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Gesteinsschichten, Tasthaare, Damenmoden: Epistemologie des Vergleichens zwischen Natur und Kultur – um und nach 1800.

King, Martina
In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 45 (2020-11-01), Heft 2, S. 246-266
Online academicJournal

Gesteinsschichten, Tasthaare, Damenmoden: Epistemologie des Vergleichens zwischen Natur und Kultur – um und nach 1800 

This paper investigates comparison as a fundamental practice within the early life sciences. Four episodes are selected that show how comparing species works in the early 19th century and how it builds bridges between scientific and literary culture: comparing living organisms in pre-Darwinian natural history (Lacépède, Treviranus), comparing species distribution in actualistic geology (Lyell), comparing organs in comparative anatomy (Müller), and – last but not least – comparing social classes in new literary genres such as sketch, 'Paris physiology', or travel feuilleton.

Der folgende Aufsatz widmet sich dem Vergleich in der Naturforschung des frühen 19. Jahrhunderts unter wissens- und kulturgeschichtlicher Optik: Angestrebt wird so etwas wie eine ‚kleine Naturgeschichte des naturgeschichtlichen Vergleichs' im Zeitraum zwischen 1800 und 1840. Insofern geht es – wie in jeder ordentlichen Naturgeschichte – auch nicht streng historisch zu, sondern eher episodisch; im Fokus steht sozusagen das ‚prädarwinistische Stadium' der Biologiegeschichte. Es sollen vier Stationen aus der Geschichte des zoografischen Vergleichs von Arten und Merkmalen vorgestellt werden, die nicht streng chronologisch aufeinanderfolgen, sondern partiell ineinander verwoben sind: erstens der Vergleich von Arten und Merkmalen in der Naturgeschichte um 1800; zweitens der Artenvergleich eine Generation später – in der aktualistischen Geologie; drittens der zoografische Vergleich an seinem konjunkturellen Höhepunkt – in der komparativen Anatomie um 1830; viertens der naturkundliche Vergleich als Kompositionsprinzip jener literarischen ‚Soziografien', die im gleichen Zeitraum, um etwa 1830, kulturelle Konjunktur haben.

Anhand dieser vier Stationen werden drei Hypothesen entfaltet. Ad eins: Das Vergleichen von Lebewesen und ihren Merkmalen scheint in der ersten Jahrhunderthälfte ausgesprochen prominent. Es beherrscht eine empirische, protoinstitutionelle Biologie, solange deren künftige räumliche Hoheitszone, das physiologische Labor, noch nicht die Wissensproduktion beherrscht. Ad zwei: Der Charakter des Vergleichs wandelt sich allerdings in dieser Zeit auf tiefgehende Weise; und zwar von einer unökonomischen, deskriptiven Praxis zu einem regelgeleiteten, ökonomischen Vorgehen, das Erklärungen liefern kann. Ad drei: Am Höhepunkt seiner Konjunktur scheint das zoografische Vergleichen als ein integratives Moment zwischen Literatur und Naturwissenschaft zu funktionieren, das die beiden auseinanderdriftenden Kulturen sekundär miteinander vermittelt.

1 Der Vergleich in der deskriptiven naturgeschichtlichen Zoologie: eine unökonomische Praxis

Bernard Lacépède, ein berühmter Naturalist der Spätaufklärung, kennzeichnet 1799 die Fische als idealen Gegenstand einer klassifikatorischen Naturgeschichte, und zwar mit folgender Begründung: Es handle sich um

Wesen, die genug Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten äußern, um unter einer großen Anzahl Punkte mögliche Vergleichungen anzustellen [...]. Vollkommene Ähnlichkeit, wie vollkommene Verschiedenheit, lässt keine Vergleichung statt finden; nur wenn die Summe der Ähnlichkeiten der Summe der Verschiedenheiten gleich ist, kann die Untersuchung der Verhältnisse große Wahrheiten ans Licht bringen. Bernard de Lacépède: Naturgeschichte der Fische, als eine Fortsetzung von Buffons Naturgeschichte. Nach dem Französischen mit einigen Anmerkungen begleitet von Ph. Loos. Bd. 1. Berlin: Pauli 1799, S. 3 f.

Die epistemische Praxis des Vergleichens hat also in der Umbruchsphase der Naturgeschichte um 1800 ein hehres Ziel: Wahrheit. Diese soll durch das Herstellen von Relationen zwischen verschiedenen Lebensformen ans Licht gebracht werden, welche über eine gleiche Menge Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten verfügen. Allerdings hat das Vergleichen zu Klassifikationszwecken nicht nur ein großes Ziel, sondern auch große Probleme. Zum einen Ähnlichkeit beziehungsweise Verschiedenheit, die als Tertia fungieren; zum anderen die ‚große Anzahl von Punkten', die da verglichen werden sollen. Gemeint sind morphologische Merkmale, die irgendwie ähnlich gestaltet sind und die offensichtlich analog gebraucht werden: zum Beispiel Schmetterlingsflügel und Kolibriflügel. Sie sind ähnlich klein und man kann mit ihnen ähnlich gut in die Blumen feuchtheißer Gebiete hineinflattern. Die großen Schwingen der Seevögel hingegen sind davon verschieden. Ziel solcher Vergleichungen ist eine tragfähige taxonomische Ordnung des Gewimmels an Lebensformen, das die Naturforscher der Spätaufklärung zur Verzweiflung bringt; seit den großen Forschungsreisen nimmt dieses Gewimmel immer weiter zu. Und man sieht jetzt auch das Problem: Wahrheit kann diese Vergleichsform eigentlich gerade nicht ans Licht bringen, denn das wäre ja eine Systematik realer, in der Natur vorkommender Arten. Das naturgeschichtliche Vergleichen um 1800 hingegen ist arbiträr, es operiert mit einer viel zu ‚großen Anzahl möglicher Punkte' und vermag lediglich konventionelle Systematiken zu erzeugen.

