Fugate, Courtney D. Kant's Lectures on Metaphysics. A Critical Guide Cambridge Cambridge University Press 2018 978-1-107-17698-0 1 251
In einem Brief vom 21. Februar 1696 schrieb Leibniz an Placcius: „Qui me nonnisi editis novit, non novit" L. Dutens, Leibnitii opera omnia. Genf: de Tournes, 1767. Bd. VI.1, 65. („Wer mich nur aus meinen veröffentlichten Schriften kennt, kennt mich nicht"). Dieser autobiografische Hinweis von Leibniz scheint vom Herausgeber dieses Bandes idealtypisch übernommen worden zu sein. Hier werden die Vorlesungen zur Metaphysik systematisch kommentiert, die Kant während seiner vierzigjährigen akademischen Karriere an der Albertina-Universität Königsberg mit außerordentlicher Kontinuität und fast immer auf der Grundlage von A. G. Baumgartens Metaphysica hielt. Der Band besteht aus zehn Aufsätzen, die sich auf alle in diesen Vorlesungen behandelten Gebiete beziehen: Prolegomena, Ontologie, Kosmologie, empirische Psychologie, rationale Psychologie, Naturaltheologie.
Wie der Herausgeber in seinem methodisch wertvollen Vorwort bemerkt, stellen diese Vorträge eine „unvollkommene, aber unersetzliche" Dokumentation dar (
Neben den philologischen Schwierigkeiten bei der Lektüre dieses oft fragmentarischen Materials, in dem Latein und Deutsch in manchmal unentwirrbarer Weise vermischt sind, gibt es auch eine hermeneutische Schwierigkeit, von der viele Essays in der Sammlung berichten. Es geht um die Schwierigkeit, zwischen den Passagen zu unterscheiden, in denen Kant die Thesen des kommentierten Autors lediglich wiederholt oder zusammenfasst, ohne sie zu beurteilen, und denjenigen, in denen er an den Thesen des Handbuchs festhält. Diese Problematisierung bietet eine klarere Vorstellung jenes empfindlichen Gleichgewichts zwischen Risiken und Chancen, das sich vor jedem Interpreten dieser Vorlesungen auftut.
Eines dieser Risiken wird durch den ersten Essay der Sammlung gut veranschaulicht, in dem John H. Zammito die Herderschen Notizen aus den von Kant zwischen 1762 und 1764 gehaltenen Metaphysik-Kursen untersucht. Unter Verweis auf Norbert Hinske und Steve Naragon hebt Zammito wiederum die methodologischen Aspekte hervor, auf die man achten muss, damit dieses Material überhaupt einem besseren Verständnis der kantischen Philosophie dienen kann. Der Autor fasst die Gründe für die objektive Relevanz dieser Vorlesungen zusammen: Sie sind die ältesten verfügbaren Anmerkungen (die einzigen zur Metaphysik der vorkritischen Periode); sie sind ein ziemlich reichhaltiges Material, das viele Versionen des Kurses umfasst; und wahrscheinlich wurden sie tatsächlich während der Vorlesungen verfasst. Wie S. Naragon jedoch betonte: Man muss die Aufmerksamkeit immer hoch bleiben, um Kants Worte von Herders Interpolationen zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die Naragon (sowie Zammito) auf jeden Fall für möglich hält (
Karin De Boer stellt sich in ihrem Essay eine weitreichende historische und theoretische Aufgabe, indem sie die verschiedenen Versionen der Prolegomena zur Metaphysik (von der Metaphysik-Herder bis zum Metaphysik-Volckmann von 1785) miteinander vergleicht. De Boer zufolge zeigen diese Teile der Vorlesungstranskripte womöglich deutlicher als das veröffentlichte Werk, dass nämlich die Idee der Transzendentalphilosophie als das Ergebnis von Kants Bemühen zu lesen sei, zu bestimmen, „was in der Wolffschen Metaphysik wertvoll und wertlos ist" (
Solch ein Verhältnis steht im Zentrum von Huaping Lu-Adlers Untersuchung, die einerseits behauptet, dass sich in den kantischen Schriften eine Identifikation zwischen Ontologie und Transzendentalphilosophie nachweisen lasse, aber andererseits hinzufügt, dass wir uns nur durch die Vorlesungen über Metaphysik „ein vollständiges Bild von der historischen und philosophischen Bedeutung dieser Identifikation machen können" (
