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Evidence.

Reichertz, Jo
In: Soziologische Revue, Jg. 44 (2021), Heft 1, S. 145-150
Online review

Howard S. Becker, Evidence. Chicago/London: University of Chicago Press 2017, 240 S., kt., 19,26 € 

Keywords: Chicago School; qualitative Sozialforschung; Geschichte; Methodenkritik

Howard S. Becker, Evidence. Chicago/London : University of Chicago Press 2017, 240 S., kt., 19,26 €

Becker als sozialwissenschaftlicher Autor

Howard Becker (*1928) ist einer der letzten großen alten Männer der amerikanischen qualitativen Sozialforschung. Als Schüler von Everett Hughes kann man ihn (wie Anselm Strauss und bedingt auch Ervin Goffman) zur zweiten Generation der Chicago-School zählen. Er ist somit ein Vertreter einer pragmatistisch angelegten Handlungstheorie, die sich als Interaktionstheorie versteht, welche sich z. B. von der Handlungstheorie Alfred Schütz' deutlich unterscheidet.

In den letzten 50 Jahren hat Becker eine Reihe von theoretischen und empirischen Arbeiten vorgelegt, die teilweise stilbildend waren (z. B. Outsiders, Tricks of the Trade). Seine Arbeiten sind unorthodox, manchmal hemdsärmelig, aber immer das eigene Tun kritisch reflektierend. Stilistisch bevorzugt er die Erzählung. Nun hat er im Alter von 89 Jahren ein neues Buch vorgelegt, in dem es laut Titel um Evidence geht. Wie Becker im Vorwort des Buches schreibt, arbeitete er seit 1946 an diesem Buch.

Das Buch ist in zwei Teile geteilt. Nach einer allgemeinen Hinführung zum Gegenstand des Buches, nämlich dem Zusammenhang von Data, Evidence und Ideas, geht es in den drei Kapiteln des ersten Teils um methodische/methodologische Fragen, die immer an Beispielen der (eigenen) Wissenschaftsgeschichte diskutiert werden. In dem zweiten Teil des Buches geht es in vier Kapiteln um die Erörterung praktischer/methodischer Fragen – so z. B. wer sammelt die Daten (Forscher, Projektmitarbeiter, Privatunternehmen, Institute, Staat) und wie gut sind Daten in Abhängigkeit von den Datensammlern, deren Ausbildung, deren Gründlichkeit und wie verändern sich Datenerhebungen aufgrund gesellschaftlichen Wandels (Änderung von Erhebungspraktiken und Veränderung von Gesellschaft und deren relevanten Kategorien, z. B. Rasse, Religion, Beziehungsformen etc.). In einem Nachwort versammelt er noch „Final Thoughts". Abgeschlossen wird das Buch mit einem integrierten Personen- und Sachregister. Das Buch enthält ausschließlich Originalbeiträge, obwohl viele der Überlegungen, Episoden und Anekdoten bereits in früheren Arbeiten (wenn auch in anderer Weise) erzählt wurden.

Da Becker der Ansicht ist, dass es nicht einen richtigen methodischen Weg gibt, sondern quantitative wie qualitative Methoden beide ihre Stärken und Schwächen haben, sie also je nach Forschungsziel auszuwählen sind, beziehen sich seine Überlegungen immer auf beide Arten der Sozialforschung.

Was ist das Ziel des Buches?

Evidence ist nach Tricks of the Trade, Writings for Social Scientists, Telling about Society und What about Mozart das fünfte Buch von Becker, das sich mit der praktischen Arbeit der Sozialwissenschaftler*innen beschäftigt. In den früheren hat er über das Handwerkszeug eines guten Sozialwissenschaftlers, über geeignete (nicht langweilige) Mittel der öffentlichen Präsentation wissenschaftlicher Erkenntnisse und Möglichkeiten der Generalisierung von Fallstudien nachgedacht. Das Schwergewicht lag bei Becker auf der Klärung methodisch praktischer Fragen anhand eigener Erfahrungen, nicht jedoch anhand erkenntnistheoretischer und methodologischer Überlegungen. Sein Ziel war stets, anderen Sozialwissenschaftler*innen Hilfestellungen zu geben, es in Zukunft besser zu machen.