Zudem platzen solche Systematiken, orientiert am Linné'schen System, um 1800 aus den Nähten, da sie vornehmlich als räumlich angeordnete Tableaus erscheinen. Trotz Georges-Louis Leclerc de Buffons tiefenzeitlicher Scala naturae, trotz Johann Friedrich Blumenbachs dynamischem ‚Bildungstrieb' und trotz Jean-Baptiste de Lamarcks epigenetischem Naturkonzept herrschen die Bemühungen vor, „die klassische Naturgeschichte vor einer Temporalisierung ihrer Grundannahmen zu bewahren". Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Klett-Cotta 1978, S. 42; vgl. dazu kritisch Wolfgang Lefèvre: „Das Ende der Naturgeschichte" neu verhandelt. Das Spektrum historischer Naturkonzeptionen in der Goethezeit. In: Franziska Bomski/Jürgen Stolzenberg (Hg.): Genealogien der Natur und des Geistes: Diskurse, Kontexte und Transformationen um 1800. Göttingen: Wallstein 2018, S. 25–41, hier S. 25ff. So hat sich – obwohl die genannten Ansätze eine zeitliche Natur des Wandels bereits mitdenken – die Vorstellung, dass Arten aussterben können, noch nicht prinzipiell durchgesetzt und die vielen neuen Lebensformen müssen alle irgendwie untergebracht werden. Dabei erweist sich ‚die große Menge an Vergleichspunkten' als hinderlich: Wählt man die Comparanda willkürlich, so ergeben sich potenziell unbegrenzte Vergleichskombinationen und damit auch potenziell immer neue Arten. Man sieht das exemplarisch am Inhaltsverzeichnis von Lacépèdes Naturgeschichte der Amphibien (1788–1780). Die wichtige Gattung ‚Schildkröte' etwa gliedert sich in zwei feste Abteilungen: Meerschildkröten sowie Fluss- und Landschildkröten. Deren einzelne Arten kommen zustande, indem man äußerliche Merkmale wie Panzerbeschaffenheit, Farbe und Schwanzlänge vergleicht. Da gibt es dann „grünschalige", „schieferartige", „lederartige" Meerschildkröten, „gelbe", „beißige oder weiche", „rauhe", „gekielte", „kastanienbraune" oder „schwärzliche" Landschildkröten. Auch die „gezähmte Schildkröte" ist eine Art; in einer konventionellen Systematik ohne realen Artenbegriff ist das gar nichts Merkwürdiges. Bernard de Lacépède: Herrn De La Cepedes Naturgeschichte der Amphibien oder der eyerlegenden vierfüßigen Thiere und der Schlangen. Eine Fortsetzung von Büffons Naturgeschichte. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen versehen von Johann Matthäus Bechstein. Erster Band. Weimar: Industrie-Comptoir 1800, S. XXIIIf. Tauchen dann neue Farben oder neue Panzerbeschaffenheiten auf, die der Vergleich als unähnlich einstuft, dann schwillt das Buch ganz einfach um viele weitere Arten an; sichtbar ist das im „Anhang" des ersten Bandes, der fast so umfangreich ist wie der ‚eigentliche' Text. Lacépède: Naturgeschichte (Anm. 3), S. XXIVf. Wir haben es also mit einer rein deskriptiven, phänomenologischen Vorgehensweise zu tun, die nicht nur unökonomisch ist, sondern auch eine geringe Erklärungskraft besitzt. Schließlich bleibt das Verfahren ohne Regelmäßigkeitsannahmen ausgesprochen kontingent.

Das gilt ebenso für einen weiteren Naturhistoriker der Umbruchsphase, den Göttinger Reinhold Treviranus. Im Unterschied zu Lacépède hat Treviranus einen viel höheren Anspruch: Er will nicht nur ein Bestimmungssystem errichten, sondern ein kohärentes naturphilosophisches System vorlegen. Es soll die deskriptiven naturgeschichtlichen Einzeldisziplinen, Pflanzengeografie, Zoografie, Physiologie et cetera zu einer Metadisziplin vereinen, die Treviranus ‚Biologie' nennt. Doch auch er bleibt in den unendlichen Vergleichsmöglichkeiten des künstlichen Systems hängen. Im ersten Band seiner monumentalen Biologie (1802) liest man Folgendes über die Gattung der Fledermäuse:

[Sie gränzen] aber in ihrer übrigen Struktur mehr an die Affen und Hunde, als an die Nagethiere [...]. Sie haben, gleich dem Menschen und den Affen, ihre Brüste am Thorax, und, gleich den Hunden, starke und scharfe Zähne, nebst einem kleinen Magen und kurzen Darmcanale. Einigen Arten fehlen indeß die Schneidezähne, und Ein [sic] [...] Geschlecht (Galeopithecus) hat, gleich den Nagethieren, einen großen Blinddarm. Gottfried Reinhold Treviranus: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen: Röwer 1802, S. 195 f.

Man sieht, wie sich die Gattung mühsam herausschält aus dem Vergleich mit anderen Lebewesen und willkürlich gewählten Organen. Hier sind es Zähne, Magengröße, Blinddarm und Brustdrüsen; und aus diesen Comparanda ergeben sich, für uns überraschend, Ähnlichkeiten zu Affe, Hund und Mensch – anstatt zu anderen Nagetieren. Würde man hingegen andere Organe als Comparanda wählen, dann würde ganz einfach eine andere Systematik herauskommen. Schließlich lässt sich potenziell alles mit allem in Beziehung setzen und Treviranus exerziert das auch auf vielen hundert Seiten durch: Zähne, Haarkleid, Lage und Form der Extremitäten, Topografie der Thoraxorgane, Topografie der Abdominalorgane, Topografien und Struktur der Reproduktionsorgane. Das Spektrum möglicher Relationen wird dabei potenziell unendlich, da dem Vergleichen drei wesentliche Rahmenbedingungen noch nicht zugrunde liegen: erstens ein natürliches Konzept von Art, verstanden als Ansammlung gleichartiger Individuen, die von anderen, gleichartigen Individuen hervorgebracht wurden. Zweitens fehlt ein funktioneller Organismus-Begriff, der den Organismus als teleologischen Gesamtzusammenhang von Organen fasst, die aufeinander und auf die Umwelt des Lebewesens abgestimmt funktionieren. Und drittens fehlt, wie bereits angedeutet, der Faktor Zeit, der Arten einem dynamischen Entstehen und Vergehen unterwirft. Ohne die beiden Funktionskonzepte ‚Art' und ‚Organismus' (die wenig später aus der Paläontologie Georges Cuviers und Richard Owens hervorgehen) Vgl. Georges Cuvier: Recherches sur les ossements fossiles des quadrupèdes. Tome I-IV. Paris: Deterville 1812; Richard Owen: A History of British Fossil Reptiles. 4 Volumes. London: Cassell & Company 1849–1884; vgl. dazu Wolfgang Lefèvre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 165–183, 202–209. sind die morphologischen Comparanda jedenfalls nicht hierarchisierbar, sondern stehen nur irgendwie nebeneinander. So hoch also der naturphilosophische Anspruch bei Treviranus, so gering die Erklärungskraft auch seines taxonomischen Vergleichens. Die ganze Problematik dieser zeittypischen Praxis – Kontingenz, Unwirtschaftlichkeit, geringe Erklärungsleistung – bringt übrigens ein anatomisches Traktat aus dem Jahr 1795 auf den Punkt; Verfasser ist der ehrgeizige Autodidakt Johann Wolfgang von Goethe:

Man verglich die Tiere mit dem Menschen und die Tiere untereinander und so war bei vieler Arbeit immer nur etwas Einzelnes erzweckt und, durch diese vermehrten Einzelnheiten, jede Art von Überblick immer unmöglicher [...]. Da man nun auf solche Weise alle Tiere mit jedem, und jedes Tier mit allen vergleichen musste; so sieht man die Unmöglichkeit ein, je auf diesem Wege eine Vereinigung zu finden. Johann Wolfgang Goethe: Zoologie. Aus: Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie, Jena, im Januar 1795. In: J. W. G.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller. München: C. H. Beck 132002, S. 170–184, hier S. 172.

Goethes Antwort auf das komparative Chaos ist bekanntlich der Gedanke der gemeinsamen Ur-Baupläne; er liegt hier auf einer Linie mit den Anhängern Geoffroy St. Hilaires. Je nach externen Bedingungen können sich aus diesem Urbauplan ganz unterschiedliche Modifikationen, also Arten entwickeln – dies ist freilich noch nicht evolutionär, also ohne natural selection gedacht. Aber es bedeutet bereits Verzeitlichung und damit komme ich zu meiner nächsten Station.

