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Kant's Lectures on Metaphysics. A Critical Guide.

Lorini, Gualtiero
In: Kant-Studien, Jg. 112 (2021-06-01), Heft 2, S. 305-313
Online review

Kant's Lectures on Metaphysics. A Critical Guide. Hrsg. von Courtney D. Fugate. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 251 Seiten. ISBN 978-1-107-17698-0 

Fugate, Courtney D. Kant's Lectures on Metaphysics. A Critical Guide Cambridge Cambridge University Press 2018 978-1-107-17698-0 1 251

In einem Brief vom 21. Februar 1696 schrieb Leibniz an Placcius: „Qui me nonnisi editis novit, non novit" L. Dutens, Leibnitii opera omnia. Genf: de Tournes, 1767. Bd. VI.1, 65. („Wer mich nur aus meinen veröffentlichten Schriften kennt, kennt mich nicht"). Dieser autobiografische Hinweis von Leibniz scheint vom Herausgeber dieses Bandes idealtypisch übernommen worden zu sein. Hier werden die Vorlesungen zur Metaphysik systematisch kommentiert, die Kant während seiner vierzigjährigen akademischen Karriere an der Albertina-Universität Königsberg mit außerordentlicher Kontinuität und fast immer auf der Grundlage von A. G. Baumgartens Metaphysica hielt. Der Band besteht aus zehn Aufsätzen, die sich auf alle in diesen Vorlesungen behandelten Gebiete beziehen: Prolegomena, Ontologie, Kosmologie, empirische Psychologie, rationale Psychologie, Naturaltheologie.

Wie der Herausgeber in seinem methodisch wertvollen Vorwort bemerkt, stellen diese Vorträge eine „unvollkommene, aber unersetzliche" Dokumentation dar (12), die immer als Teil einer umfassenderen Überlegung zu verwenden ist, d. h. im Rahmen eines „‚Korpus' von sich gegenseitig abtönenden Materialien, nämlich veröffentlichten Schriften, Vorlesungen, Notizen und unveröffentlichten Reflexionen" (3, 15). Solch ein weitreichender Ansatz soll es möglich machen, die sogenannte „Doppelleben-Theorie", nach der Kants Lehrtätigkeit bloß parallel zu seiner eigenen Philosophie zu interpretieren sei, völlig auszuschließen (4). Ein besonderer unter den vielen Verdiensten des Vorworts und der Arbeit überhaupt ist die Vorstellung einiger grundlegender Mittel für die Konsultation und Analyse von Kants Vorlesungen, auch jenseits der Metaphysik. So wird mehrfach auf die von Steven Naragon herausgegebene Webseite hingewiesen: „Kant in the Classroom: Materials to Aid the Study of Kant's Lectures", https://users.manchester.edu/FacStaff/SSNaragon/Kant/Home/index.htm. wobei man sich auch auf die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804) hätte beziehen können, Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg. Hrsg. von R. Pozzo und M. Oberhausen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999. die 1999 von Riccardo Pozzo und Michael Oberhausen veröffentlicht worden sind.

Neben den philologischen Schwierigkeiten bei der Lektüre dieses oft fragmentarischen Materials, in dem Latein und Deutsch in manchmal unentwirrbarer Weise vermischt sind, gibt es auch eine hermeneutische Schwierigkeit, von der viele Essays in der Sammlung berichten. Es geht um die Schwierigkeit, zwischen den Passagen zu unterscheiden, in denen Kant die Thesen des kommentierten Autors lediglich wiederholt oder zusammenfasst, ohne sie zu beurteilen, und denjenigen, in denen er an den Thesen des Handbuchs festhält. Diese Problematisierung bietet eine klarere Vorstellung jenes empfindlichen Gleichgewichts zwischen Risiken und Chancen, das sich vor jedem Interpreten dieser Vorlesungen auftut.