Im Herzen von Kants Auseinandersetzung mit dem traditionellen Status der Metaphysik als Wissenschaft steht die Debatte über die Hauptgrundsätze der Metaphysik. In diesem Sinne konzentriert sich Nicholas S. Stang auf die vielfältigen, aber nicht immer ausreichend berücksichtigten Bedeutungen des Begriffs „Grund", der als Voraussetzung für das Verständnis des von Leibniz festgesetzten Prinzips vom zureichenden Grunde dient. Selbst Stangs raffinierte theoretische Analyse entbehrt nicht einer historischen Basis, aus der hervorgeht, dass Kants Betrachtung des Prinzips vom zureichenden Grunde nicht beabsichtige, die zu seinen Vorgängern zugeschriebene Zirkularität bei ihren Formulierungen des Prinzips zu entziehen, sondern lediglich den Inhalt des Prinzips klarer zu stellen. Der Autor fokussiert sich auf eine im deutschen Rationalismus besonders verbreitete Unterscheidung. Was Kant angeht, drücke sie sich in Form des Unterschieds zwischen „erklärendem Grunde" (der die ratio essendi und die ration fiendi umfasst) und „epistemischem Grunde" (der sich mit der ratio essendi deckt) aus. Stang beschäftigt sich anschließend mit Kants direkter Auseinandersetzung mit dem Prinzip vom zureichenden Grunde: Nach der Analyse von verschiedenen Grund-Beziehungen identifiziert er den „Realgrund" als die von Kant in den Vorlesungen über Metaphysik besonders behandelte Grund-Form. In diesem Zusammenhang geht der Autor auf die Kausalbeziehung ein, um zu zeigen, dass sie das Feld der Realgründe nicht erschöpfe. Tatsächlich gebe es sowohl in der sogenannten vorkritischen als auch in der kritischen Periode bedeutende Beispiele für nicht-kausale Realgründe bzw. Gott und die a priori synthetischen Prinzipien, die der Möglichkeit der Erfahrung zugrunde liegen. Bei den metaphysischen Vorlesungen der 1780er-Jahre finde man Spuren einer solchen Art von „erklärenden nicht-logischen und nicht-kausalen Grund-Beziehungen", die, insofern sie „für Erkenntnisse und nicht für Dinge gilt" (
Die Analyse des transzendentalen Bereichs setzt sich in Emily Carsons Essay fort. Sie versucht, den scheinbaren Widerspruch aufzulösen zwischen dem einerseits immer wieder behaupteten kantischen Bedürfnis, von der Erfahrung auszugehen, um die a-priori-Prinzipien der menschlichen Erkenntnis kritisch zu untersuchen, und andererseits Kants klarer Ablehnung der dogmatischen Haltung derer, die in der Erfahrung verharren, ohne damit einen Schritt auf der Suche nach der Wahrheit in der Metaphysik voranzuschreiten. Im Zentrum dieses Spannungsfelds steht das Statut von Raum und Zeit, das Kant in einem Brief an L. H. Jakob 1787 (Br, 10: 494) sogar als Ausgangspunkt einer als Anfangsteil eines Systems der Metaphysik aufgefassten Ontologie bezeichnet. Die Autorin bezieht sich kaum auf die semantische Mehrdeutigkeit, mit der sowohl in den Vorlesungen und den Reflexionen als auch in den gedruckten Schriften Raum und Zeit definiert werden (nicht nur als reine Anschauungen, sondern auch als Ideen und Begriffe). Wie Zammito verweilt sie eher bei Kants Rückgriff auf Crusius in den 1760er-Jahren, um den Dogmatismus und die zirkulären Definitionen von Raum und Zeit der Leibniz-Wolffschen Tradition anzugreifen. Ein Wendepunkt in der Auffassung von Raum und Zeit als a-priori-Bedingungen möglicher Erfahrung wird in der Dissertatio von 1770 markiert, obwohl im Rahmen einer solchen Betrachtung die Schrift von 1768 Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume vielleicht eine Erwähnung verdient hätte. Mit dem Text von 1770 als Ausgangspunkt rekonstruiert Carson Kants Betrachtung von Raum und Zeit und ihre kritische Deklination in den späteren Vorlesungen, in denen Kant „die Form der Sinnlichkeit als die Quelle der raum-zeitlichen Notionen enthüllt, die seine Vorgänger unkritisch vorausgesetzt hatten" (