2 Der Vergleich in der aktualistischen Geologie: eine reduktive Praxis

In den dreißiger Jahren wird die Naturforschung von verschiedenen Seiten her dynamisiert; unter anderem von der aktualistischen Geologie des Schotten Charles Lyell. Lyell ist im Gegensatz zu den Naturhistorikern der früheren Generationen selbst ununterbrochen auf Reisen, zunächst in Italien und Frankreich, später in der Schweiz, in Skandinavien und Nordamerika. Er sammelt dabei Unmengen empirischer Befunde, vor allem aus Gesteinsschichten und den darin enthaltenen Fossilien – und genau wie bei Alexander Humboldt lässt sich das ohne Vergleichen überhaupt nicht bewältigen.

Nun haben sich aber die Rahmenbedingungen des Artenvergleichs fundamental gewandelt; man trägt mittlerweile Erklärungsansprüche an ihn heran. Mit dem Vordringen transformistischer und epigenetischer Theorien hat die Erdgeschichte immer größere Bedeutung für die Naturforschung gewonnen, da sich hier Möglichkeiten auftun, die Artenvielfalt zu erklären und nicht wie bisher nur zu beschreiben. Dazu schien es lediglich erforderlich, die Perspektive auf die vielen, seit langem bekannten Fossilien etwas zu verändern; genauer gesagt, sie nicht mehr als singuläre Irrtümer der Natur oder als „Zeugnisse noch nicht entdeckter, rezenter Arten" anzusehen, Lefèvre: „Das Ende der Naturgeschichte" (Anm. 2), S. 33. sondern als systematische Naturphänomene, die nach bestimmten Prinzipien in bestimmten Gesteinsschichten eingelagert sind und sich ebenso systematisch miteinander vergleichen lassen. Damit wird für den Stratigrafen die Erdgeschichte ganz anders lesbar: nämlich als zeitliche Abfolge von Artensterben und Artenwandel, entweder in Sprüngen (Cuvier) oder in einem Kontinuum (Lyell). Das Konzept der dauerhaften Arten hat dabei weitgehend abgedankt, und der Vergleich von Arten und Merkmalen gewinnt massiv an Relevanz. Allerdings verändert er sich auf paradoxe Weise.

Einerseits dehnt sich nämlich sein Skopus gigantisch aus, er umfasst jetzt den ganzen Globus und die gesamte Tiefe der Zeit. Lyell vergleicht fast obsessiv fossile Arten aus allen möglichen Schichten, allen möglichen erdgeschichtlichen Perioden und allen Erdteilen miteinander – aus Großbritannien, Deutschland, Italien, Skandinavien, aus der alten und neuen Welt: „Miocene Shells and Corals in the Cliffs of the James River compared with Fossils of the European Craig and Falun", so lautet ein typischer Abschnitt aus dem Reisebericht Travels in North America (1845); ein anderer trägt die Überschrift „Species of Shells common to Eocene Strata in America and Europe". Charles Lyell: Travels in North America in the Years 1841–42; with Geological Observations on The United States, Canada, and Nova Scotia. Vol. I. New York: Wiley and Putnam 1845, „Contents of Volume I", S. V, S. 24 f. Und in den Elements of Geology (1838) ist von 42 Arten von „sponges, corals and other zoophytes" die Rede, die sowohl im dänischen wie auch im englischen Kalkstein zu finden seien. Charles Lyell: Elements of Geology. London: John Murray 1838, S. 325. Füllen solche diachronen und synchronen Fossilienvergleiche, die vom ‚Eozän' bis zum ‚Miozän' und weit darüber hinausreichen, sowohl die Elements of Geology als auch den Reisebericht über hunderte von Seiten, so macht Lyells obsessive Vergleichspraxis auch vor den rezenten Arten nicht Halt. Küstenmuscheln in Massachusetts und in England, Grashüpfer in Boston und Italien, Glühwürmchen in Amerika und Europa, Farne in England und Kanada und viele weitere Spezies werden miteinander in Beziehung gesetzt und zu einem globalen Netz an Relationen verwoben, das die ähnliche Artenverteilung in der alten und neuen Welt belegen soll. Vgl. Lyell: Travels in North America (Anm. 9), S. 5 f., 11, 68.

Andererseits reduziert sich dabei aber das Spektrum der Comparanda erheblich, was im auffallenden Gegensatz zur gewaltigen, räumlichen und zeitlichen Ausdehnung steht. Von der ‚großen Anzahl an Vergleichspunkten' des Conte de Lacépède kann keine Rede mehr sein, sodass Ausdehnung und Kriterienreduktion gewissermaßen quer zueinander stehen. Nehmen wir wieder das Beispiel ‚Schildkröte':

We caught one of these (‚Testudo picta'), which has a gaily coloured shell [...] and turned it out, to see weather, as I was told, it would know its way back to lake Ontario. [...] It made directly for a ravine, in the bottom of which was a stream [...] and this would carry it to its native lake. [...] There is a fresh-water tortoise in Europe (‚Terrapena Europa'), found in Hungary, Prussia and Silesia, as far north as lat. 50° to 52°. It also occurs near Bordeaux, and in the north of Italy, 44° and 45° N. lat., which precisely corresponds with the latitude of Lake Ontario. Lyell: Travels in North America (Anm. 9), S. 19 f.

Mit Blick auf Lacépède könnte der Artenvergleich kaum unterschiedlicher ausfallen. Offensichtlich interessieren hier als Comparanda nur noch äquivalente Lebensweisen in äquivalenten klimatischen Koordinaten und nicht mehr irgendwelche Panzerfarben, Panzertexturen, Schwanzlängen oder Schnabelkonfigurationen. Lyell kann natürlich bereits auf einem weitgehend natürlichen Artenbegriff aufbauen, und er kann sich deshalb auch ein viel höheres Erkenntnisziel stecken: nämlich eine Universalerklärung, wie sich alle fossilen und alle rezenten Arten auf der ganzen Erde verteilt haben. Vgl. dazu James Secord: Visions of Science. Books and readers at the dawn of the Victorian age. Oxford: Oxford University Press 2014, S. 138–173 (Kap. „A Philosophy for a New Science: Charles Lyell's ‚Principles of Geology'"), besonders S. 145–152. Die epistemologischen Ansprüche an den Vergleich haben demnach extrem zugenommen, und entsprechend ausgeprägt sind nun die Regelmäßigkeitsannahmen, die ihm zugrunde liegen. Man sieht das besonders dann, wenn morphologische Merkmale als Comparanda fungieren; das sind dann nämlich nicht mehr irgendwelche, sondern nur noch solche, die ein Kontinuum zwischen fossilen und rezenten Arten nahelegen können. Auf diesen beiden Bildern beispielsweise wird das Kontinuum zwischen Hypobus, einem fossilen, haiartigen Knorpelfisch, und einer rezenten Gattung – Chimera monstrosa beziehungsweise Seekatze – über den konstanten Stachel in der Rückenflosse hergestellt:

Graph: graphic/iasl-2020-0014_fig_001.jpg

Graph: Abb. 1 und Abb. 2 Charles Lyell: Elements of Geology. London: John Murray 1838, S. 389 f.