Eines dieser Risiken wird durch den ersten Essay der Sammlung gut veranschaulicht, in dem John H. Zammito die Herderschen Notizen aus den von Kant zwischen 1762 und 1764 gehaltenen Metaphysik-Kursen untersucht. Unter Verweis auf Norbert Hinske und Steve Naragon hebt Zammito wiederum die methodologischen Aspekte hervor, auf die man achten muss, damit dieses Material überhaupt einem besseren Verständnis der kantischen Philosophie dienen kann. Der Autor fasst die Gründe für die objektive Relevanz dieser Vorlesungen zusammen: Sie sind die ältesten verfügbaren Anmerkungen (die einzigen zur Metaphysik der vorkritischen Periode); sie sind ein ziemlich reichhaltiges Material, das viele Versionen des Kurses umfasst; und wahrscheinlich wurden sie tatsächlich während der Vorlesungen verfasst. Wie S. Naragon jedoch betonte: Man muss die Aufmerksamkeit immer hoch bleiben, um Kants Worte von Herders Interpolationen zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die Naragon (sowie Zammito) auf jeden Fall für möglich hält (15). Siehe auch S. Naragon, „Reading Kant in Herder's Lecture Notes". In: Reading Kant's Lectures. Hrsg. von R. Clewis. Berlin/Boston 2015, 37–63, hier 46. Kants dichte Produktion der frühen 60er-Jahre wird von einem wichtigen Leitfaden charakterisiert, der sich in seinen Lehren dieser Jahre widerspiegelt: „Kant unterstützte Crusius gegen den Wolffschen Versuch, das Materielle/Reale unter das Formale/Logische durch das Prinzip der Identität/Widersprüchlichkeit zu subsumieren. Aber Crusius [...] war zu leichtfertig vorgegangen, um eine alternative Basis für Gewissheit als undifferenzierte Selbstverständlichkeit anzunehmen" (25). Diese Aufmerksamkeit für die empirische Dimension findet besonders fruchtbaren Boden bei dem jungen Herder, der gerade als Kant-Schüler seine erste philosophische Schrift – den Versuch über das Sein (1763) – verfasst. Zammito weist darauf hin, dass die unbestreitbare Kritik Herders an Kants Beweisgrund jedoch aus Voraussetzungen stamme, die stark in der kantischen Philosophie dieser Jahre verwurzelt seien. Tatsächlich betrachte Herder die kantische Schrift über die Demonstration des Daseins Gottes als einen Rückschritt gegenüber der anti-wolffschen Kritik, die er zu radikalisieren gedenke, mit Ergebnissen, die ihn immer mehr von Kant entfernen werden.

Karin De Boer stellt sich in ihrem Essay eine weitreichende historische und theoretische Aufgabe, indem sie die verschiedenen Versionen der Prolegomena zur Metaphysik (von der Metaphysik-Herder bis zum Metaphysik-Volckmann von 1785) miteinander vergleicht. De Boer zufolge zeigen diese Teile der Vorlesungstranskripte womöglich deutlicher als das veröffentlichte Werk, dass nämlich die Idee der Transzendentalphilosophie als das Ergebnis von Kants Bemühen zu lesen sei, zu bestimmen, „was in der Wolffschen Metaphysik wertvoll und wertlos ist" (31). Besondere Aufmerksamkeit verdient in dieser Untersuchung die sogenannte Metaphysik L1, über deren Datierung viel diskutiert wurde, die aber auf jeden Fall in die Mitte der 1770er-Jahre gelegt werden kann. Es geht um eine rätselhafte Periode sowohl für das berühmte Schweigen Kants als auch für die Nähe zu einem Übergangstext wie der Dissertatio von 1770. Darüber hinaus unterstreicht der Essay, dass die Prolegomena zu den Kursen der 1780er-Jahre als wertvolle Vergleichsmaterialien gelten, um einige problematische Stellen der KrV bezüglich des Verhältnisses zwischen transzendentaler Philosophie und Ontologie zu entziffern.

