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Selbstermächtigender Unterricht im Kontext von DaF/Z. Wien

Scholz, Janek
In: Info DaF: Informationen Deutsch als Fremdsprache, Jg. 48 (2021-04-01), Heft 2/3, S. 343-347
Online review

Widhalm, Corinna: Selbstermächtigender Unterricht im Kontext von DaF/Z. Wien: Praesens, 2019. -- ISBN 978-3-7069-1035-4. 126 Seiten, € 25,30 

Widhalm, Corinna : Selbstermächtigender Unterricht im Kontext von DaF/Z. Wien : Praesens, 2019. -- ISBN 978-3-7069-1035-4. 126 Seiten, € 25,30.

Selbstermächtigend und herrschaftskritisch -- diese Schlüsselbegriffe fallen den Leser*innen von Corinna Widhalms Studie bereits im Klappentext des Buches ins Auge. Die Autorin setzt sich zum Ziel, die Möglichkeiten eines Unterrichts zu untersuchen, der sich nicht instrumentalisieren lassen will von „migrations- und integrationspolitischer Gesetzgebung" (Klappentext).

Um dieses Ziel zu erreichen, hinterfragt sie zunächst ihre eigene Positionierung (Kapitel 1), um sodann die bisherige „fremd- und zweitsprachendidaktische [...] sowie bildungswissenschaftliche [...] Forschungsliteratur" (12) auf ihr herrschaftskritisches Potenzial hin zu befragen (Kapitel 2). Neben bestehenden theoretischen Auseinandersetzungen -- hier nennt sie u. a. Paul Mecherils Migrationspädagogik -- geht Widhalm auch auf praktische Versuche ein, der von ihr präferierten machtkritischen Didaktik gerecht zu werden. Dabei stellt sie zwei österreichische Projekte vor (maiz und LEFÖ), aus denen sie teilweise auch ihre späteren Interviewpartnerinnen rekrutiert.

Nach diesen beiden einführenden Kapiteln skizziert die Autorin ein theoretisches Gerüst, für das sie zunächst Begriffe wie Intersektionalität als Überlagerung verschiedener Differenzkategorien -- sie nennt hier Geschlecht, Sexualität, Klasse und Herkunft (32) Interessanterweise wird die Differenzkategorie ‚Alter' das ganze Buch hindurch nicht erwähnt, obwohl gerade Altersunterschiede in außerschulischen DaF- und DaZ-Kursen ein besonders augenfälliges Merkmal sind, das sich auf vielfältige Art und Weise auf das Unterrichtsgeschehen auswirkt.  -- und Othering erläutert, um dann auf die Arbeiten des Brasilianers Paulo Freire und der US-Amerikanerin bell hooks einzugehen, die in ihrer Analyse eine zentrale Rolle einnehmen (Kapitel 3.4). Das dritte Kapitel schließt mit einem kurzen Exkurs zum Thema Mehrsprachigkeit.

Der zweite Teil der Studie steht ganz im Zeichen der Interviews, die die Verfasserin mit vier Expertinnen geführt hat. Inhalte und Themen des Unterrichts werden ebenso besprochen wie didaktische Methoden und das Verhältnis zu den Kursteilnehmer*innen (Kapitel 4). Die Einschätzungen der befragten Lehrpersonen werden von Widhalm systematisch zusammengetragen und mit dem theoretischen Teil der Arbeit in Beziehung gesetzt. Auch die eigene Haltung und das eigene Selbstverständnis der Lehrpersonen werden diskutiert -- ein Aspekt, auf den hin sich die gesamte Arbeit nach und nach entwickelt. Die Studie schließt mit einer Conclusio und einem Ausblick (Kapitel 5).