Auch das aktuelle Buch versteht Becker so – nämlich als einen Rückblick auf sein wissenschaftliches Leben und als eine Art Verdichtung von Erfahrungen, welche er der nachfolgenden Generation mit auf den Weg geben will. Im Zentrum steht dieses Mal der Zusammenhang von drei Komponenten: Daten, Evidence und Ideen. „Social scientists combine three components – data, evidence and ideas (sometimes called 'theories' or 'concepts') to convince themselves, their colleagues, maybe even a wider audience, that they have found something true, something more than a coincidence or an accident" (Becker: 4).

Ich muss gestehen, dass mir beim ersten Lesen dieser Zeilen nicht wirklich klar war, was Becker mit ‚combine' und ‚evidence' meint. An anderer Stelle, nämlich in einem Gespräch mit Reiner Keller, hat Becker seine Vorstellung von Evidence etwas erläutert. Dort heißt es: „You collect observations, in whatever way. [...] You use those data as evidence to demonstrate that this idea is better. The steps that link, that makes data into evidence, is the hard part. Because there's so many things that can go wrong and sociologists are not good at" ([1], 2016: 30). Obwohl auch diese Formulierung etwas luftig ist, scheint es auf den ersten Blick so zu sein, als könne man evidence mit ‚Beleg' oder gar ‚Beweis' übersetzen. Wichtig ist Becker, dass es nicht leicht ist, Daten in evidence zu verwandeln. Aber was meint das? Ist die Überzeugungskraft der Daten gemeint, die sich quasi von selbst entfaltet, wenn man die Daten zur Kenntnis nimmt, oder ist die Überzeugungskraft des Wissenschaftlers gemeint, der mit bestimmten Praktiken eine Überzeugung bei sich und anderen herstellt (= doing)?

Becker setzt ohne Zweifel auf die Daten: „Data, evidence, and ideas make the circle of independencies. The data interest us because they help us make an argument about something in the world that they would be consequential for. Expecting that others may not accept our argument, the collected information we except will convince them that no one could have recorded reality in that form if our argument wasn't correct" (Becker: 5). Die Daten überzeugen also, weil sie beim Betrachter die Einsicht herbeiführen, dass etwas so ist und nicht anders.

Aber Einsicht funktioniert auch andersherum: „Because data, evidence, and ideas really do constitute a circle of dependencies, we can move in both directions around that circle. We can try the classical route, using data to be created as evidence to check out ideas you have already generated. But we can also use data that unexpectedly differ from what we expected, to create new ideas. Depending on the direction you take, you will probably find yourself using different methods of gathering and analyzing data. Both directions work and produce useful results" (Becker: 23).

Mit evidence ist demnach nicht Beweis oder Beleg gemeint, sondern die beim Betrachten und Analysieren der Daten oder der Konzepte sich (unmittelbar) einstellende Einsicht, dass etwas so ist und nicht anders (man entdeckt also etwas). Allerdings muss man m. E. hier zwei Arten der Einsicht auseinanderhalten: Denn die Einsicht, die Wissenschaftler*innen im Moment der Entdeckung eines Zusammenhangs haben (Abduktion), ist eine andere Einsicht als die, die das Publikum hat, wenn es von einer Entdeckung liest. Im ersten Fall resultiert evidence aus den Daten, im zweiten Fall aus der Lektüre eines Artikels, in dem auf Daten verwiesen wird. Hier unterscheidet Becker nicht hinreichend. Sicher ist, dass Becker mit Herstellung von Evidence nicht eine besondere Art der Wissenschaftsrhetorik meint, also wie man anderen didaktisch geschickt die eigene Einsicht vermittelt. Nicht der Wissenschaftler überzeugt (so Becker), sondern die Daten.