Solch ein Verhältnis steht im Zentrum von Huaping Lu-Adlers Untersuchung, die einerseits behauptet, dass sich in den kantischen Schriften eine Identifikation zwischen Ontologie und Transzendentalphilosophie nachweisen lasse, aber andererseits hinzufügt, dass wir uns nur durch die Vorlesungen über Metaphysik „ein vollständiges Bild von der historischen und philosophischen Bedeutung dieser Identifikation machen können" (53). Ausgangspunkt der Autorin ist ein historischer Excursus, aus dem das kantische Ziel hervorgeht, die präliminäre Rolle der Ontologie in Bezug auf die Metaphysik zu bewahren, aber gleichzeitig deren methodischen Ansatz im Gegensatz zum dogmatischen kritisch zu definieren. In diesem Sinne soll eine kantische Ontologie als Transzendentalphilosophie sich durch eine Kritik bilden, die a priori Begriffe und Grundsätze ableitet, deren volle Erfüllung aber nur in der Anwendung auf die sinnliche Erfahrung bestehen darf. Die Autorin analysiert geduldig viele der nicht immer ganz klaren Passagen in den Vorlesungen aus den 1770er- bis 1790er-Jahren. Die semantischen Schwankungen im Bereich der Ontologie und Transzendentalphilosophie in den Vorlesungen sprechen dafür, dass die gegenseitige Annährung dieser zwei Disziplinen die Erweiterung auf die Ontologie der verschiedenen Sinne erfordere, die die Transzendentalphilosophie in der Evolution von Kants Idee eines Systems der reinen Vernunft erworben hat. In der Kritik beschäftigt sich die Transzendentalphilosophie nicht nur mit den Grund-Begriffen und Grundsätzen unserer a-priori-Erkenntnisse überhaupt, sondern hat die strengere Aufgabe, uns zu sagen „daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind" (KrV, A 56/B 80). Solch ein Schritt, durch den sich die Ontologie als eine Wissenschaft transzendental bestimmen lässt – so die Autorin –, „ist wesentlich für seinen [Kants] weiteren Plan, die Metaphysik als Wissenschaft zu sichern" (69).

Im Herzen von Kants Auseinandersetzung mit dem traditionellen Status der Metaphysik als Wissenschaft steht die Debatte über die Hauptgrundsätze der Metaphysik. In diesem Sinne konzentriert sich Nicholas S. Stang auf die vielfältigen, aber nicht immer ausreichend berücksichtigten Bedeutungen des Begriffs „Grund", der als Voraussetzung für das Verständnis des von Leibniz festgesetzten Prinzips vom zureichenden Grunde dient. Selbst Stangs raffinierte theoretische Analyse entbehrt nicht einer historischen Basis, aus der hervorgeht, dass Kants Betrachtung des Prinzips vom zureichenden Grunde nicht beabsichtige, die zu seinen Vorgängern zugeschriebene Zirkularität bei ihren Formulierungen des Prinzips zu entziehen, sondern lediglich den Inhalt des Prinzips klarer zu stellen. Der Autor fokussiert sich auf eine im deutschen Rationalismus besonders verbreitete Unterscheidung. Was Kant angeht, drücke sie sich in Form des Unterschieds zwischen „erklärendem Grunde" (der die ratio essendi und die ration fiendi umfasst) und „epistemischem Grunde" (der sich mit der ratio essendi deckt) aus. Stang beschäftigt sich anschließend mit Kants direkter Auseinandersetzung mit dem Prinzip vom zureichenden Grunde: Nach der Analyse von verschiedenen Grund-Beziehungen identifiziert er den „Realgrund" als die von Kant in den Vorlesungen über Metaphysik besonders behandelte Grund-Form. In diesem Zusammenhang geht der Autor auf die Kausalbeziehung ein, um zu zeigen, dass sie das Feld der Realgründe nicht erschöpfe. Tatsächlich gebe es sowohl in der sogenannten vorkritischen als auch in der kritischen Periode bedeutende Beispiele für nicht-kausale Realgründe bzw. Gott und die a priori synthetischen Prinzipien, die der Möglichkeit der Erfahrung zugrunde liegen. Bei den metaphysischen Vorlesungen der 1780er-Jahre finde man Spuren einer solchen Art von „erklärenden nicht-logischen und nicht-kausalen Grund-Beziehungen", die, insofern sie „für Erkenntnisse und nicht für Dinge gilt" (100), auch als epistemische Art aufgefasst werden könne.

