Keywords: Soziale Bewegungen; Performanz; Drama; Emotionen; Affekte; Kultur
Jeffrey C. Alexander, The Drama of Social Life. Cambridge : Polity Press 2017, 180 S., kt., 20,90 €
In „The Drama of Social Life" (2017) schließt Jeffrey C. Alexander, einer der führenden US-amerikanischen sozialtheoretischen Denker, an seine früheren kultursoziologischen Erkenntnisse im Kontext des „strong program" (siehe [
Alexanders Fokus liegt hierbei nicht auf individualisierten Praktiken der Erprobung dieser Spielräume. Vielmehr gilt sein Interesse den symbolischen Inszenierungen sozialer und politischer Bewegungen – also der kollektiven Performanz zur Dramatisierung sozialer Konflikte und zur Durchsetzung von politischen Interessen. Für ihn ist relevant, wie diese kollektiv aufgeführten Dramatisierungen neue Formen kultureller und emotionaler Identifikation bewirken. Die Selbstdefinition moderner Gesellschaften als ‚rational' kommt aus Alexanders Perspektive einer Selbsttäuschung gleich, da emotionale Verbindungen, kollektive Repräsentationen und facettenreiche Narrative wirken und so nach wie vor Glauben und Werte generieren. Hierdurch wird die vielfach hinterfragte Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität zunehmend obsolet (siehe dazu auch [
Im Zuge der Fokussierung auf Analysen kollektiver Dramatisierungen in sozialen und politischen Bewegungen erörtert der Autor eingangs kurz und eher stichpunktartig seine sozialtheoretischen Bezüge in Anlehnung an Émile Durkheims „Die elementaren Formen des religiösen Lebens" (1912/2007), welche ihn in den Analysen von Solidarität generierenden Riten nachhaltig inspiriert haben. Seine Referenzen reichen weiter über Goffmans „Wir alle spielen Theater" (1959/2007) zu Collins, Turner und Schechner, der sich explizit für eine Abkehr vom Ritualbegriff Durkheim'scher Prägung – Ritual verstanden als Handlungswiederholung, bei der alle Beteiligten den Glauben an deren Echtheit und Wirksamkeit teilen – ausspricht. Adäquater zum Verstehen und Erklären moderner Gesellschaften sei vielmehr der Begriff der Performanz. Als kulturelle Performanz definiert [
Die Notwendigkeit der Fokussierung auf Performanz verdeutlicht Alexander anhand der Analyse von sozialen und politischen Bewegungen, die erfolgreich radikale gesellschaftliche Transformationen bewirkt haben. Ihre erfolgreichen Dramatisierungen sieht er dabei auch in einem Zusammenhang mit konkreten „performern" und verdeutlicht dies anhand von Personen wie Martin Luther King, Jr. (MLK), Mao Zedong und Barack Obama. Ihnen sei es gelungen, politische Bewegungen zu organisieren, die als machtvolle soziale Performanzen verstanden werden müssten. „If MLK and the Southern Christian Leadership Conference had not been able to stage nonviolent protests that projected southern white violence to breathless northern audiences, American Apartheid would not have been legally undermined in the civil rights acts of 1964 and 1965" (6f.).
Nach Alexander kreieren erlebte rassistische Ungerechtigkeiten starke Wut und Frustration – organisierter Protest kann sich darin jedoch nicht erschöpfen. Affekte und Emotionen müssen mit konkreten Strategien verbunden werden. Protest benötigt ein Drehbuch, muss in eine Handlung umgesetzt, dirigiert und vor einem Publikum performed werden: „Injustice must be dramatized" (
Alexanders Analysen reichen dabei von Mao Zedong über die Civil-Rights-Bewegung, den Arabischen Frühling bis zu Barack Obamas Wahlerfolgen und der Bewegung „Black Lives Matter", die im Kontext der Ferguson-Proteste ab 2014 bekannt wurde. Gemeinsam ist diesen Bewegungen, dass es ihnen durch die Dramatisierung von Leid gelungen ist, ‚Bedeutungsnetzwerke' zwischen marginalisierten Gruppen zu konstituieren. Anhand von Ereignissen des Arabischen Frühlings in Ägypten 2011 illustriert Alexander, wie Formen universalistischer Solidarität generiert wurden, die „Frauen mit Louis-Vuitton-Taschen und Fabrikarbeiter" auf dem Tahrir-Platz gegen Mubarak vereinte. Die Analyse demonstriert auch die Effekte der globalen Digitalisierung: Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter generieren neuartige Möglichkeiten der Performanz und der Verbreitung von Symbolen. Dabei demonstriert Alexander: Bei erfolgreichen sozialen Bewegungen geht es inzwischen vor allem um das Affizieren – die Massen müssen berührt werden, indem sie sich bei spezifischen Themen unwohl fühlen, sich mit den betroffenen Akteur*innen identifizieren, mit ihnen mitfühlen. Empathie und emotionale Katharsis, die Identifikation erzeugen, sind durch eine kollektiv umgesetzte Performanz zu bewirken.