Inhalte

Seine Argumentation leitet Becker mit der Analyse einer alten Gewerkschaftsstudie von 1958 ein. Dort waren Gewerkschaftler vornehmlich zu ihrer politischen Einstellung befragt worden. Unter anderem wurde auch die Häufigkeit ihrer Anwesenheit bei Gewerkschaftssitzungen abgefragt. Zufälligerweise wurde damals in einer anderen Studie am gleichen Ort die tatsächliche Anwesenheit von Gewerkschaftsmitgliedern erhoben. Da (was heute sicherlich nicht mehr ginge) damals die Namen der Interviewten bekannt waren, konnte später verglichen werden, ob die Interviewangaben zur Häufigkeit der Anwesenheit bei Gewerkschaftssitzungen mit der tatsächlichen Häufigkeit übereinstimmen. Es kam heraus (was damals vielleicht überraschend war, heute jedoch niemanden mehr wirklich überrascht), dass ca. 30 % der Interviewten keine korrekten Angaben über ihre Anwesenheit machte, sondern diese höher ansetzen.

Dass Interviewte aus unterschiedlichen Gründen (Nichtwissen, strategische Darstellung, Irrtum, Vergessen etc.) falsche Angaben machen und dass sich die Unzuverlässigkeit der Interviewdaten in neuerer Zeit eher gesteigert hat, ist heute ein weit verbreitetes Wissen: Jeder weiß es und jeder weiß, dass es die anderen wissen. Daraus ergibt sich für Becker die dringend zu klärende Frage, weshalb das Interview, obwohl alle um seine Probleme wissen, dennoch das meistgenutzte Mittel qualitativer und quantitativer Sozialforschung ist. „Such nevertheless commonly accepted procedures have a sort of face validity: everyone knows that this is the way everyone does it, and accepts what everyone else accepts, even though everyone also knows that there are ‚some problems'" (Becker: 11). Allein für diese Feststellung lohnt sich die Lektüre des Buches. Fragt sich nur, weshalb das immer noch so ist.

Ein weiterer wesentlicher Punkt, auf den Becker in seinem Buch aufmerksam macht, ist, dass wissenschaftliche Forschung notwendigerweise viele Personen miteinander verbindet. Da sind einerseits Personen, die für diese Art von Forschung ausgebildet sind (Forscher*innen), andere, die erst dabei sind, Forschung zu lernen (Studierende), und wieder andere, die mit der Forschung selbst nichts zu tun haben, aber möglicherweise bestimmte Daten erheben oder Infrastrukturen schaffen (private Formen, Staatsbedienstete). Becker fordert völlig zurecht, dass man, um Fehler zu vermeiden, die mit der kollektiven Produktion der Daten einhergehen, diese Produktion selbst zum Gegenstand soziologischer Forschung machen muss (69) – insbesondere wenn Daten von „hired hands" produziert werden. Die Erhebung des Census folgt anderen Logiken als denen der Wissenschaft – was auch für Firmen gilt, die geschäftsmäßig Interviews transkribieren/übersetzen oder Umfragen (Telefon/Skype/Internet) durchführen.

In dem abschließenden Kapitel warnt Becker alle Forschenden davor, zu schnell aufgrund einer Feldstudie zu generalisieren. Wie die Forschung gezeigt habe, seien in jedem Feld immer auch situative und lokale Besonderheiten relevant – weshalb man sich hüten solle, zu früh zu generalisieren. „What might be generalizable were the processes and subprocesses whose description researchers have to adjust as they learned more about more cases" (205).

Insgesamt stammen die vielen Beispiele, die untersucht werden, mehrheitlich aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das bedeutet auch, dass die internationale Methodendiskussion, die in den letzten Jahren weltweit stattgefunden hat, im Buch keinen Nachhall findet. Insofern wirkt das Buch ein wenig aus der Zeit gefallen und liest sich wie ein Zeitdokument. Beispielhaft hierfür, Beckers Bemerkungen zur Ethnographie: Er vertritt die Position, man müsse ohne jede theoretische Vorannahmen ins Feld gehen und dann warten, dass etwas passiert, um in dem Beobachteten eine Theorie zu entdecken; und wenn man etwas nicht verstehe, solle man halt die Beobachteten fragen (188ff.). Angesichts der in den letzten Jahrzehnten geführten Diskussion wirken solchen Aussagen seltsam aus der Zeit gefallen.