Die Auswahl der beiden zentralen Theoretiker*innen hooks und Freire scheint aufgrund der Ausbildung der Autorin zunächst naheliegend -- Widhalm studierte neben DaF/DaZ auch Politikwissenschaft und Philosophie --, überrascht aber letztlich doch, da moderne Ansätze der fremdsprachendidaktischen Forschung, die inhaltlich in eine ähnliche Richtung deuten, gänzlich außer Acht gelassen werden. Die Arbeit Paulo Freires ist in den 19070er Jahren zu verorten, bell hooks und Judith Butler -- die ebenfalls mehrfach zitiert wird -- publizierten jene Werke, auf die Widhalm sich bezieht, in den 1990er Jahren. Zweifellos leisteten diese Texte einen unschätzbaren Beitrag zur Weiterentwicklung der Debatte, doch auch und gerade moderne Ansätze des Unterrichtens erfüllen in großen Teilen bereits das, was Widhalm in ihrer Arbeit fordert. Ich möchte dies an drei kurzen Beispielen erläutern:

  • Der Begriff der Selbstermächtigung, auf den die Autorin abzielt, wird an mehreren Stellen des Buches (teilweise als sprachliche Ermächtigung) darauf bezogen, dass Lernende in der Lage sind, schwierige und komplexe Alltagssituationen zu bewältigen, die sich von idealisierten Lehrbuch-Dialogen unterscheiden. Diesem Ziel versucht die moderne Didaktik mittels der Kompetenzorientierung gerecht zu werden. Bereits in der Grundstufe des DaF-/DaZ-Unterrichts ist es per Curriculum notwendig, Lernenden Redemittel an die Hand zu geben, mit denen sie auch konfliktive Situationen bewältigen können, so auch die von Widhalm geforderten Sprechakte des Sich-Wehrens, des Festlegens von Grenzen sowie der Meinungs- und Kritikäußerung (vgl. 65–66). So fordert z. B. das Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache bereits auf der Niveaustufe A1, dass die Lernenden eine andere Meinung äußern und mit einfachen Worten adäquat widersprechen können (vgl. Goethe-Institut 2016: 48–49). Auf der Niveaustufe A2 kommen Begründungen hinzu, warum Lernende mit bestimmten Äußerungen oder Handlungen nicht einverstanden sind (vgl. 48). Auch das offene Ansprechen von Stereotypen und Vorurteilen ist vorgesehen (vgl. 33).
  • Die Prämisse der Lerner*innenzentrierung zielt darauf ab, die Lernenden in ihrer Individualität wahrzunehmen und den Unterricht entsprechend zu gestalten. Dies umfasst neben methodischen Abwägungen (den Lernweg, den Lerntyp oder das Lerntempo betreffend) auch inhaltliche Aspekte (die Interessen der Lernenden aufgreifend). Widhalm fordert einen Lebensweltbezug, den moderner Unterricht schon seit geraumer Zeit berücksichtigt.
  • Einen gänzlich machtkritischen Ansatz für den DaF-Unterricht hat die US-amerikanische Germanistin Claire Kramsch entworfen. Sie fordert im Sinne der Kompetenzorientierung, dass DaF-Unterricht Lernende mit einer sogenannten symbolischen Kompetenz ausstatten sollte. Unter einer solchen versteht Kramsch die Fähigkeit, Diskurse machtkritisch zu analysieren und die dahinterliegenden Herrschafts- und Hoheitsverhältnisse zu entlarven (vgl. [4] 2006 und 2014).
  • Neben der fehlenden Rezeption neuerer fremdsprachendidaktischer Ansätze verliert das Buch, das einen wichtigen und überaus wertvollen Blick auf Unterricht wirft, auch deshalb an Schlagkraft, da es die Grundannahme, dass ein selbstermächtigender Unterricht für alle Lerner*innen nötig und wünschenswert ist, in keiner Weise hinterfragt. So ist fraglich, ob das Konzept der Selbstermächtigung beliebig auf andere Kulturkreise übertragbar ist oder einer westlichen Denktradition entstammt, die ihrerseits ein bestimmtes Wertesystem zugrunde legt und in ihrer Übertragung auf andere Denktraditionen paternalistisch wirkt. Die Möglichkeit, dass die geforderte Aufgabe, gegen die „eigene Verzweckung und Funktionalisierung aufzutreten" (37), von außen auf die Teilnehmenden aufgepfropft wird, ist zumindest nicht gänzlich auszuschließen. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass Widhalm keine afrikanischen oder asiatischen Theoretiker*innen oder solche der arabischsprachigen Welt nennt (mit Ausnahme von Edward Said und Gayatri C. Spivak, die beide jedoch im Laufe ihrer Bildungsbiografie eine starke westliche Prägung erfahren haben).