Mit Courtney D. Fugates Kapitel verlagert sich die Aufmerksamkeit auf den vielleicht am meisten vernachlässigten Teil dieser Vorlesungen, nämlich die Kosmologie, zu der Fugate eine breite und stratifizierte Analyse anbietet. In enger Auseinandersetzung mit Wolff, Baumgarten und Crusius überdenkt Fugate Kants komplexen Versuch, in den Metaphysik-Vorlesungen zu einer endgültigen Definition des Platzes der Kosmologie im System der Metaphysik zu gelangen, das sich wiederum in ständiger Entwicklung befindet. Die zentrale Hypothese besteht darin, dass der Kosmologie, die Kant im entsprechenden Abschnitt von Baumgartens Metaphysik kommentiert, tatsächlich eine vierfache Bedeutung dieser Disziplin zugrunde liege. Diese viergestaltete Bedeutung ergibt sich aus dem Vergleich von Passagen aus der KrV und den Metaphysischen Anfangsgründen derNaturwissenschaft: „eine rationale transzendente Kosmologie [...], eine rationale regulative Kosmologie [...], eine transzendentale Metaphysik der Natur [...] und eine rationale immanente Somatologie, die die metaphysische Körperlehre darstellt" (
Paul Guyer lenkt den Fokus auf die ästhetischen Fragen (im Sinne der Schönheitstheorie), die sich in der Kantschen Betrachtung der empirischen Psychologie Baumgartens identifizieren lassen. Er weist darauf hin, dass, obwohl die ausführlichere Diskussion von Themen wie Schönheit und Lust am Schönen hauptsächlich in den Anthropologie-Vorlesungen zu finden ist, die Vorlesungen über Metaphysik den Reifungsweg zentraler Themen von Kants ästhetischer Theorie weiter erhellen können. Guyers quellengeschichtlich starke Voraussetzung besteht darin, dass der wichtigste Beitrag Baumgartens zur Reifung der kantischen Ästhetik in der Metaphysica und nicht in der Aesthetica zu finden sei. Daher stellt Guyer die Entwicklung der Hauptmerkmale von Kants Überlegung des Schönen anhand der Vorlesungen der 1770er-Jahre dar, in denen Kant festsetzt, dass „das Schöne einerseits mit dem bloßen Angenehmen der Sinne und andererseits mit praktischer und moralischer Güte kontrastiert werden muss". Unklar sind in diesen Jahren aber noch Kants Auffassungen sowohl von der menschlichen Tätigkeit, die unserer Lust am Schönen zugrunde liegen soll, als auch der Verbindung solch einer Tätigkeit mit später charakteristischen Elementen des Schönen, „nämlich Ordnung, Proportion, Symmetrie, usw." (
Der Aufsatz von Heiner F. Klemme liefert ein hervorragendes Beispiel für die untergeordnete und doch zentrale Rolle der Vorlesungen zu jenen Themen, deren Bestimmung dank der gedruckten Schriften hinreichend klar ist, deren Entwicklung und (in einigen Fällen überraschend gequälte) Gestalt aber dank des „Substrats" der unmittelbar vorausgehenden und folgenden Vorlesungen besser rekonstruiert werden kann. Klemme vergleicht die Metaphysik L
