn eine solche erforderlich wäre, um dieser ungeheuer komplexen und anspielungsreichen Dichtung vollauf gerecht zu werden.

Gerade bei der Vǫluspá kann es aus besagten Gründen kaum ausbleiben, dass je nach Forschungsperspektive der eine oder andere Aspekt vermisst werden wird; der bewundernswerten Leistung, die die Kommentatorinnen bei diesem, aber auch bei den anderen Liedern erbracht haben, tut dies freilich keinen Abbruch. Der nun endlich vorliegende Band 1 wird die mythologische Forschung zweifellos stimulieren, zumal er auch den einen oder anderen möglicherweise zu Unrecht vergessenen Ansatz in Erinnerung ruft. Abgeschlossen wird mit diesem Monument der Gelehrsamkeit nicht nur das epochale Kommentarprojekt, sondern in gewissem Sinne eine ganze Ära: Vergleichbare Unternehmungen werden in Zukunft sicherlich in erster Linie oder auch zur Gänze digital umgesetzt, eine mediale Entwicklung, die sich bei der Konzeption des ersten Bandes Mitte der neunziger Jahre so noch nicht abgezeichnet hatte. Eine digitale Verfügbarkeit der immensen Datenmenge (eine Reihe von nützlichen Registern findet sich freilich unter der Adresse www.eddakommentar.de) wäre zwar wünschenswert gewesen, doch wird eben diese Datenmenge, nämlich die mit stupendem Bienenfleiß zusammengetragene Summe der Eddaforschung vieler Jahrzehnte, in den Bänden auf eine Weise aufbereitet, die an Transparenz und Benutzerfreundlichkeit kaum etwas zu wünschen übrig lässt.

By Klaus Böldl

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Titel:
Klaus von See, Beatrice La Farge und Katja Schulz: Kommentar zu den Liedern der Edda. Götterlieder. Bd. 1/I, Bd. 1/II.
Autor/in / Beteiligte Person: Böldl, Klaus
Link:
Zeitschrift: European Journal of Scandinavian Studies, Jg. 50 (2020-10-01), Heft 2, S. 377-379
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: review
ISSN: 2191-9399 (print)
DOI: 10.1515/ejss-2020-2010
Schlagwort:
  • KOMMENTAR zu den Liedern der Edda (Book)
  • VON See, Klaus
  • LA Farge, Beatrice
  • SCHULZ, Katja
  • OLD Norse literature -- History & criticism
  • NONFICTION
  • Subjects: KOMMENTAR zu den Liedern der Edda (Book) VON See, Klaus LA Farge, Beatrice SCHULZ, Katja OLD Norse literature -- History & criticism NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = ISFAS Skandinavistik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel, Germany
  • Full Text Word Count: 969

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