    Ob die Losung der Selbstermächtigung im Kontext von Fluchtmigration begeistert aufgenommen wird, ist mindestens ungewiss. Gerade im Kontext einer traumatischen Fluchterfahrung ist das Ankommen und die Assimilation in ein stabiles Regelsystem ein gangbarer Weg, mit vergangenen Erlebnissen umzugehen und dem Ziel, sich ein neues Leben aufzubauen, etwas näher zu kommen ([6] 2011). Ein bewusstes Ablehnen einer (reziproken) Integration durch die Betroffenen muss also wenigstens in Erwägung gezogen werden, selbst wenn diese Sorge postwendend als unbegründet entlarvt werden könnte. Freire tut dies beispielsweise, wenn er von der „Furcht vor der Freiheit" schreibt ([2] 1998: 34–35). Überhaupt wird der Integrationsbegriff bei Widhalm zum Kampfwort. Indem sie dem Integrationsbegriff eine ihm innewohnende neoliberale Logik unterstellt, erinnert er vor allem an rechte politische Rhetorik, von der sie sich sodann in aller Deutlichkeit abgrenzt: Mehr als um die Integration in ein deutschsprachiges Normen- und Regelsystem müsse es darum gehen, den Lernenden den Raum und die sprachlichen Kompetenzen zu geben, sich als eigenständige und selbstbewusste Persönlichkeiten in diesem System zu bewegen (vgl. 44, 49). Diese contradictio in adiecto, nämlich die Tatsache, dass ihre Forderung nicht „Integration" entgegensteht, sondern im Gegenteil bereits den Kern des Begriffes darstellt, vor allem in Abgrenzung zu Begriffen wie der Assimilation, entgeht Widhalm hierbei jedoch. Berry definierte schon 1997 Integration als einen reziproken Zustand beidseitiger Offenheit, der zu Veränderungen sowohl der Neuankömmlinge als auch der Aufnahmegesellschaften führt (vgl. [1] 1997).

    Abschließend sei auf ein großes Potenzial der Arbeit hingewiesen, nämlich die Problematisierung der Inhalte gängiger Lehrwerke sowie -- damit verbunden -- eine Sensibilisierung für selbstermächtigenden und persönlichkeitsbildenden Unterricht bei Quer- und Seiteneinsteiger*innen. Leider taucht das Thema Lehrwerke nur als Randbemerkung an mehreren Stellen der Arbeit auf (36, 76–77) und leider ist die Arbeit in einem derart komplexen und wissenschaftlichen Duktus verfasst, dass sie ein nicht-akademisches Zielpublikum (bzw. selbst ein akademisches Publikum ohne geisteswissenschaftlichen Hintergrund und Vorkenntnisse in gender/postcolonial studies) nicht erreichen wird. Das sollten Widhalms Forderungen aber durchaus, denn ein machtkritischer, lernendenzentrierter und persönlichkeitsbildender Unterricht ist wichtig, modern und heutzutage unumgänglich. Lehrpersonen mit einer soliden Ausbildung sind sich dessen längst bewusst und verfügen über das Handwerkszeug, einen solchen Unterricht zu leisten. Das beweisen nicht zuletzt die sehr reflektierten, qualifizierten und problembewussten Aussagen ihrer vier Gesprächspartnerinnen: Alle sprechen eigenständig genau das an, was Widhalm den Lehrpersonen zunächst abspricht, sind ihrer Argumentation also gewissermaßen voraus. Quereinsteiger*innen hingegen, denen unter Umständen der Mut und das Handwerkszeug fehlt, um einen selbstermächtigenden und persönlichkeitsbildenden Unterricht umzusetzen, orientieren sich in der Regel stark an den ihnen vorliegenden Lehrwerken, sodass sie in der Tat Gefahr laufen, „Handlanger des Systems" (8) zu werden. Eine machtkritische Analyse von Lehrwerken ist daher dringend angezeigt, denn diese reproduzieren in der Tat Klischees, paternalistische und neoliberale Werte sowie Redemittel und Alltagssituationen, die den Teilnehmenden keinerlei kritische Selbstentfaltung ermöglichen.

