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Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter" und „schlechter" Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert.

Peltzer, Jörg
In: Historische Zeitschrift, Jg. 312 (2021-02-01), Heft 1, S. 195-198
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Grischa Vercamer, Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter" und „schlechter" Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert. (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien, Bd. 37.) Wiesbaden, Harrassowitz 2020 

Grischa Vercamer, Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter" und „schlechter" Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert. Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien, Bd. 37. 2020 Harrassowitz Verlag Wiesbaden, 978-3-447-11354-0, € 98,–

In dieser am Deutschen Historischen Institut Warschau entstandenen Habilitationsschrift geht es um einen Vergleich von jeweils zwei Chroniken aus England, Polen und dem Reich im 12. Jahrhundert. Gefragt wird danach, wie sie die jeweiligen Herrschaftspraktiken darstellen bzw. was in der Vorstellung der Chronisten gute und schlechte Herrschaft ausmacht. Mit diesen Vergleich von west-, zentral- und osteuropäischen Chronisten geht Vercamer einen nur selten beschrittenen und deshalb sehr begrüßenswerten Weg. Auch die Kriterien, die an die zu vergleichenden Chroniken gelegt wurden, sind mit Bedacht und Umsicht gewählt. Neben der Maßgabe, dass die Chronisten zeitgenössische Herrscher beschreiben sollten, setzt Vercamer weitere Parameter, um die Vergleichbarkeit seiner Ergebnisse für die jeweiligen Untersuchungsräume zu erhöhen, so die Nähe zum Herrscherhof/-haus, eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber dem herrschenden Geschlecht und das Fehlen hagiographischer Züge. Ausgangspunkt für diese Wahl waren wahrscheinlich die polnischen Chroniken, liegen doch für diesen Raum und diese Zeit gerade einmal zwei substantielle Werke vor: Die „Cronicae et gesta ducum sive principum Polonorum" des Gallus Anonymus und die „Cronica Polonorum" des Vincent Kadłubek. Aus dem englischen Raum wurden Wilhelms von Malmesbury „Historia novella" und Rogers von Howden „Chronica" gewählt, aus dem Reich die „Gesta Friderici" Ottos von Freising und Rahewins sowie die „Historia Welforum", wobei letztere ein wenig aus dem Raster fällt, weil ihr Fokus eben gerade nicht der Herrscher des betreffenden Reiches ist. Diese Einschränkung auf wenige Chroniken zugunsten ihrer Vergleichbarkeit ist stimmig, gleichwohl bedeutet dies, dass das einleitend formulierte Ziel, nationale Charakteristika zu identifizieren, kaum erreicht werden kann. In seinen Schlussbemerkungen erkennt dies Vercamer auch, ohne aber die Ansprüche seiner Arbeit entsprechend neu zu formulieren.

Die Chroniken werden auf folgende Aspekte hin untersucht: Der Fürst als Richter, als Verwalter, als Politiker, als Gesetzgeber, als Repräsentant von Herrschaft, als Kämpfer und als frommer Herrscher. Schließlich werden seine Charaktereigenschaften in den Blick genommen. Die Analyse der Befunde, assistiert durch Theorieangebote der Narratologie, erfolgt mithilfe einer Datenbank, die auf Nachfrage eingesehen werden kann. Die untersuchten Quellenstellen sind im Anhang beigegeben, der in etwa die Hälfte des Bandes ausmacht. Nach einer sehr ausführlichen, drei Kapitel umfassenden Einleitung folgt die im Verhältnis dazu deutlich knappere Auswertung in zwei Kapiteln. Im vierten Kapitel werden die Befunde für die einzelnen Kategorien Chronik für Chronik dargestellt, ehe im fünften Kapitel eine Synthese unternommen wird. Kapitel sechs bietet eine knappe Zusammenfassung.

Vercamers Studie liefert nützliche Erkenntnisse zur Herrscherdarstellung in den behandelten Chroniken, macht die jeweiligen Wertungen der Chronisten, was gute und schlechte Herrschaft kennzeichnet, sichtbar, und arbeitet die teilweise unterschiedliche Gewichtung von herrscherlichen Aktivitäten heraus. So ist beispielsweise der Herrscher als Krieger in den polnischen Chroniken prominenter vertreten als in den beiden englischen. Gelegentlich hätte eine differenziertere bzw. präzisere Darstellung der Leserin und dem Leser weitergeholfen. Die in der Einleitung vorgenommene Darstellung der Charakteristika Englands, Polens und des Reichs im 12. Jahrhundert ist notgedrungen knapp, fällt gelegentlich aber so holzschnittartig aus, dass nur Spezialisten die hinter den Begriffen und vermeintlichen Entwicklungslinien liegende Forschungsproblematik erkennen. Wenn mit Verweis auf David Crouch davon die Rede ist, dass es in England keinen genuinen Adel gegeben habe, dann ist das irreführend. Es geht Crouch darum zu betonen, dass Adligkeit in England vor allem das Ergebnis eines sozialen Prozesses ist, keiner rechtlichen Satzung. Die Existenz eines Adels wird nicht in Frage gestellt. Überraschen muss auch das Fehlen des Begriffs lordship bei der Aufzählung der gebräuchlichen englischen Termini für Herrschaft.