Blickt man auf diesen Flossenstachel, der die Tiefe der erdgeschichtlichen Zeit zu überbrücken vermag, scheint die Idee der morphologischen Homologie, also der gleichwertigen strukturellen Position mit Bezug auf einen typologischen Bauplan (oder auf die embryonale Entwicklung im Organismus), bereits präsent zu sein. Eingeführt wird das Konzept der Homologie erst drei Jahre später von Richard Owen: On the Archetype and Homologies of the Vertebrate Skeleton. London: R. and J. E. Taylor 1848. Insofern steuern auch nicht mehr viele beliebige, sondern einzelne, ausgewählte Merkmale die Vergleichspraxis; bei Lyell fällt sie sogar reduktiv, nicht nur restriktiv aus. Das muss auch nicht wundernehmen, da der Geologe eine ziemlich steile Hypothese verfolgt: Seiner Meinung nach sind kontinuierliche, langsam formende Erosionskräfte für Artenuntergang und Neuentstehung verantwortlich und nicht punktuelle, erdgeschichtliche Großereignisse. Mehr noch: Diese Kräfte sind auch in der Gegenwart dauerhaft am Werk – Wind und Regenerosionen, Überschwemmungen, Wasserfälle, Sedimentationen, Deltaformationen, Ketten von kleinen Erdbeben. Insofern kann es keine urgeschichtliche Artenentwicklung in irgendeine Richtung geben, kein Reptilienzeitalter, keine Höherentwicklung zum Menschen und schon gar keine Katastrophen à la Cuvier, die plötzlich alles leerfegen. Stattdessen denkt Lyell einen quasi ahistorischen, zyklischen Gleichgewichtszustand, der immer und überall auf dem Globus äquivalente Arten dort entstehen lässt, wo entsprechende, meteorologische Kräfte wirken; er nennt sie ‚foci of creation'. Vgl. Lefèvre: Entstehung der biologischen Evolutionstheorie (Anm. 6), S. 152 f., 179 f. So steil die Hypothese, so selektiv die Vergleichspraxis – zumal die Abfolge der Fossilienschichten in den Gesteinsschichten eigentlich in eine ganz andere Richtung weist, nämlich zur Höherentwicklung. Insofern muss der Artenvergleich also einerseits diese universelle Reichweite haben, andererseits starke Regelmäßigkeitsannahmen enthalten:

The resemblance of the corals, shells, and insects of certain temperate regions of the southern hemisphere (Van Dieman's Land, for example), to those of the temperate zone north of the equator, or the close analogy of the arctic and the Antarctic fauna [...] are illustrations of the common type here alluded to, which is evidently caused or controlled by some general law, and by some mutual relation existing between the animate creation and the state of the habitable surface at any given period. Lyell: Travels in North America (Anm. 9), S. 65.

Lyells Ziel sind hoch abstrakte Prinzipien, die die Vergleichspraxis nolens volens deterministisch ausfallen lassen: Es geht um allgemeine morphologische Typen und um ein ‚allgemeines Gesetz', das die gesamte Fülle der Lebensformen und ihre Verteilung erklären soll; es ist der Gedanke der immer gleich wirksamen Kräfte. Dieser Aktualismus, der als Vorannahme wie als Erkenntnisgewinn Lyells Schriften durchzieht, wurde zur fixen Idee und erntete schon bei den Zeitgenossen Skepsis, gelegentlich sogar Spott. Seine Theorie laufe darauf hinaus, so unterstellte man ihm, dass auch die Dinosaurier jederzeit wiederauftauchen könnten; eine zeitgenössische Lyell-Karikatur zeigt einen „Professor Ichythysaurus" inmitten von anderen Sauriern bei der Vorlesung. Secord: Visions of Science (Anm. 13), S. 150.

Was den Artenvergleich betrifft, so gerät dieser jedenfalls in ein deduktives Räderwerk, das im wahrsten Sinne des Wortes zirkulär funktioniert: Die Vorannahme einer vergleichbaren Artenverteilung wird durch exzessives Vergleichen von Arten und Merkmalen belegt. Der Vergleich als solcher erfährt dabei einen nahezu diametralen Wandel: von der kontingenten, quasi unlimitierten Praxis mit deskriptivem Anspruch zur regelgeleiteten, reduktiven Praxis mit maximalem Erklärungsanspruch.

Man sieht, dass die Entwicklung von der Naturgeschichte zu den Lebenswissenschaften durch relativ starke integrative Tendenzen gekennzeichnet ist. Die vielen deskriptiven Projekte der alten Naturgeschichte – Pflanzengeografie, Zoografie, Geognosie – schmelzen langsam zu einer integrativen Disziplin namens Biologie zusammen. Und aus den vielen arbiträren Ordnungsversuchen werden Kausalerklärungen des Natürlichen. Last, not least verschwindet die strenge Trennung zwischen deskriptiven und systematischen Disziplinen; und zwar in dem Moment, als ihr Bindeglied zur Leitwissenschaft aufsteigt: die vergleichende Anatomie. Zur Leitfunktion der vergleichenden Anatomie vgl. Lefèvre: Entstehung der biologischen Evolutionstheorie (Anm. 6), S. 202–207. Das passiert in den dreißiger und vierziger Jahren, und damit bin ich bei meiner dritten Station.

3 Vergleichende Anatomie als Leitwissenschaft: Johannes Müllers Archiv

Was bedeutet komparative Anatomie als Leitwissenschaft? Es bedeutet zunächst, dass man auf einem funktionellen Organismus-Begriff aufbauen kann, der sich seit Cuviers epochalen Schriften, vor allem der Leçons d'anatomie comparée (1798–1805), umfassend durchgesetzt hat. „[D]enn es ist einleuchtend, dass eine gewisse Harmonie unter den aufeinander wirkenden Organen eine nothwendige Bedingung der Existenz des Wesens ist, dem sie angehören, und dass dieses Wesen nicht mehr existieren konnte, wenn eine seiner Verrichtungen eine Abänderung erlitte, welche mit den Abänderungen aller übrigen nicht verträglich wäre". Georges Cuvier: Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Erster Theil, welcher die Organe der Bewegung enthält. Uebersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen vermehrt von L. H. Froriep und von L. F. Meckel. Leipzig: Kummer 1809, S. 39. Vgl. Tobias Cheung: Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant. Frankfurt/M./New York: Campus 2000, S. 17–40. Daraus erwächst ein immer größeres Interesse an den Funktionen einzelner Organe – und nicht wie bisher nur an osteologischen Bauplänen – und so kommt es zum Schulterschluss zwischen vergleichender Anatomie, Physiologie und Embryologie. Komparative Anatomie als Leitwissenschaft bedeutet aber auch, dass man mittlerweile über ein integratives Leitmedium verfügt, in dem sich dieser Schulterschluss öffentlich vollzieht: die legendäre Zeitschrift Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin (1834–1876) des Berliner Naturforschers Johannes Müller. Zum hegemonialen Status von Müllers Archiv vgl. Emil du Bois-Reymond: Gedächtnisrede auf Johannes Müller. Aus den Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1859. Berlin: Buchdruckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften 1860, S. 67. Müller selbst ist vergleichender Anatom, Physiologe und Zoologe und steht insofern fast metonymisch für die skizzierten Integrationstendenzen. Tatsächlich bringt er in seiner Zeitschrift Erstaunliches unter einen Hut: die „vergleichende Anatomie des Gehirns der Grätenfische", die „Blutkörperchen bei Regenwürmern, Blutegeln und Dipteren-Larven", „die Gehörzähne [...] in der Schnecke des Vogelohres", „das Nervenhalsband einiger Mollusken" sowie die „Haut des Menschen und der Haus-Säugethiere" – so zu lesen im Inhaltsverzeichnis des zweiten Jahrgangs, 1835. Carl Moritz Gottsche: Die vergleichende Anatomie des Gehirns der Grätenfische; Rudolph Wagner: Ueber Blutkörperchen bei Regenwürmern, Blutegeln und Dipteren-Larven; Emil Huschke: Ueber die Gehörzähne, einen eigenthümlichen Apparat in der Schnecke des Vogelohres; Arnold Adolph Berthold: Ueber das Nervenhalsband einiger Mollusken; Ernst Friedrich Gurlt: Vergleichende Untersuchungen über die Haut des Menschen und der Haus-Säugethiere, besonders in Beziehung auf die Absonderungsorgane des Haut-Talges und des Schweißes. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medizin. 1835, S. IV. Ganz offensichtlich zielt das Vergleichen in Müllers Archiv nicht mehr auf eine allgemeine Ordnung der Arten oder gar auf eine Universalerklärung, wie noch Lyell sie fast gleichzeitig sucht, sondern vielmehr auf irrwitzige anatomische und physiologische Details: auf die Blutkörperchen bei verschiedenen Würmern, auf die Nerven bei verschiedenen Mollusken, auf die Schweißdrüsen in der Haut des Menschen und derjenigen der Haustiere. Die vergleichende Anatomie als Wissenschaft von den Lage- und Funktionsbeziehungen der Organe ist so weit fortgeschritten, dass der Vergleich nun den Höhepunkt seiner epistemologischen Leistung erreicht. Die neuen Naturwissenschaftler sezieren, präparieren, vivisezieren, messen und vergleichen wie wild: Organe und Organsysteme von verwandten Spezies, Organe von höheren und niedrigeren Gattungen, Organe von Embryonen und adulten Lebewesen, Organe von lebenden und toten Organismen. Vgl. Martina King: „Ich habe im Sommer des Jahres 1838 eine Reihe von Beobachtungen angestellt": Natur-wissenschaftliches Erzählen im frühen 19. Jahrhundert. In: DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 6/1 (Juni 2017), S. 20–44, hier S. 24 f.: https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/view/261 (letzter Zugriff am 15. Juli 2020).