    Eine solche kritische Analyse der Lehrwerke in Verbindung mit einem weiterführenden Empowerment der Lehrpersonen könnte tatsächlich dazu führen, dass sich selbstermächtigender Unterricht, wie Widhalm ihn fordert, in einer größeren Breite etablieren lässt. Denn, so schreibt die Autorin, es seien Lehrpersonen nötig, die sich nicht als Bestandteil einer Maschinerie verstehen, die „brave Migrantinnen" hervorbringt (55) und Sprachkenntnisse einzig und allein als Ressource und Kompetenz für den Arbeitsmarkt versteht (vgl. 78). Vielmehr brauche es Lehrende, die sich selbst hinterfragen, in ihren rassialisierenden und marginalisierenden Denkstrukturen, um einen paternalistisch-neoliberalen Zugang in ihrem Unterricht zu vermeiden (vgl. 45–46), so Widhalm. Es bleibt zu hoffen, dass ihr Buch und die Workshops, die sie anbietet, tatsächlich zur Erreichung dieses hehren Ziels beitragen können.

    Literatur 1 Berry, John W. (1997): „Immigration, Acculturation, and Adaption". In: Applied Psychology: An International Review 46, 1, 5–68. 2 Freire, Paulo (1998): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Hamburg: Rowohlt. 3 Goethe-Institut (2016): Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache. Im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. München: Goethe-Institut e.V. 4 Kramsch, Claire (2006): „From Communicative Competence to Symbolic Competence". In: The Modern Language Journal 90, 2, 249–252. 5 Kramsch, Claire (2014): „Language and Culture". In: AILA Review 27, 1, 30–55. 6 Krüger, Andreas (2011): Powerbook -- Erste Hilfe für die Seele. Trauma-Selbsthilfe für junge Menschen. Hamburg: Elbe & Krüger.

    By Janek Scholz

    Reported by Author

    Titel:
    Selbstermächtigender Unterricht im Kontext von DaF/Z. Wien
    Autor/in / Beteiligte Person: Scholz, Janek
    Link:
    Zeitschrift: Info DaF: Informationen Deutsch als Fremdsprache, Jg. 48 (2021-04-01), Heft 2/3, S. 343-347
    Veröffentlichung: 2021
    Medientyp: review
    ISSN: 0724-9616 (print)
    DOI: 10.1515/infodaf-2021-0062
    Schlagwort:
    • SELBSTERMACHTIGENDER Unterricht im Kontext von DaF/Z (Book)
    • WIDHALM, Corinna
    • FOREIGN language education
    • EMIGRATION & immigration
    • NONFICTION
    • Subjects: SELBSTERMACHTIGENDER Unterricht im Kontext von DaF/Z (Book) WIDHALM, Corinna FOREIGN language education EMIGRATION & immigration NONFICTION
    Sonstiges:
    • Nachgewiesen in: DACH Information
    • Sprachen: German
    • Language: German
    • Document Type: Book Review
    • Author Affiliations: 1 = Köln Köln, Germany
    • Full Text Word Count: 1560

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