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Arkadiusz Stempin, Das vergessene Generalgouvernement. Die Deutsche Besatzungspolitik in Kongresspolen 1914–1918. Paderborn, Schöningh 2020.

Hein-Kircher, Heidi
In: Historische Zeitschrift, Jg. 311 (2020-12-01), Heft 3, S. 833-834
Online review

Arkadiusz Stempin, Das vergessene Generalgouvernement. Die Deutsche Besatzungspolitik in Kongresspolen 1914–1918. Paderborn, Schöningh 2020 

Arkadiusz Stempin, Das vergessene Generalgouvernement. Die Deutsche Besatzungspolitik in Kongresspolen 1914–1918. 2020 Ferdinand Schöningh Paderborn, 978-3-506-78552-7, € 68,–

Die deutsche Besatzungsherrschaft während des Ersten Weltkrieges im ehemaligen durch das Russländische Reich beherrschte „Kongresspolen" wurde im Wesentlichen durch die Akteure vor Ort und weniger durch Vorgaben der Reichsregierung geprägt. Sie konnte sich gerade im kulturellen Bereich eigenständig entwickeln, während ihre Ausgestaltung Stereotype und ein Überlegenheitsdenken der deutschen Akteure vor Ort deutlich werden lässt. Hierbei entwickelte sie sich in drei Phasen: 1. Aufbau der Zivilverwaltung nach Errichtung der Militärverwaltung bis August 1915, 2. die Zeit des „Generalgouvernements" seit August 1915 und 3. die Existenz eines polnischen Staates unter der Ägide der Mittelmächte seit dem 5. November 1916.

Die umfassende, mit einem sehr umfangreichen Annotationsapparat ausgestattete Studie greift ein wichtiges Desiderat auf, da die deutsche Besatzungsherrschaft im Ersten Weltkrieges in Polen bislang weniger im Fokus historischer Forschung gewesen ist, was bereits der plakative Titel verdeutlicht. Inhaltliche und konzeptuelle Grundlage der Studie bildet die Kulturpolitik, so dass vor allem die kulturellen, bildungspolitischen und nicht zuletzt konfessionellen Aspekte der Besatzungsherrschaft als Ausdruck einer administrativen und kulturellen „Zivilisierungsmission" der deutschen Besatzer besonders fokussiert werden, ohne dass Stempin die makrohistorischen Rahmenbedingungen, die Netzwerke sowie Interaktionen zwischen Besatzern und Besetzten aus den Augen verliert. Aufbauend auf detaillierten Quellenkenntnissen verfolgt Stempin einen positivistischen Ansatz, der etwa Einflüsse aktueller Debatten der post-colonial studies hinsichtlich der Interpretation von „Zivilisierungsmissionen" vermissen lässt.

Die insgesamt neun Hauptkapitel bearbeiten zunächst die Anfänge der deutschen Zivilverwaltung bis zur Errichtung des Generalgouvernements im August 1915, indem einerseits die kriegswirtschaftlichen und politischen Interessen, andererseits die Anfänge der deutschen Kultur-, Schul- und Kirchenpolitik analysiert werden. Anschließend beschreibt der Verfasser den Aufbau der militärischen Verwaltung in Warschau im August 1915 als „Vorspiel für die divergierende Entwicklung" zwischen Besatzern und Besetzten (Kap. 2), um die Mechanismen der Machtausübung im Rahmen des Konstrukts des Generalgouvernements mit Hans Hartwig von Beseler an der Spitze zu diskutieren. Hier, wie in den folgenden Kapiteln, wird die prägende Rolle des Generalgouverneurs deutlich, zumal Vorgaben aus Berlin zur konkreten Ausgestaltung der Zivilverwaltung fehlten. War die Universität unter russländischer Herrschaft im 19. Jahrhundert polonisiert worden, so war die Wiederrichtung als polnische Universität ein zentrales Ziel polnischer Akteure und zugleich ein bildungspolitisches Zugeständnis von Beselers, was Stempin im vierten Kapitel thematisiert. Wie sehr die Kulturpolitik allgemein als Mittel zur Machtstabilisierung instrumentalisiert wurde, zeigt das fünfte Kapitel. Zwei weitere Kapitel erläutern anschließend die Schulpolitik als Mittel der Kontrolle und Modernisierung sowie die Auswirkungen des problematischen Verhältnisses von protestantisch-preußischer Politik und polnischem Katholizismus in der Kirchenpolitik. Die abschließenden zwei Kapitel widmen sich der Politik gegenüber der deutschen protestantischen Minderheit und den Juden, die sich vor der Folie des jeweiligen Verhältnisses gegenüber den Polen entwickeln musste. Als Fazit betont Stempin den – wenig erstaunlichen – temporären Charakter der Verwaltungsherrschaft, die dennoch das Land stärker als die russische Herrschaft administrativ durchdrungen habe. Die Errichtung von Militär- und Zivilverwaltung sei eine effektive Herrschaftstechnologie zwischen Druck und sanften, „verkleideten" (S. 500) Mitteln gewesen. Erst durch die Anerkennung der katholischen Kirche sei es gelungen, die Besatzungsmacht zu stabilisieren, während die polnischen politischen Eliten desavouiert worden seien. Abschließend kommt Stempin zum kaum überraschenden Schluss, dass die deutsche Besatzungspolitik in Polen in beiden Weltkriegen unterschiedlichen Prämissen folgte, sahen sich die deutschen Besatzer des Ersten Weltkriegs doch verpflichtet, ihre Besatzungspolitik auf rechtlichen Normen aufzubauen.

Insgesamt ist diese sehr detailgesättigte Studie ambivalent zu beurteilen: Sie besticht einerseits durch ihre Detailkenntnisse trotz einer problematischen Quellenlage auf Grund von Kriegsverlusten in den polnischen Archiven. Andererseits wird hierdurch ein weniger kundiger Leser gleichsam überfrachtet, zumal der Annotationsapparat zahlreiche zusätzliche Details liefert, welche die notwendige, aber fehlende interpretative Einordnung der Besatzungsherrschaft in die Expansionspolitik des Deutschen Reiches nicht weiter voranbringen. Dennoch hat Stempin ein wichtiges Kompendium deutscher Besatzungsherrschaft im Ersten Weltkrieg vorgelegt, auf das hoffentlich weitere Studien aufbauen werden.

By Heidi Hein-Kircher

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Titel:
Arkadiusz Stempin, Das vergessene Generalgouvernement. Die Deutsche Besatzungspolitik in Kongresspolen 1914–1918. Paderborn, Schöningh 2020.
Autor/in / Beteiligte Person: Hein-Kircher, Heidi
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 311 (2020-12-01), Heft 3, S. 833-834
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2020-1502
Schlagwort:
  • DAS vergessene Generalgouvernement: Die Deutsche Besatzungspolitik in Kongresspolen 1914-1918 (Book)
  • STEMPIN, Arkadiusz
  • WORLD War I
  • CATHOLIC Church
  • NONFICTION
  • Subjects: DAS vergessene Generalgouvernement: Die Deutsche Besatzungspolitik in Kongresspolen 1914-1918 (Book) STEMPIN, Arkadiusz WORLD War I CATHOLIC Church NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Wissenschaftsforum, Marburg,, 35037, Germany.
  • Full Text Word Count: 647

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