Dabei fällt der Vergleich keineswegs kontingent und beliebig aus, sondern hat vielmehr ein hohes Maß an Zielgerichtetheit und Kausalität erreicht – sowie eine fast groteske Kleinteiligkeit. In den Aufsätzen des Berliner Tieranatomen Ernst Friedrich Gurlt Gurlt ist in den Dreißigerjahren Professor für Tieranatomie in Berlin, Direktor der Tierarzneischule und Verfasser des Handbuchs der vergleichenden Anatomie der Haus-Säugethiere (1822). Vgl. Joachim Boessneck: Ernst Friedrich Gurlt. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Bd. 7. Berlin: Duncker & Humblot 1966, S. 331 f. beispielsweise, der die Haut von Mensch und Haustieren vergleicht, finden sich folgende Comparanda: die mikroskopische Follikelstruktur der Tasthaare und Deckhaare bei Pferd und Rind, Vgl. Ernst Friedrich Gurlt: Untersuchungen über die hornigen Gebilde des Menschen und der Haussäugethiere. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medizin 1836, S. 262–278, hier S. 274 f. die Substanzen „Stearin" und „Elain" im Unterhaut-Fettgewebe bei Mensch und Haustieren sowie die mikroskopische Feinstruktur der „Ausführungsgänge der Schweißdrüsen" beim Mensch, Pferd, Rind, Hund. Ernst Friedrich Gurlt: Vergleichende Untersuchungen über die Haut des Menschen und der Haus-Säugethiere, besonders in Beziehung auf die Absonderungsorgane des Haut-Talges und des Schweißes. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medizin 1835, S. 399–418, hier S. 409, 415 f. Es ist doch ein ganz schön weiter Weg von den Farben der Schildkröten zur Feinstruktur der Ausführungsgänge mikroskopischer Schweißdrüsen, er wurde in nur 50 Jahren zurückgelegt.

Freilich ließe sich jetzt einwenden, dass es sich hier um eine ganz andere vergleichende Naturforschung handelt; um eine physiologische Morphologie oder morphologische Physiologie, die mit den klassifikatorischen Disziplinen überhaupt nichts mehr zu tun hat, da Letztere an Reisen, Beobachten und Sammeln geknüpft sind. Das trifft aber nicht zu, da die vergleichende Anatomie in Müllers hegemonialer Zeitschrift selbst ein hegemoniales Unternehmen ist und gewissermaßen mit allem etwas zu tun hat. Anders gesagt hat sie den Anspruch, in einer Naturforschung, die am Ausgangspunkt der eigenen Systemdifferenzierung in vergleichende Morphologie, experimentelle Physiologie, Embryologie, Pathologie und Zoologie steht, Als signifikant für diesen Ausdifferenzierungsprozess kann die Aufteilung des Müller-Lehrstuhls für Anatomie, Physiologie und allgemeine Pathologie nach dessen Tod 1858 in drei Professuren gesehen werden: Anatomie (Karl Bogislaus Reichert), Physiologie (Emil DuBois-Reymond) und Pathologie (Rudolph Virchow). Vgl. dazu Volker Hess: Medizin zwischen Sammeln und Experimentieren. In: Rüdiger vom Bruch/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität zu Berlin, 1810–2010. Biographie einer Institution, Praxis ihrer Disziplinen. Berlin: Universitätsverlag 2010, S. 489–565, hier S. 521. überall mitzureden; auch und besonders dann, wenn neue Arten in ein natürliches System eingeordnet werden sollen. Ein Aufsatz Müllers von 1842 beispielsweise behandelt einen seltenen südamerikanischen Höhlenvogel, den sogenannten Fettschwalm oder Steatornis caripensis. Allerdings geht es in dem Aufsatz nicht nur um den Vogel, sondern auch um Humboldt und um taxonomische Konkurrenzen. Humboldt hat nämlich, wie so oft, die Spezies entdeckt, konnte aber in diesem Fall keine befriedigende Bestimmung liefern, zumal das versandte Exemplar bei einem Schiffbruch abhandengekommen war. Hier kann nun die vergleichende Anatomie fast ein bisschen hämisch anknüpfen. Müller, der weniger umherreist, Die vergleichsweise geringe Reisetätigkeit Müllers steht im Kontext seiner Plankton-Forschungen und führt ihn an europäische Küsten, zum Beispiel 1841 nach Schweden, 1842 nach Neapel, 1842 nach Helgoland, 1849 nach Nizza, 1854 nach Messina und 1855 nach Norwegen (inklusive traumatischem Schiffbruch); vgl. Johannes Müller an Andreas Retzius, Berlin, 21.10.1841; Berlin, 15.12.1842; 16.12.1847; Berlin, 4.1.1854. In: Johannes Müller: Briefe an Anders Retzius, von dem Jahre 1830 bis 1857. Hg. von Gustav Retzius. Stockholm: Aftonbladets Aktiebolags 1900, S. 33–35; 42–44; 57–58; 71–73; vgl. auch du Bois-Reymond: Gedächtnisrede auf Johannes Müller (Anm. 20), S. 119–121. Müllers Briefe an Retzius zeigen, dass Müller im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Naturforschern kein leidenschaftlicher Reisender war und immer wieder nach Gründen für Aufschübe und Verzögerungen – zum Beispiel lokale Cholera-Ausbrüche – suchte. stattdessen in seinem Berliner Institut und der daran angeschlossenen anatomischen Sammlung unentwegt morphologische Strukturen präpariert und katalogisiert, macht sich akribisch an die Vergleichung homologer Organe des Fettschwalms mit denen verwandter Vogelgattungen: Oberkiefer und Schnabel, Kehlkopf und Singmuskelapparat, Verlauf der Carotis und so weiter. Schließlich kann er das liefern, was Humboldt zwar vermuten, aber nicht belegen konnte:

Die Anatomie bestätigt, was Hr. v. Humboldt gleich anfangs über die nur theilweisen Beziehungen der Steatornis zu den Caprimulgus mitgetheilt, und ich glaube, dass Steatornis zwar auffallend genug von dem Caprimulgus, Aegotheles, Nyctornis, Podargus verschieden sei, jedoch mit ihnen und der Gattung Cypselus zu derselben Familie der Caprimulginen zu rechnen sei. Diese Familie gehört dann mit mehreren andern ohne zusammengesetzten Singmuskelapparat, den Todidae, Cuculinae, zu einer grössern, von den Singvögeln getrennten Abtheilung, wie sie Nitzsch ehemals ordnete, der jedoch nicht die Cypselus zu den Caprimulginen bachte. Johannes Müller: Anatomische Bemerkungen über den Quacharo, Steatornis caripensis v. Humb. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medizin 1842, S. 1–12, hier S. 9. Die Verwandtschaft zu den Nachtschwalben und die gemeinsame Zugehörigkeit zur Ordnung der Caprimulgiformen trifft übrigens nach heutiger Taxonomie zu; vgl. David Thomas Holyoak: Oilbird. In: D. T.: Nightjars and their Allies: The Caprimulgiformes. Oxford: Oxford University Press 2001, S. 95–102.

Die vergleichende Anatomie ist hier in der Lage, die unvollständigen Beiträge Humboldts (und anderer Forscher) zu bestätigen und durch derartige taxonomische Klimmzüge zwischen ‚Caprimulgus', ‚Cypselus', ‚Podargus' und ‚Todidae' zu überbieten, dass selbst der nachfolgenden, Morphologie-skeptischen Forscher-Generation noch Bewunderung abgerungen wird; Emil du Bois-Reymond berichtet in seiner werkbiografischen ‚Gedächtnisrede' relativ ausführlich von Müllers Arbeit zum Fettschwalm, obwohl er ansonsten stets bemüht ist, Müller retrospektiv zu einem – von verderblicher Naturphilosophie gereinigten – Physiologen zu vereinseitigen und der vergleichenden Morphologie den Status einer Hilfswissenschaft zuzuweisen: „Herrn von Humboldt's Exemplare waren mit einem Theile von dessen Sammlungen durch Schiffbruch an der afrikanischen Küste zu Grunde gegangen, und da bis 1834 kein neues Exemplar nach Europa kam, hatte Cuvier [...] in seinem ‚Règne animal' des ‚Steatornis' nicht erwähnt. Jetzt erhielt Hr. von Humboldt [...] Exemplare seines Vogels zugeschickt, die Müller beschrieb, wobei er Hrn. von Humboldt's Ausspruch bestätigen konnte, daß ‚Steatornis caripensis' sich von den Ziegenmelkern, denen er beim ersten Anblick nah verwandt scheint, ansehnlich entfernt. Unter anderem bietet er das nahezu einzige Beispiel eines doppelten Kehlkopfes dar, indem, statt der Luftröhre selber, jeder Bronchus einen solchen besitzt". Du Bois-Reymond: Gedächtnisrede auf Johannes Müller (Anm. 20), S. 112. und dieser ambivalente Gestus dem großen Naturforscher gegenüber ist sehr kennzeichnend für das Selbstbewusstsein der vergleichenden Anatomen ab den Dreißigerjahren. Humboldt ist natürlich der absolute Bezugspunkt, aber auch ein alternder Monolith, den es zu überwinden gilt. Grundsätzlich gilt es, die deskriptive Tradition zu überwinden und dafür muss der morphologische Vergleich auf eine bisher nicht dagewesene Weise technisch aufrüsten. Im ‚Anatomischen Jahresbericht' des Archivs berichtet Müller 1837 beispielsweise über neue Erkenntnisse zur komparativen Anatomie des Augenhintergrundes, und man staunt, was er hier alles miteinander verglichen hat:

Seitdem habe ich bei erneuerten Untersuchungen in den Augen junger Schweine und Schweinsfoetus, beim Kalbsfoetus, bei einem Affen und endlich auch bei erwachsenen Menschen, ausser der Membrana pigmenti, noch ein zartes, weissliches, halbdurchsichtiges Häutchen zwischen Membrana pigmenti und Retina gesehen, welches ich für der letzteren angehörig, für ihr äusseres Blatt halten muss [...]. Johannes Müller: Jahresbericht über die Fortschritte der anatomisch-physiologischen Wissenschaften im Jahre 1836. 1. Menschliche Anatomie. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medizin 1837, S. I–XLVI, hier S. XXXIV.

Vergleichsgegenstände wie die verschiedenen Membranen, die zusammengenommen die Feinstruktur der Retina ergeben, setzen mittlerweile nicht nur elaborierte morphologische Kenntnisse voraus, sondern noch elaboriertere Technologien: Färbe- und Konservierungsverfahren, Feinschnitttechniken, Messgeräte, und natürlich wesentlich verbesserte doppellinsige Mikroskope. Eigentlich ist die vergleichende Anatomie an ihrem eigenen Zenit eine vergleichende mikroskopische Anatomie. In dem zitierten Aufsatz des Tieranatomen Gurlt beispielsweise werden nicht nur simple Hautlamellen von Mensch und Pferd verglichen, sondern die Follikelstruktur in der behaarten Haut des Pferdes und in der unbehaarten Haut seiner Geschlechtsteile. Dafür präsentiert der Aufsatz – wie viele Beiträge in Müllers Archiv – technisch fortschrittliche Zeichnungen von mikroskopischen Strukturen:

Graph: Abb. 3 Talg- und Schweißdrüse von der Haut der Geschlechtstheile des Pferdes (Fig. 5), Eine Lamelle von der Kopfhaut des Menschen (Fig. 2), Eine Lamelle der behaarten Haut des Pferdes (Fig. 6). In: Ernst Friedrich Gurlt: Vergleichende Untersuchungen über die Haut des Menschen und der Haus-Säugethiere, besonders in Beziehung auf die Absonderungsorgane des Haut-Talges und des Schweißes. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medizin 1835, S. 399–418, Abbildungsteil, Tafel IX (ab S. 618, ohne Seitenangaben), Legende S. 418.

Der alte morphologische Merkmalsvergleich geht demnach eine intime Verbindung mit einer ganz neuen epistemischen Praxis ein: mit dem technologischen Experiment. Das erweitert ihn in die bisher unzugänglichen Bereiche des Unsichtbaren und scheint unter anderem für seinen immensen Geltungszuwachs verantwortlich zu sein. Vgl. Hess: Medizin zwischen Sammeln und Experimentieren (Anm. 26), S. 509, 518. Das epistemologische Ziel solcher Vergleiche in Experimenten ist zwar immer noch eine allgemeine Gesetzmäßigkeit. Es geht aber nicht mehr darum, das Ganze zu erklären – den ganzen Organismus, das Ganze der Natur, das Ganze aller Arten oder das Ganze der Pathologie. Vielmehr geht es um die Erklärung jener kleinsten physiologischen Funktionseinheiten beziehungsweise organischen Ursache-Wirk-Zusammenhänge, die Ohad Parnes in einem bemerkenswerten Aufsatz zu Theodor Schwann als „Agenten" bezeichnet. Unter einem ‚Agens' in der Vorstellungswelt Schwanns, der von 1835 bis 1838 in Johannes Müllers Institut arbeitete und bahnbrechende Entdeckungen machte, haben wir uns laut Ohad Parnes „eine spezifisch strukturierte, materielle Einheit" vorzustellen, „die in der Lage ist, bestimmte Vorgänge hervorzurufen"; siehe Ohad Parnes: Vom Prinzip zum Begriff. Theodor Schwann und die Entdeckung der Zelle (1835–1838). In: Ernst Müller/Falko Schmieder (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Berlin: de Gruyter 2009, S. 27–51, hier S. 33.