Die Analyse des transzendentalen Bereichs setzt sich in Emily Carsons Essay fort. Sie versucht, den scheinbaren Widerspruch aufzulösen zwischen dem einerseits immer wieder behaupteten kantischen Bedürfnis, von der Erfahrung auszugehen, um die a-priori-Prinzipien der menschlichen Erkenntnis kritisch zu untersuchen, und andererseits Kants klarer Ablehnung der dogmatischen Haltung derer, die in der Erfahrung verharren, ohne damit einen Schritt auf der Suche nach der Wahrheit in der Metaphysik voranzuschreiten. Im Zentrum dieses Spannungsfelds steht das Statut von Raum und Zeit, das Kant in einem Brief an L. H. Jakob 1787 (Br, 10: 494) sogar als Ausgangspunkt einer als Anfangsteil eines Systems der Metaphysik aufgefassten Ontologie bezeichnet. Die Autorin bezieht sich kaum auf die semantische Mehrdeutigkeit, mit der sowohl in den Vorlesungen und den Reflexionen als auch in den gedruckten Schriften Raum und Zeit definiert werden (nicht nur als reine Anschauungen, sondern auch als Ideen und Begriffe). Wie Zammito verweilt sie eher bei Kants Rückgriff auf Crusius in den 1760er-Jahren, um den Dogmatismus und die zirkulären Definitionen von Raum und Zeit der Leibniz-Wolffschen Tradition anzugreifen. Ein Wendepunkt in der Auffassung von Raum und Zeit als a-priori-Bedingungen möglicher Erfahrung wird in der Dissertatio von 1770 markiert, obwohl im Rahmen einer solchen Betrachtung die Schrift von 1768 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume vielleicht eine Erwähnung verdient hätte. Mit dem Text von 1770 als Ausgangspunkt rekonstruiert Carson Kants Betrachtung von Raum und Zeit und ihre kritische Deklination in den späteren Vorlesungen, in denen Kant „die Form der Sinnlichkeit als die Quelle der raum-zeitlichen Notionen enthüllt, die seine Vorgänger unkritisch vorausgesetzt hatten" (115).

Mit Courtney D. Fugates Kapitel verlagert sich die Aufmerksamkeit auf den vielleicht am meisten vernachlässigten Teil dieser Vorlesungen, nämlich die Kosmologie, zu der Fugate eine breite und stratifizierte Analyse anbietet. In enger Auseinandersetzung mit Wolff, Baumgarten und Crusius überdenkt Fugate Kants komplexen Versuch, in den Metaphysik-Vorlesungen zu einer endgültigen Definition des Platzes der Kosmologie im System der Metaphysik zu gelangen, das sich wiederum in ständiger Entwicklung befindet. Die zentrale Hypothese besteht darin, dass der Kosmologie, die Kant im entsprechenden Abschnitt von Baumgartens Metaphysik kommentiert, tatsächlich eine vierfache Bedeutung dieser Disziplin zugrunde liege. Diese viergestaltete Bedeutung ergibt sich aus dem Vergleich von Passagen aus der KrV und den Metaphysischen Anfangsgründen derNaturwissenschaft: „eine rationale transzendente Kosmologie [...], eine rationale regulative Kosmologie [...], eine transzendentale Metaphysik der Natur [...] und eine rationale immanente Somatologie, die die metaphysische Körperlehre darstellt" (122). Trotz der Komplexität dieses Materials, das zuweilen sogar widersprüchlich aussieht, bleibt Fugates Analyse durch die ständige Kreuzung dieser sehr heterogenen Passagen mit den gedruckten Texten ausgewogen. Besonders interessant ist die im letzten Teil des Aufsatzes vorgeschlagene Forschungsrichtung. Hier zeigt der Autor, dass Kant Baumgartens These zur Unterstützung der Möglichkeit von Wundern an die Bedürfnisse anpasse, die sich aus seiner eigenen Auffassung der Vernunftautonomie ergeben. Auf der Grundlage der Leibnizschen Doktrin von der besten aller möglichen Welten argumentiert Baumgarten, dass Wunder geschehen können, aber nur unter den außergewöhnlichen Umständen, unter denen die Natur der Welt nicht selbst den besten Zustand hervorbringen kann. Da die kantisch verstandene Vernunft darauf verzichtet, das Wesen der Dinge in sich selbst zu erfassen, könne Kant den Wunder-Grenzfall nicht als ontologisch in der weltlichen Wirklichkeit begründen, sondern müsse das Wunder als einen Begriff anerkennen, der im Hinblick auf das Autonomiebedürfnis der Vernunft eine ordnende Funktion erfülle. Kant habe also „die Freiheit und Autonomie des göttlichen Schöpfungsaktes, so wie Baumgarten ihn sich vorstellt, durch die Freiheit und Autonomie der Vernunft ersetzt" (152), wodurch ein Bild der Welt auftauche, das der kritischen Benutzung der Vernunft selbst besser entspreche.