Würdigung

Howard Becker ist ohne Zweifel nicht nur ein hervorragender Sozialwissenschaftler, sondern auch ein guter Erzähler, der immer wieder gerne über sein Leben, die Chicago School Interessantes, Nützliches und manchmal auch Amüsantes zu berichten weiß.

Becker ist, wie alle Vertreter der Chicago School, ein radikaler Empirist. Wenn es zu den wesentlichen Kennzeichen des Positivismus gehört, dass seine Vertreter*innen glauben, dass die Wirklichkeit existiert und Widerstand leisten kann, dass die Daten diese Wirklichkeit wiedergeben und keine Konstruktionen sind, dass Wissenschaftler*innen deshalb die Daten lediglich ‚einsammeln' und dann mit theoretischer Unvoreingenommenheit betrachten und schließlich in den Daten eine Theorie ‚entdecken', wenn das Positivismus ist, dann ist Becker sicherlich ein Positivist. Der Wissenschaftler bleibt im Wesentlichen passiv gegenüber der Wirklichkeit, seine Tätigkeit besteht darin, Daten einzusammeln und sie in vielfältiger, der Wirklichkeit angemessen Weise zu betrachten – wenn das passiert, dann entdeckt man sie.

Insofern ist Becker keinesfalls ein Konstruktivist, weder ein radikaler noch ein kommunikativer. Im Grunde seines Herzens ist er Positivist, der an den Wissensfortschritt glaubt. Methodisches Vorgehen ist für die Entdeckung der Wirklichkeit unabdingbar, allerdings bevorzugt Becker nicht eine bestimmte Methode, sondern der einzelne Wissenschaftler muss aufgrund seiner Kenntnis der untersuchten Phänomene jeweils die richtigen Methoden auswählen. Dabei hilft ihm seine eigene Erfahrung, auch die Erfahrung anderer. Wissenschaft ist somit ein Prozess der Fehlerausmerzung, der durch die Persönlichkeit und die wissenschaftliche Haltung des Wissenschaftlers gesichert wird.

Weil unser Wissen um die Welt grundsätzlich nicht wirklich zufriedenstellend ist, ist jede Forschung „just a beginning" (Becker: 22). Jeder ist dazu aufgerufen, weiter zu machen, nach Fehlern zu suchen, diese auszuschalten und damit Forschung zu verbessern. "Beware of traps and turn them into research topics" (210). „Don't make the same mistake twice" (206). Diese Botschaft ist wichtig und gilt auch heute. Insofern ist es kein großer Mangel des Buches, neuere Methoden und aktuelle Diskussionen in der Sozialwissenschaft nicht aufgegriffen und behandelt zu haben.

Literatur 1 Becker, H. S.; Keller, R. Ways of Telling About Society. Howard S. Becker in Conversation with Reiner Keller. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 2016, 17, Art. 12 http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1602122 (Zugriff Sep 17, 2020).

By Jo Reichertz

Reported by Author

Titel:
Evidence.
Autor/in / Beteiligte Person: Reichertz, Jo
Link:
Zeitschrift: Soziologische Revue, Jg. 44 (2021), Heft 1, S. 145-150
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0343-4109 (print)
DOI: 10.1515/srsr-2021-0018
Schlagwort:
  • EVIDENCE (Book)
  • BECKER, Howard Saul, 1928-
  • SOCIOLOGY
  • RESEARCH
  • NONFICTION
  • Subjects: EVIDENCE (Book) BECKER, Howard Saul, 1928- SOCIOLOGY RESEARCH NONFICTION
  • Chicago School
  • Geschichte
  • Methodenkritik
  • qualitative Sozialforschung Language of Keywords: German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Forschungsbereichsleiter Kommunikationskultur, Kulturwissenschaftliches Institut (KWI) Essen, Germany
  • Full Text Word Count: 1967

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