Bei Alexanders Werk handelt es sich um die Erkenntnisse eines kreativen Denkers, der es versteht, konstruktiv verschiedene Theorieelemente zusammen zu bringen, diese mit empirischen Daten zu kombinieren und so überzeugend einen neuen, gewinnbringenden Blickwinkel zu generieren. Er liefert eine aufschlussreiche und bisher vernachlässigte Perspektive auf soziale und politische Bewegungen.
Kritisch an seinem interessanten Blickwinkel ist zu sehen, dass weitgehend auf eine reflexive Einordnung verzichtet wird. Dies wird partiell bereits in der Einleitung angekündigt, indem eine „optimistische" Perspektive angeboten werden soll. Der Verzicht auf kritische Einordnung hat jedoch zur Folge, dass für Lesende partiell der Eindruck entsteht, es liege hier eine Art Ratgeberliteratur oder Hinweise zum Selbst-Marketing für den Erfolg sozialer Bewegungen vor. Dabei stellt sich die Frage: Handelt es sich hierbei bloß um die Implementierung neoliberaler Prinzipien in dem Kontext sozialer Bewegungen, die aufgrund von Inszenierung, Performanz und selbstoptimierter Darstellung Erfolg garantieren? Und hätte ein wenig des von Alexander als „europäisch" gelabelten Pessimismus à la Horkheimer und Adorno (1944/2003) nicht auch gut getan?
Weiter muss gefragt werden: Genügt die Performanz als Erfolgsgarant sozialer Bewegungen? Besteht nicht gerade ein Faktor für den Erfolg sozialer Bewegungen darin, dass diese nicht ausschließlich auf Inszenierung beruhen, sondern auf intrinsischer Überzeugung ihrer Akteur*innen – die sicherlich auch „performed" werden muss, sich darin jedoch nicht erschöpft und auch nicht erschöpfen darf, will sie überzeugen? Politikverdrossenheit ist unter anderem darauf zurückgeführt worden, dass Politiker*innen von ihren Wähler*innen nicht mehr als überzeugend – nicht als authentisch – erlebt werden und dass eine emotionale Distanz zwischen Politik und Wählerschaft entstanden ist. Nach [
Dennoch muss die Frage gestellt werden: Sind Überzeugung und das Affiziert-Sein der Akteur*innen nicht notwendige Voraussetzungen für authentische Darbietungen? Oder in der Hochschildschen Terminologie: Ist über Surface Acting – über das Oberflächenhandeln, das So-tun-als-ob – emotionale Identifizierung von Massen mit politischen Zielen zu erreichen, die ja möglicherweise auch mit Vorsicht evoziert werden sollte? Denn darauf kommt es nach Alexander in politischen und sozialen Bewegungen an: auf die Möglichkeit zu affizieren.
In diesem Sinne besteht die von der Rezensentin bevorzugte Lesart von Alexanders Buch in einem (obgleich impliziten) Plädoyer für die Relevanz einer differenzierten Emotions- und Affektsoziologie. Denn die Performance muss affizieren – darauf kommt es an. Einschränkend muss hinzugefügt werden – und dies ist ein Blickwinkel, der von Alexander vernachlässigt wird: Die Performance affiziert, wenn sie ihrerseits auf Affizierung beruht. Insofern müssen Performanz und Drama als stilistische Mittel hinzukommen, sie können jedoch nicht den Impuls ersetzen, der sozialen Bewegungen inhärent sein muss. Darin besteht die reziproke Dynamik des Affizierens und Affiziert-Werdens ([
By Yvonne Albrecht
Reported by Author