Paul Guyer lenkt den Fokus auf die ästhetischen Fragen (im Sinne der Schönheitstheorie), die sich in der Kantschen Betrachtung der empirischen Psychologie Baumgartens identifizieren lassen. Er weist darauf hin, dass, obwohl die ausführlichere Diskussion von Themen wie Schönheit und Lust am Schönen hauptsächlich in den Anthropologie-Vorlesungen zu finden ist, die Vorlesungen über Metaphysik den Reifungsweg zentraler Themen von Kants ästhetischer Theorie weiter erhellen können. Guyers quellengeschichtlich starke Voraussetzung besteht darin, dass der wichtigste Beitrag Baumgartens zur Reifung der kantischen Ästhetik in der Metaphysica und nicht in der Aesthetica zu finden sei. Daher stellt Guyer die Entwicklung der Hauptmerkmale von Kants Überlegung des Schönen anhand der Vorlesungen der 1770er-Jahre dar, in denen Kant festsetzt, dass „das Schöne einerseits mit dem bloßen Angenehmen der Sinne und andererseits mit praktischer und moralischer Güte kontrastiert werden muss". Unklar sind in diesen Jahren aber noch Kants Auffassungen sowohl von der menschlichen Tätigkeit, die unserer Lust am Schönen zugrunde liegen soll, als auch der Verbindung solch einer Tätigkeit mit später charakteristischen Elementen des Schönen, „nämlich Ordnung, Proportion, Symmetrie, usw." (168). Mit den Vorlesungen der 1780er-Jahre wird das Objekt der Schönheit dank der Klärung der Rolle der Einbildungskraft besser definiert. Das Spiel der Einbildungskraft wird hier anerkannt als das entscheidende Element bei der Darstellung der Form des Mannigfaltigen, in Bezug auf die unsere Reaktion als ästhetische Lust entsteht. Schließlich zeige sich mit den Kursen der 1790er-Jahre das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand in einer Klarheit, die sogar die Formulierungen der dritten Kritik übertreffen solle.

Der Aufsatz von Heiner F. Klemme liefert ein hervorragendes Beispiel für die untergeordnete und doch zentrale Rolle der Vorlesungen zu jenen Themen, deren Bestimmung dank der gedruckten Schriften hinreichend klar ist, deren Entwicklung und (in einigen Fällen überraschend gequälte) Gestalt aber dank des „Substrats" der unmittelbar vorausgehenden und folgenden Vorlesungen besser rekonstruiert werden kann. Klemme vergleicht die Metaphysik L1 (Mitte der 1770er-Jahre) und die Metaphysik Mrongovius (1782–1783), um zu zeigen, dass die wesentlichen Veränderungen, die in diesen Jahren in Bezug auf den Freiheitsbegriff eintreten, vom kantischen Ich-Begriff abhängen. Basierend auf einer Konzeption des Ichs, die „die Wesentlichkeit, Einfachheit und Immaterialität der menschlichen Seele" (184) zum Ausdruck bringt, könne Kant in der Metaphysik L1 mit Baumgarten darüber übereinstimmen, dass „all unsere Handlungen entweder auf Stimuli oder Motiven [Motiven/Bewegungsgründen] beruhen", und „die Motive zum oberen Begehrungsvermögen (dem Verstand) gehören" (185). Der Autor weist aber darauf hin, dass die Dissertatio Kants in diesen Jahren schon einen Unterschied zwischen sinnlicher und intelligibler Dimension kenne, während dies bei Baumgarten nicht der Fall ist. Diese Unterscheidung stehe hinter Kants transzendentaler Auffassung der Willensfreiheit. Es handelt sich um eine Dimension, deren Hauptfeld die rationale Psychologie ist, in der man „das Ich als den nicht-verursachten Grund für das Denken und Wollen (Handeln)" untersucht (188). Deswegen geht diese Ebene der pragmatischen Freiheit voraus und bestimmt sie, während Baumgartens Behandlung sich auf den Rahmen der empirischen Psychologie reduziert. Baumgarten zufolge wird die Willensfreiheit durch die Möglichkeit bestimmt, nach einem inneren Prinzip zu handeln, das vom Ich durch die Übersetzung von sinnlichen Triebfedern in determinierende Willensmotive erworben wird. In seiner ersten „post-kritischen" VL zur Metaphysik überarbeitet Kant radikal die Mitte der 1770er-Jahre vorgeschlagene Konzeption des Ichs und gibt die Gegenüberstellung des Ichs mit der als Substanz verstandenen Seele auf. Gleichzeitig verlagert er die Behandlung der transzendentalen Freiheit von der rationalen Psychologie zur Kosmologie mit Tönen, die auf die Antinomienlehre anspielen. Diese Passagen können als Vorbereitung auf die grundlegende These gelesen werden: „obwohl wir die Freiheit nicht mit Hilfe der theoretischen Philosophie demonstrieren können, steht ihre praktische Realität außer Frage. Freiheit ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Idee" (190), ein Postulat der praktischen Vernunft. Die praktische Notwendigkeit der Freiheit wird hier anhand der Begriffe „moralische Verbindlichkeit" und „Interesse" erläutert, deren Rolle Kant kurz danach in der Grundlegung genauer definieren wird. Auf diese Weise kann die Betrachtung des didaktischen Hintergrunds, vor dem die Ausarbeitung einer zentralen Doktrin wie jener der Freiheit umrissen wird, zum Studium dieses heiklen Knotenpunkts der kantischen Moralphilosophie beitragen und sogar ihr Verständnis bereichern.