Damit sind wir an einem Punkt angelangt, wo man mit gutem Grund das Auseinanderdriften zweier Kulturen konstatieren kann – einer szientifischen und einer ästhetisch-philosophischen. Die Wissensproduktion in der Naturforschung läuft nicht mehr vorrangig empirisch-beobachtend ab und das Natur-Erkennen verliert seinen hermeneutischen Charakter, da an die Stelle des Lesens von Gesteinsschichten und von gelehrten Traditionen der experimentelle Beweis gerückt ist; vor allem in der nächsten Wissenschaftler-Generation der ‚organischen Physiker' wird er sich zur epistemologischen via regia weiterentwickeln. Mit Blick auf die viel geschmähte und doch kaum zu negierende Trennungsgeschichte wird es an diesem Punkt spannend: Gerade im Moment der Ablösung lässt sich die Frage nach neuen, sekundären Vermittlungsformen und Vernetzungen zwischen Naturwissenschaft und Kultur stellen; und wiederum erweist sich die vergleichende Anatomie als hegemoniales Projekt von immenser, kulturübergreifender Reichweite. Mit anderen Worten fungiert sie nicht nur als integrative Wissenschaftsdisziplin, sondern darüber hinaus als interdiskursive Kontaktzone, in der die beiden Kulturen, die sich eben voneinander scheiden, sekundär wieder miteinander in Berührung kommen.

4 Die vergleichende Anatomie als Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und Literatur: literar...

In den Dreißiger- und Vierzigerjahren entsteht eine neue, paneuropäische Populärkultur, die Naturwissenschaft und Literatur übergreift. Zunächst wandelt sich eine bislang elitäre Poesie in jene pluralistische ‚Litteratur', die die vielen Zeitschriften des explodierenden Presse-Marktes anfüllt und ihrerseits eine neue lesende Öffentlichkeit hervorbringt. Eine ähnliche Popularisierungswelle erfasst die vergleichende Naturforschung: In neu gegründeten Zoos, Museen, naturhistorischen Sammlungen und öffentlichen Vorführungen, in Penny-Enzyklopädien und learned societies wird Letztere allgemein zugänglich. Vgl. Aileen Fyfe/Bernard Lightman (Hg.): Science in the Marketplace: Nineteenth-Century Sites and Experiences. Chicago: University of Chicago Press 2007. Dass man exotische und heimische Tiere vergleichen kann – das ist nun nicht mehr allein Sache der Experten. Es wird den flanierenden Parisern, Londonern und Berlinern beim Sonntagnachmittag-Spaziergang entlang der Gehege buchstäblich ans Herz gelegt. Vgl. Eric Baratay/Elisabeth Hardouin-Fugier: Zoo. A History of Zoological Gardens in the West. London: University of Chicago Press 2002, S. 167–199. Diese parallele Popularisierung zweier Kulturen, die sich gerade scheiden, ist eine wichtige Voraussetzung für neue, bemerkenswerte Annäherungen. Allgemein bekannt sind die neuen, literarischen Kurzprosaformen, die zum erweiterten Literaturbegriff des 19. Jahrhunderts gehören, etwa Reisefeuilletons, ‚Briefe aus Paris', humoristische Skizzen beziehungsweise Sketches; das Spektrum dieser essayistischen Genres reicht von den Jungdeutschen bis zu Charles Dickens. Nun gibt es in der neuen Skizzenliteratur eine bemerkenswerte Untergattung: die sogenannten sozialen Physiologien oder Naturgeschichten. Das sind satirische Texte, die unter entsprechenden, naturalistischen Genrebezeichnungen publiziert werden und soziale Typologien, gesellschaftliche Panoramen und Sittenbilder nach dem Modell der zeitgenössischen, vergleichenden Zoologie entwerfen. Vgl. Martina Lauster: Sketches of the Nineteenth Century: European Journals and its Physiologies, 1830–1850. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007, S. 85–129. Beispiele sind Ludwig Börnes Monographie der deutschen Postschnecke. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Mollusken und Testaceen (1821), Karl Gutzkows Philister-Satire Naturgeschichte der deutschen Kameele (1835); ferner die humoristischen Zoografien des britischen Publizisten Albert Smith: The Natural History of the Ballett Girl (1847) und The Natural History of the Flirt (1848). Ein einzigartiges Medienphänomen stellen in diesem Zusammenhang die sogenannten Physiologies Parisiennes dar: Es handelt es sich um 120 seriell erscheinende Billigbändchen in Taschenformat mit Text-Bild-Arrangements, die zwischen 1840 und 1842 den Pariser Buchmarkt überschwemmen und auf die Gesamtheit sozialer Stereotype abzielen; unter den beteiligten Künstlern finden sich unter anderen Honoré de Balzac und Honoré Daumier. An diesem eigentümlich kurzlebigen Massenphänomen sind mehrere Verlage und viele Künstler beteiligt, die Auflagenhöhe der zu einem Franc erhältlichen Bändchen reichte bis zu 500.000; erfolgreiche Verleger von Physiologies waren unter anderem die Publizisten Huart, Aubert und Lavigne. Dass auch hier ein groß angelegtes Netz an vergleichenden Relationen in naturalistischer Manier gesponnen wird, legt schon der einheitliche Titel Physiologies Parisiennes und der einheitliche emblematische Titel-Aufbau nahe: In der Gesamtheit bilden diese Billigbändchen zu einem Franc eine vollständige klassifikatorische Ordnung all jener Typen, aus denen sich die französische Gesellschaft zusammensetzt; vgl. dazu Lauster: Sketches of the Nineteenth Century (Anm. 35), S. 285–307. Die Forschung schreibt diesen sozialen Zoografien durchaus eine epistemologische Dimension zu – nämlich Übungen in früher Soziologie. Vgl. Lauster: Sketches of the Nineteenth Century (Anm. 35), S. 292.

