Glezer, Tal Kant on Reality, Cause, and Force. From the Early Modern Tradition to the Critical Philosophy Cambridge/New York Cambridge University Press 2018 978-1-108-42069-3 1 225
Glezers Buch möchte die Rolle des seiner Ansicht nach in der Forschung nicht ausreichend berücksichtigten Realitätsbegriffs „im Herzen des kritischen Projekts" zur Geltung bringen (
Zur Umsetzung seines Vorhabens führt G. im 1. Teil des Buches Suárez' Begriff der Realität als substantieller Form ein, die Ausdruck individueller Wesenheit sei und so die kausalen Dispositionen einzelner Dinge erklärbar mache. Kants eigener Realitätsbegriff stehe in der Nachfolge der scholastischen Tradition, wie sie von Descartes als unintelligibel verworfen wurde, nur um bereits im Zuge von Leibnizens in der vis viva-Debatte formulierten Kritik am Mechanismus des Cartesianismus wieder rehabilitiert zu werden. Dieser überzeugende Teil endet mit einer gut argumentierten Darstellung des Kontinuitätsprinzips im Zusammenhang mit dem dynamischen Kraftbegriff bei Leibniz.
Der 2. Teil über die Größe der Realität setzt mit dem 4. Kapitel über Kants Einführung der negativen Größen in gleichnamiger Abhandlung ein. Im nächsten Kapitel wird die für das Buch zentrale Engführung des Realitäts- und des Kontinuitätsbegriffs bei Kant dargestellt. Anhand jener werden im 6. Kapitel Objektivität und der für G.s Auslegung entscheidende Anspruch Kants der Quantifizierung der Realität durch Diskussion der Antizipationen der Perzeption und der zweiten Analogie der Erfahrung (wobei G. letztere als Erweiterung ersterer deutet) herausgearbeitet. Mit dem 2. Buchteil will G. die zentrale Stellung sowie die im ersten Teil ausgeführte Genealogie und Kontinuität des Realitätsbegriffs bei Kant mit der scholastischen Tradition belegen und zeigen, auf welche Weise die bei seinen Vorläufern vorgefundenen Problemlagen Kant zur Konzeption seiner kritischen Philosophie und zu seiner Auffassung über die Möglichkeit von Naturwissenschaft führen (
Der 3. Teil zum All der Realität und dem transzendentalen Ideal, der die KrV mit den MAN zusammenliest, besteht in der Thematisierung der regulativen Idee der Vernunft dargestellt anhand einer Interpretation von Newtons Theorie der Gravitation als Ideal der Annäherung an eine Realität, wie sie gemäß der Einheit der Natur und dem Ideal der Systematizität der Natur sein müsste. Auch dieser Teil dient G. zur Untermauerung seiner These, dass es Kant darum gehe, die Realität als durch eine Größe messbar darzustellen. Sie müsse als bewegende Kraft verstanden werden, nicht nur als Ursache, weil nur so die Bedingungen der Homogenität als Voraussetzung einer kommensurablen Mannigfaltigkeit gegeben wären (
Im Allgemeinen hätte eine Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur dem Buch mehr Gewicht und Kontur verleihen können. Vor allem ist zu bemerken, dass G. nicht auf die seiner Meinung nach ungenügende Aufmerksamkeit eingeht, die dem Realitätsbegriff bisher bereits zuteilwurde. So schreibt Hermann Cohen 1883 im Vorwort zu seiner Studie über Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, das sich genau wie G. auf das Thema der Realität als Kontinuität bezieht – im Gegensatz zu G. aber zum Schluss kommt, dass Qualität zwar quantifizierbar, jedoch nicht messbar sei –, dass er beabsichtige, „den Begriff der Realität in seinem Werte für die Begründung der Erkenntnis auszuzeichnen". Hermann Cohen: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik. Mit einer Einleitung von Astrid Deuber-Mankowsky. Wien/Berlin 2013, 81. Auf Giovanellis Arbeit zu den Antizipationen bei Kant, die im Zentrum von G.s Studie stehen und der ebenso wie letzterer die scholastische Genealogie des Kant'schen Realitätsbegriffs hervorhebt, geht er leider genauso wenig ein wie auf Sophie Grapottes Arbeit oder Manfred Franks Betonung der Realität für Kant. Vgl. Sophie Grapotte: La conception kantienne de la réalité. Hildesheim/Zürich/New York 2004; Manfred Frank: „Kants Grundgedanke". In: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt am Main 2007, 160–182; Marco Giovanelli: Reality and Negation – Kant's Principle of Anticipations of Perception. An Investigation of its Impact on the Post-Kantian Debate. Dordrecht/Heidelberg/London/New York 2011 [Studies in German Idealism 11]. Das Weglassen von Kants vorkritischer Diskussion der Realität im Verhältnis zu Gott als dem Realgrund und Josef Schmuckers, Tillmann Pinders und Robert Theis' Studien zum Thema mag G.s wissenschaftsgeschichtlichem Blick geschuldet sein, doch scheint uns Kants Realitätsbegriff in der vorkritischen Phase ohne Berücksichtigung der Rolle Gottes nicht in Gänze begreifbar. Gegenüber Arbeiten wie Eidams, die vor allem auf Kants Begriff des Realgrundes abzielen, und damit durchaus die Wichtigkeit des Realitätsbegriffs hervorheben, hat G. das Verdienst, letzteren im Zusammenhang mit dem Kontinuitätsprinzip herausgearbeitet zu haben. Vgl. Heinz Eidam: Dasein und Bestimmung. Kants Grund-Problem. Berlin/New York 2000. Leider bleibt es bei der Darstellung dieses Zusammenhanges und dessen historischer Herkunft.
Das Hauptmanko dieser Arbeit besteht darin, dass sie die behauptete Zentralität des dargestellten Realitätsbegriffs für die Kantforschung nicht konkret darlegt, womit ihre These nicht überprüfbar ist. Somit erfüllt die Studie ihre angekündigte Absicht nicht. Sie bleibt nur Hinführung zu einer womöglich vielversprechenden These. Das ist schade, weil man dem Verf., der am besten ist, wenn er über Leibniz schreibt, diese Ausarbeitung durchaus zutraut. Man fragt sich, warum er das nicht gemacht hat, statt bloße, wenngleich notwendige Vorstudien zu veröffentlichen.
By Sergey Sistiaga
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