Thomas Kohl, Streit, Erzählung und Epoche. Deutschland und Frankreich um 1100. Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bd. 67. 2019 Anton Hiersemann Stuttgart, 978-3-7772-1926-4,
Das auf eine Tübinger Habilitationsschrift des Jahres 2015 zurückgehende Werk betrachtet die für die Gesamtgeschichte des Mittelalters immer wieder als „Wendezeit" o. ä. aufgefassten Jahre um 1100 unter dem Blick einer komparatistischen Konfliktforschung. Dies bedeutet, dass es einmal nicht in erster Linie um die ideologischen, religiösen und politischen Auseinandersetzungen des deutschen „Investiturstreits" oder die als tertium comparationis herangezogenen möglichen „mutations" der französischen Geschichte geht, sondern um „Konflikte und ihr Verhältnis zu sozialen Ordnungen" in zwei verschiedenen Regionen. Gewiss ist dem Autor die Forschungslage präsent, aber die gewählte Perspektive ermöglicht ihm ein davon weitgehend unabhängiges Vorgehen und einen weitgehend freien Blick auf Ereignisse und Strukturen ohne den Ballast dieser Forschungsgeschichte(n). Diesen Weg geht der Autor souverän, wie bereits seine Einleitung mit einer wünschenswert knappen, auf wesentliche Elemente reduzierten Ausführungen zu Forschungsstand, Methode und Fragestellung belegt. Zielpunkt ist die Frage nach dem epochalen Umbruchcharakter des Untersuchungszeitraums, wobei als Gradmesser die Konflikte in ihren Gründen, ihrem Verlauf und insbesondere auch ihrer Darstellung dienen sollen. Gerade der letzte Punkt ist eine entscheidende methodische Finesse: Überlieferung ist für den Autor nicht nur eine „Quelle" als Reservoir von Information über seinen Gegenstand, sondern zugleich auch selbst wesentlicher Bestandteil seiner Untersuchung, da ihre Entstehung, Form und Ausprägung in ihrer Abhängigkeit von Konflikten betrachtet wird.
Die Durchführung zeigt die saubere und klare Anlage der Arbeit. Zunächst werden die beiden Untersuchungsräume samt der ihnen eigenen Quellenlage dargestellt (S. 11–59). Qualitativ unterscheiden sich die Zuschnitte der gewählten Räume: Ist das französische Gebiet im Grunde ein Herrschaftsraum, d. h. der Bereich, in dem die „Grafen von Anjou um 1100 Einfluss ausübten" (S.62), der sich durch eine erkleckliche Anzahl von Privaturkunden erschließen lässt, so steht dem mit dem Südwesten des Reiches, hier: die „Diözesen Konstanz und Augsburg" auch jenseits Schwabens (S.77) eine Art „Überlieferungsraum" gegenüber, der weniger von politischen Verbindungen als von formal ähnlicher narrativer Überlieferung (Augsburger Annalen, Bodenseechronistik, Cartularchroniken) zusammengehalten scheint. Vergleichbarkeit gewährleisten zwei getrennt betrachtete Arten von Konflikten, die (über eine etablierte Routine zumeist auf Versöhnung hinauslaufenden) Besitzkonflikte (S. 99–156) sowie die komplexeren, gewaltvolleren „Bürgerkriege" (S. 157–232). Abgesehen von ähnlichen „Konfliktführungsmustern" ergibt sich auch der mit aller notwendigen Vorsicht geäußerte Befund, dass die verschiedenen Konflikte auch unterschiedlichen medialen Verarbeitungen entsprechen, die Urkunde im Besitzkonflikt, die narrative Aufarbeitung dem „Bürgerkrieg" entspricht. Hinsichtlich des ohnehin mehr über Schriftlichkeit verfügenden kirchlichen Bereiches ist dieser Befund weniger eindeutig. Der Vergleich der Konflikte um Bischöfe (S. 239–309) zeigt zwar in aller Deutlichkeit den gesteigerten Einfluss des Papsttums und die Einbeziehung neuer Gruppen sowie eine geringe, erst spät einsetzende Bedeutung des Problems der Laieninvestitur, doch keinen eindeutigen Ausdruck. Auch die eher strukturell bedingten „langen Konflikte" (S. 310–357) zeigen eine „Textvielfalt" (S. 356), was auch für die „Freiheitskonflikte" auf klösterlicher Ebene gilt (S. 359–443), die jedoch typologisch und auch durch die besondere Rolle der Urkunden(fälschungen) den „Besitzkonflikten" ähneln. In einem Schlusskapitel (S. 445–477) werden die erbrachten Ergebnisse zunächst konkret verglichen und auf ihre (mitunter zeitlich verschobene) Ähnlichkeit hingewiesen, bevor sie mit zunehmend größerem Deutungsanspruch in die Forschungsdebatte um epochalen Wandel eingesenkt wird. Dem Ergebnis, dass Konflikte gerade in der Verschränkung verschiedener Arten krisenhaft wirksam werden und dass (ggf. daraus resultierender) politischer Wandel und gesellschaftliche „Fundamentalkonflikte" ebenfalls für die Wertung als Wandlungsepoche sprechen, mag man ebenso zustimmen wie der Warnung, zu schnell und undifferenziert beide Regionen unter denselben Parametern zu subsumieren und damit Eigenheiten zu nivellieren.
Thomas Kohl ist mit seiner Arbeit ein Werk gelungen, das in einem nicht nur als durchforscht, sondern vielleicht sogar als „zerforscht" geltendem Feld neue Wege weist. Dankbar ist man ihm für die Versuche, Begriffe aus Nachbardisziplinen fruchtbar zu machen („Bürgerkrieg" mit Bezug auf S. Kalyvas; „Krise" nach K. Imhof) sowie den internationalen Horizont, der nicht in Frankreich endet. Die Verbindung zwischen theoretischem Überbau und empirischer Forschung ist mustergültig, und zum positiven Gesamteindruck trägt auch der unaufgeregte, auf Polarisierungen verzichtende und allzeit gut lesbare Duktus des Verfassers bei. Gewiss ließe sich ein wenig Wasser in den Wein gießen: Die Frage der Vergleichbarkeit der Regionen könnte man sicherlich kontrovers beantworten, wovon die Valenz des Vergleichs und dessen Tauglichkeit für das Endergebnis abhängt; und der hier sicherlich pro domo sprechende Rezensent hätte sich einen Abgleich mit den zwischenzeitlich erschienenen Regesta Imperii gewünscht, damit sich die momentan vergleichsweise wenigen im Hochmittelalter aktiven Kräfte zumindest noch wahrnehmen bzw. wahrnehmbar machen. Dem steht nicht entgegen, dass dem Werk eine Rezeption auch jenseits der Teilepoche zu wünschen ist, zumal es Qualitäten und Diskussionsangebote aufweist, die über den konkreten Untersuchungsgegenstand hinausweisen.
By Gerhard Lubich
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