Jennifer Mensch geht in ihrem Aufsatz auf die Probleme ein, denen Kant vor allem Ende der 1770er-Jahre begegnete, als er nämlich sein eigenes kritisches Projekt zwischen den extremen Gegensätzen vom Psychologismus und Empirismus in Bezug auf den Seelenbegriff bestimmen musste. Das grundlegende methodologische Bedürfnis, auf das er seit der Nachricht von 1765 – als Teil eines umfassenderen Projekts zur Reform der Metaphysik – in Bezug auf die Psychologie hingewiesen hatte, war die Vermeidung der Subreption, verstanden als die Forderung nach empirischen Elementen zur Erklärung von Dingen, die niemals Gegenstand von Erfahrungen sein können. Darin sieht die Autorin einen Einwand gegen die Wolffsche Konzeption des funktionalen Zusammenhangs zwischen empirischer Psychologie und rationaler Psychologie, ein Irrtum, dem Baumgarten (vielleicht etwas oberflächlich definiert als „Wolffs engster Schüler", 196) in den Augen Kants weniger ausgesetzt sei. In ihrer eigenen Analyse muss sich Mensch also auch auf die Vorlesungen zur Anthropologie beziehen, die Kant in den 1770er-Jahren auf der Grundlage des der empirischen Psychologie gewidmeten Abschnitts von Baumgartens Metaphysica zu halten beginnt. In diesen Vorlesungen „überträgt" Kant einige Aspekte der empirischen Psychologie in die Anthropologie, die wegen der Gefahr der Subreption nicht mehr in Kontinuität mit der rationalen Psychologie und damit im Bereich der Metaphysik behandelt werden konnten. Dennoch „selbst als Kant bereit war, Teile der empirischen Psychologie wieder der Anthropologie zuzuordnen, war er darüber hinaus immer noch entschlossen, darauf zu bestehen, dass dies nichts mit der psychologischen Anthropologie zu tun habe, die von seinen Zeitgenossen gefördert wurde" (
Im letzten Aufsatz der Sammlung berücksichtigen Brian A. Chance und Lawrence Pasternack sowohl die religionsphilosophischen VL (Religionslehre Pölitz, 1783–1784) als auch den der natürlichen Theologie gewidmeten Teil der Vorlesungen über Metaphysik, jedoch immer mit einem ständigen Bezug auf die zeitgenössischen Druckschriften. Die Autoren machen deutlich, dass Kant den Deismus zwar im Kontext der deutschen allgemeinen Ablehnung dieser Position versteht, aber seine Ablehnung auf eigenständigen Aspekten beruht. Tatsächlich basiert die rationalistische Ablehnung des Deismus darauf, dass er eine begrenzte spekulative Untersuchung des Gottesbegriffs erlaubt, was ihn dem Atheismus gefährlich nahebringt. Angesichts des sterilen analytischen Ansatzes des Wolffschen Rationalismus, den Kant in der ersten Kritik weitgehend angreift, behaupten Chance und Pasternack, dass „die rationalistischen Theologen [...] direkt zurück in den Deismus sensu Kant treten" (
Unter den Leitmotiven, die sich in den verschiedenen Essays finden, sticht vor allem eines hervor, das die Notwendigkeit betont, im Panorama der deutschen Schulmetaphysik die Auseinandersetzung mit der Metaphysica von A. G. Baumgarten zu vertiefen. Bekanntlich hat Kants Entscheidung, sich in seinen Metaphysik-Vorlesungen auf dieses Handbuch zu beziehen, tiefgreifende methodische und inhaltliche Gründe, die das Bild vom Baumgartens Text als eine Art Filter stärken, durch den Kant die schulmetaphysische Tradition mit einer Zugangs- und Lexikonfreiheit betrachtet, die in den gedruckten Texten kaum zu finden ist. Es ist kein Zufall, dass dieser Band von einem der Übersetzer der Metaphysica ins Englische herausgegeben worden ist, der im selben Jahr (zusammen mit dem anderen Übersetzer der Metaphysica, John Hymers) eine weitere Sammlung veröffentlicht hat: Baumgarten and Kant on Metaphysics (Oxford: Oxford University Press). Idealerweise können die zwei Bände als zwei Hälften eines einzigen Projekts gelesen werden. Zweifellos gilt Baumgarten als ein ständiger und privilegierter Gesprächspartner für Kant, selbst in Texten wo es nicht unmittelbar spürbar ist, und der vorliegende Band lässt das auf wertvolle Weise hervortreten, indem er ein Erbe wie das der Vorlesungen, das uns noch viel zu sagen hat, aufwertet.
By Gualtiero Lorini
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