Jennifer Mensch geht in ihrem Aufsatz auf die Probleme ein, denen Kant vor allem Ende der 1770er-Jahre begegnete, als er nämlich sein eigenes kritisches Projekt zwischen den extremen Gegensätzen vom Psychologismus und Empirismus in Bezug auf den Seelenbegriff bestimmen musste. Das grundlegende methodologische Bedürfnis, auf das er seit der Nachricht von 1765 – als Teil eines umfassenderen Projekts zur Reform der Metaphysik – in Bezug auf die Psychologie hingewiesen hatte, war die Vermeidung der Subreption, verstanden als die Forderung nach empirischen Elementen zur Erklärung von Dingen, die niemals Gegenstand von Erfahrungen sein können. Darin sieht die Autorin einen Einwand gegen die Wolffsche Konzeption des funktionalen Zusammenhangs zwischen empirischer Psychologie und rationaler Psychologie, ein Irrtum, dem Baumgarten (vielleicht etwas oberflächlich definiert als „Wolffs engster Schüler", 196) in den Augen Kants weniger ausgesetzt sei. In ihrer eigenen Analyse muss sich Mensch also auch auf die Vorlesungen zur Anthropologie beziehen, die Kant in den 1770er-Jahren auf der Grundlage des der empirischen Psychologie gewidmeten Abschnitts von Baumgartens Metaphysica zu halten beginnt. In diesen Vorlesungen „überträgt" Kant einige Aspekte der empirischen Psychologie in die Anthropologie, die wegen der Gefahr der Subreption nicht mehr in Kontinuität mit der rationalen Psychologie und damit im Bereich der Metaphysik behandelt werden konnten. Dennoch „selbst als Kant bereit war, Teile der empirischen Psychologie wieder der Anthropologie zuzuordnen, war er darüber hinaus immer noch entschlossen, darauf zu bestehen, dass dies nichts mit der psychologischen Anthropologie zu tun habe, die von seinen Zeitgenossen gefördert wurde" (209). Unter diesen „Zeitgenossen" nennt Mensch Autoren, die stark von der ärztlichen Anthropologie E. Plattners beeinflusst sind, wie z. B. J. G. Herder und insbesondere J. N. Tetens. Tatsächlich sei es meistens auf den Einfluss von Tetens Philosophische[n] Versuche[n] (1777) zurückzuführen, dass in der nunmehr berühmten Metaphysik L1 Kant „zum ersten Mal eine neue Reihe von Unterscheidungen in seiner Darstellung der geistigen Vermögen" beschreibe (209). Was den epistemischen Zustand der empirischen und rationalen Psychologie nach der kritischen Wende angeht, so schließt die Autorin: „Obwohl Kant die empirische Psychologie in der Kritik der reinen Vernunft weiterhin kritisch betrachtete [...], bezog er die rationale Physiologie als Teil einer transzendental fundierten Darstellung der Natur mit ein, und er war bereit, die rationale Psychologie als den einzig sicheren Weg zur praktischen Anwendung der Ideen über die Seele neu zu orientieren" (212).