Inwiefern sind nun diese ‚Anatomien des Sozialen' tatsächlich von der vergleichenden, klassifikatorischen Anatomie angeleitet und nicht nur irgendwie von der Naturforschung? Erste Hinweise finden sich in den berühmten Sketches of Young Ladies des jungen britischen Satirikers und späteren Hymnendichters Edward Caswall (Pseudonym ‚Quiz') von 1837. Der vollständige Titel Sketches of young ladies in which these interesting members of the animal kingdom are classified according to their several instincts, habits, and general characteristics [Edward Caswall] Quiz: Sketches of young ladies in which these interesting members of the animal kingdom are classified according to their several instincts, habits, and general characteristics. With six illustrations by ‚Phiz'. London: Chapman and Hall 1837. benennt bereits das Vorhaben genau: Es geht um eine Taxonomie weiblicher Stereotype nach dem Modell der Zoologie. Ziel ist es, „to discover, in the youthful fair, certain latent characteristics, under which all the young ladies of this age and country might be classed, without describing each in particular". Quiz: Sketches of young ladies (Anm. 38), S. IVf. Dafür werden dann artspezifische Merkmale verglichen, etwa „their bonnets, gloves, shawls, and other equally interesting portions of dress", ferner Sitten, Bildung und Sexualverhalten – also wie in der vergleichenden Anatomie morphologische Charakteristika und Verhaltensweisen; man habe, fügt der Autor noch hinzu, vergeblich mehr als zehn Jahre darauf gewartet, „that [...] this philosophical theme being taken up by Cuvier, Dr. Lardner or Mrs. Somerville". Quiz: Sketches of young ladies (Anm. 38), S. IV. In solch vergnüglichen Klassifikationen konnten sich die flanierenden Damen, die im Zoo exotische Arten bestaunten, dann selbst als exotische oder eher heimische Art wiederfinden. Das funktionierte umso besser, als exotische Lebewesen wie die erste Giraffe im Jardin de plantes in der Lage waren, regelrechte Modewellen auszulösen; Vgl. Martina King: Naturforschung in Lukka: Ein vergessener Empirisierungsschub in der jungdeutschen Reiseliteratur. In: Philip Ajouri/Benjamin Specht (Hg.): Empirisierung des Transzendentalen. Erkenntnisbedingungen in Wissenschaft und Kunst 1850–1920. Göttingen: Wallstein 2019, S. 29–67, hier S. 52–55; Michael Allin: Zarafa. A Giraffe's True Story, from Deep in Africa to the Heart of Paris. New York: Walker 1998; Heather Sharkey: La Belle Africaine. The Sudanese Giraffe Who Went to France. In: Canadian Journal of African Studies/Revue canadienne des études africaines 49/1 (2015), S. 39–65. insofern wurden die Damen der ehrgeizigen Mittelschichten ohnehin der Tierwelt angenähert.

Weiterhin erhellt die große Bedeutung der vergleichenden Anatomie für diese satirisch-soziografische Literatur aus dem oben genannten Büchlein Naturgeschichte des Flirts von Albert Smith. Die koketten, hübschen Mädchen der bürgerlichen Schicht erscheinen hier als ein natürliches Taxon, puella excellens, das durch den Vergleich mit einem ebenso exzellenten, hübschen und ebenso unsteten Fisch – dem real existierenden chatodon vagabundus (Vagabund-Falterfisch) – nach allen Regeln der Klassifikation erstellt wird: nämlich nach den hierarchischen Kriterien von ‚Klasse', ‚Ordnung', ‚Species' und ‚Genus':

Graph: graphic/iasl-2020-0014_fig_004.jpg

Graph: Abb. 4 und Abb. 5 Albert Smith: The Natural History of the Flirt. London: D. Bogue 1848, S. 16 f.

Schließlich kommt die Relevanz der vergleichenden Anatomie für die neue Feuilletonistik nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in jenem Text, der ihre deutschsprachige Tradition begründet – in Heinrich Heines Harzreise. Er habe „vergleichende Anatomie gehört" und „die seltensten Werke auf der Bibliothek excerpirt", bekennt der Ich-Erzähler eingangs im Kummer über die allzu großen Füße der Göttingerinnen. Weiter heißt es:

[Und] in der grundgelehrten Abhandlung, so die Resultate dieser Studien enthalten wird, spreche ich 1. von den Füßen überhaupt, 2. von den Füßen bey den Alten, 3. von den Füßen der Elephanten, 4. von den Füßen der Göttingerinnen [...], 6. betrachte ich diese Füße in ihrem Zusammenhang, und verbreite mich bey dieser Gelegenheit auch über Waden, Knie etc. Heinrich Heine: Die Harzreise (1824). In: Düsseldorfer Heine-Ausgabe. Bd. 6: Briefe aus Berlin; Über Polen; Reisebilder I/II. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 81–138, hier S. 84 f.

Wir haben gesehen, dass es um 1830 gar nicht so unüblich ist, homologe Organe aller möglichen Spezies miteinander zu vergleichen. Insofern stellt sich der berühmte Fußvergleich nicht nur als Seitenhieb auf die plumpen Göttingerinnen, sondern ebenso auf die zeitgenössische Leitwissenschaft und ihren Irrwitz dar, der bis zum Vergleich verschiedener Retina-Membranen bei Schweinsfoeten, Affen und Menschen reicht. Heines „vergleichende Anatomie" hat allerdings auch poetologischen Charakter: Die Reisebilder entwerfen ja unter anderem eine vergleichende Ethnografie, die ständig nationalen Stereotypen auf der Spur ist; zunächst in Göttingen, später dann auch in Helgoland, Lucca oder London. Vgl. King: Naturforschung in Lukka (Anm. 41), S. 56–61. In den Englischen Fragmenten beispielsweise schweift der Erzählerblick seitenlang zwischen Engländern, Franzosen und Deutschen hin und her, so wie es der Morphologe zwischen Schweinen, Kälbern und Affen machen würde. Als Comparandum fungiert die jeweilige Freiheitsliebe, die am Leitfaden des morphologischen und behaviouristischen Vergleichs über Seiten hinweg bis zur Pointe durchdekliniert wird: „Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmässiges Weib, er besitzt sie [...]. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine gewählte Braut [...]. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine alte Grossmutter." Heinrich Heine: Englische Fragmente. In: Düsseldorfer Heine-Ausgabe. Bd. 7,1: Reisebilder III/IV. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe 1986, S. 207–269, hier S. 211. Das mehrseitige Vergleichsunternehmen legt ein Netz an Bezügen über das soziopolitische Durcheinander der Epoche und erzeugt dadurch textuelle Kohärenz. Mit anderen Worten ordnet es jenes Chaos an Eindrücken, das der Erzähler ständig beklagt und das eigentlich die Modernität des Textes ausmacht. Die vergleichende Anatomie funktioniert demnach als doppeltes Ordnungsprinzip: Erstens ordnet sie das epistemische Chaos einer kleinteiligen Natur, die aus Vogelschnäbeln, Drüsenausführungsgängen, Blutbestandteilen und Retina-Schichten besteht; zweitens ordnet sie das kaum mehr überschaubare Chaos einer Kultur, in der sich liberale und restaurative Politik, Dampflok und Pferdechaise, Völkergemisch und Industriestadt, Pariser Hüte und Tiroler Lederhosen permanent überkreuzen. Anders und abschließend gesagt: Eine komparative Disziplin integriert die beiden Sphären ‚Natur' und ‚Kultur', die sich in einem Ablösungsprozess befinden und dennoch beide mit den gleichen Problemen von Bewegtheit, Fülle und Unüberschaubarkeit zu kämpfen haben. Damit stehen beide am Beginn eines großen Modernisierungsschubes, durch den sie das Vergleichen gewissermaßen abmildernd und stimulierend hindurchleitet.

By Martina King

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Titel:
Gesteinsschichten, Tasthaare, Damenmoden: Epistemologie des Vergleichens zwischen Natur und Kultur – um und nach 1800.
Autor/in / Beteiligte Person: King, Martina
Link:
Zeitschrift: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 45 (2020-11-01), Heft 2, S. 246-266
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0340-4528 (print)
DOI: 10.1515/iasl-2020-0014
Schlagwort:
  • LIFE sciences
  • NATURE
  • CULTURE
  • ORGANISMS
  • COMPARATIVE anatomy
  • Subjects: LIFE sciences NATURE CULTURE ORGANISMS COMPARATIVE anatomy
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Université de Fribourg, Section de médecine, Départment MPH, chemin du Musée 18, 1700 Fribourg, Switzerland

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