Durch die gesamte Arbeit hindurch ist Vercamers Bemühen sehr deutlich spürbar, seine Leser/-innen an seinem Vorgehen teilhaben zu lassen, sie verstehen zu lassen, warum er was macht. Nicht immer können seine Entscheidungen gänzlich überzeugen. So ist nicht schlüssig, warum sich auf der einen Seite gegen die eingehende Untersuchung von Ritualen entschieden wird, wenn sie im Kontext von Herrschaft für so bedeutsam erachtet werden, dass ihrer Forschungsgeschichte in der Einleitung ein eigener Exkurs gewidmet wird (und in der Tat gibt es keinen triftigen Grund, sie nicht zu analysieren, wäre es doch auch hier nur um die Darstellungsformen etc. gegangen). Auch der Anspruch, eine umfassende und keine eklektische Analyse seiner Chroniken zu liefern, kann gerade nach Lektüre der Darlegungen, nach welchen Kriterien die Untersuchung angelegt wurde, kaum aufrecht erhalten werden. Es ist davon auszugehen, dass beispielsweise semantische und/oder (computer)linguistische Ansätze weitere Erkenntnisse zu Tage fördern würden. Jeder Ansatz ist Auswahl und von dieser Multiperspektivität lebt ja die Forschung. Schließlich kann man sich fragen, ob das Vorhaben der Arbeit, das Bild herrschaftlichen Handelns in den Chroniken mit dem der aktuellen Forschung zu vergleichen, nicht in eine etwas andere Richtung hätte gelenkt werden sollen. Denn zum einen ist die Quellenbasis, auf der die Erkenntnisse der modernen Forschung beruhen, für die jeweiligen Regionen sehr unterschiedlich. In England stellen die behandelten Chroniken nur einen Teil des Quellenkorpus dar, in Polen hingegen bilden sie im Wesentlichen dieses Korpus. Sie spielen also zwangsläufig eine wichtige Rolle bei der Formierung moderner Vorstellungen. Zum anderen erlaubt die lehrbuchartige Zusammenfassung des Forschungsstandes kaum, den unterschiedlichen Akzentuierungen der jeweiligen Forscherinnen und Forscher gerecht zu werden. Die Folie des Vergleichs bleibt letztlich sehr grob. Schließlich ist die Gefahr beträchtlich, Vorstellungen moderner Forschung auf mittelalterliche Autoren zu projizieren. So in der Zusammenfassung, wenn es heißt, Roger von Howden habe durch seine etwas häufigere Darstellung des ‚Fürsten als Gesetzgeber' „klar die englische Modernität seiner Epoche gegenüber anderen Ländern [unterstrichen]" (S. 350). Roger, das stellt Vercamer selbst heraus (S. 291), schrieb keinen europäischen Vergleich. Vercamer ist sich der Grenzen seines Ansatzes sehr bewusst, zieht aber nicht die Konsequenz, seine Fragestellung entsprechend anzupassen. Eine Möglichkeit wäre gewesen, seinen Ansatz auf ausgewählte Arbeiten der modernen Forschung anzuwenden und zu betrachten, wie einzelne, den Diskurs seit dem 19. Jahrhundert bestimmende Forscher/-innen mit den jeweiligen Chronisten umgingen – wie sich also ihre Interpretation und ihr Stellenwert im Lauf der Zeit veränderte. Dies hätte sogar die Chance eröffnet, die eigene Forschungsleistung noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Wer sich ein Bild der Herrscherdarstellung durch die sechs in dieser Arbeit behandelten Chronisten machen möchte, der wird mit reichem Material versorgt. Das sind wichtige Grundlagen für eine weitere Beschäftigung mit der hochmittelalterlichen Historiographie und ihrem Einfluss auf unsere Geschichtsbilder. Mit dem hier vorgelegten Vergleich west- und osteuropäischer Chronistik setzt Vercamer schließlich einen willkommenen Impuls für die zukünftige geographische Ausrichtung komparatistischer Arbeiten.

By Jörg Peltzer

Reported by Author

Titel:
Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung. Vorstellungen von „guter" und „schlechter" Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13. Jahrhundert.
Autor/in / Beteiligte Person: Peltzer, Jörg
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 312 (2021-02-01), Heft 1, S. 195-198
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1036
Schlagwort:
  • HOCHMITTELALTERLICHE Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung: Vorstellungen von -guter" und -schlechter" Herrschaft in England, Polen und dem Reich im 12./13.Jahrhundert (Book)
  • VERCAMER, Grischa, 1974-
  • HISTORIOGRAPHY
  • KINGS & rulers
  • NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Vergleichende Landesgeschichte in europäischer Perspektive, Heidelberg,, 69117, Germany.
  • Full Text Word Count: 1106

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