Im letzten Aufsatz der Sammlung berücksichtigen Brian A. Chance und Lawrence Pasternack sowohl die religionsphilosophischen VL (Religionslehre Pölitz, 1783–1784) als auch den der natürlichen Theologie gewidmeten Teil der Vorlesungen über Metaphysik, jedoch immer mit einem ständigen Bezug auf die zeitgenössischen Druckschriften. Die Autoren machen deutlich, dass Kant den Deismus zwar im Kontext der deutschen allgemeinen Ablehnung dieser Position versteht, aber seine Ablehnung auf eigenständigen Aspekten beruht. Tatsächlich basiert die rationalistische Ablehnung des Deismus darauf, dass er eine begrenzte spekulative Untersuchung des Gottesbegriffs erlaubt, was ihn dem Atheismus gefährlich nahebringt. Angesichts des sterilen analytischen Ansatzes des Wolffschen Rationalismus, den Kant in der ersten Kritik weitgehend angreift, behaupten Chance und Pasternack, dass „die rationalistischen Theologen [...] direkt zurück in den Deismus sensu Kant treten" (225). Kants Idee des rationalistischen Deismus sei in der Tat wesentlich apophatisch, während er glaube, man solle ihn zugunsten eines kritisch aufgefassten Theismus überwinden. Solch ein Theismus finde Anwendung in der regulativen Funktion der Vernunft, wie sie im Anhang zur Transzendentalen Dialektik (A 686–687/B 714–715) beschrieben ist und stelle sich der unkritischen Funktion der rationalistischen Theologie Wolffs entgegen. Der Unterscheidung zwischen kritischem und unkritischem Theismus liege eine verschiedene Auffassung der Analogie zugrunde, die als Mittel gelten soll, um über Gott spekulativ sprechen zu können. Das analoge Verfahren des rationalistischen Theismus decke sich mit einem dogmatischen Anthropomorphismus, weil es Gott in höchstem Maße Merkmale zuschreibt, die die menschliche Erkenntnis nur teilweise und unvollkommen besitze. Dagegen gehe Kant in Richtung eines „symbolischen Anthropomorphismus" (Prol, AA 04: 357). Sein Modell weise nicht auf eine „unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge" hin, sondern auf eine „vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen" (Prol, AA 04: 357; V-Th/Pölitz, AA 28: 1023; V-Met-L2/Pölitz, AA 28: 605) (231), d. h. zwischen den Arten und Weisen, wie bzw. Gott als Ordnungsprinzip der Natur und der Mensch als Autor seiner eigenen Artefakte wirken.

Unter den Leitmotiven, die sich in den verschiedenen Essays finden, sticht vor allem eines hervor, das die Notwendigkeit betont, im Panorama der deutschen Schulmetaphysik die Auseinandersetzung mit der Metaphysica von A. G. Baumgarten zu vertiefen. Bekanntlich hat Kants Entscheidung, sich in seinen Metaphysik-Vorlesungen auf dieses Handbuch zu beziehen, tiefgreifende methodische und inhaltliche Gründe, die das Bild vom Baumgartens Text als eine Art Filter stärken, durch den Kant die schulmetaphysische Tradition mit einer Zugangs- und Lexikonfreiheit betrachtet, die in den gedruckten Texten kaum zu finden ist. Es ist kein Zufall, dass dieser Band von einem der Übersetzer der Metaphysica ins Englische herausgegeben worden ist, der im selben Jahr (zusammen mit dem anderen Übersetzer der Metaphysica, John Hymers) eine weitere Sammlung veröffentlicht hat: Baumgarten and Kant on Metaphysics (Oxford: Oxford University Press). Idealerweise können die zwei Bände als zwei Hälften eines einzigen Projekts gelesen werden. Zweifellos gilt Baumgarten als ein ständiger und privilegierter Gesprächspartner für Kant, selbst in Texten wo es nicht unmittelbar spürbar ist, und der vorliegende Band lässt das auf wertvolle Weise hervortreten, indem er ein Erbe wie das der Vorlesungen, das uns noch viel zu sagen hat, aufwertet.

By Gualtiero Lorini

Reported by Author

Titel:
Kant's Lectures on Metaphysics. A Critical Guide.
Autor/in / Beteiligte Person: Lorini, Gualtiero
Link:
Zeitschrift: Kant-Studien, Jg. 112 (2021-06-01), Heft 2, S. 305-313
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0022-8877 (print)
DOI: 10.1515/kant-2020-0024
Schlagwort:
  • CAMBRIDGE University Press
  • KANT'S Lectures on Metaphysics: A Critical Guide (Book)
  • METAPHYSICS
  • LECTURES & lecturing
  • Subjects: CAMBRIDGE University Press KANT'S Lectures on Metaphysics: A Critical Guide (Book) METAPHYSICS LECTURES & lecturing
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Università Cattolica del Sacro Cuore, Institut für Philosophie, Largo Gemelli 1, I-20123 Mailand, Italy
  • Full Text Word Count: 3537

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