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Kant on Reality, Cause, and Force. From the Early Modern Tradition to the Critical Philosophy.

Sistiaga, Sergey
In: Kant-Studien, Jg. 112 (2021-06-01), Heft 2, S. 318-321
Online review

Tal Glezer: Kant on Reality, Cause, and Force. From the Early Modern Tradition to the Critical Philosophy. Cambridge/New York: Cambridge University Press, 2018. 225 Seiten. ISBN 978-1-108-42069-3 

Glezer, Tal Kant on Reality, Cause, and Force. From the Early Modern Tradition to the Critical Philosophy Cambridge/New York Cambridge University Press 2018 978-1-108-42069-3 1 225

Glezers Buch möchte die Rolle des seiner Ansicht nach in der Forschung nicht ausreichend berücksichtigten Realitätsbegriffs „im Herzen des kritischen Projekts" zur Geltung bringen (2). Mittels einer „historischen Rekonstruktion" (2) der Vorgeschichte des kantischen Realitätsbegriffs und anhand einer „systematischen" (2) dieser in Kants kritischem System problematischen Kategorie will er zeigen, dass sie als signifikanter interpretativer Schlüssel für einige der „zentralsten" und „umstrittensten Aspekte" in Kants Denken dienen könne (13). Zu besagten Aspekten zählen u. a. die Deduktion der Kategorien, Kants Entwicklungsgeschichte sowie der Platz der MAN im System der kritischen Philosophie. Des Weiteren verlange die zwiespältige Rolle der Realität als reiner Verstandesbegriff in der KrV eine Fokussierung auf selbige. Hier sei sie einerseits in ihrer formalen Komponente Kategorie (der Qualität) und somit empirisch objektivierbar, andererseits schiene sie in ihrer materialen Komponente der „abstrakten" und jenseits von Erfahrung liegenden „systematischen Ordnung der Natur" oder dem „Ding an sich" näher zu stehen, womit sich der Realitätsbegriff in einer „delikaten Situation" befände (1–2). Im Anschluss stellt G. eine Bedingung für jede umfassende Kantlektüre auf: Sie müsse angesprochene „scheinbar inhärente Spannung" überwinden (2). Inwiefern diese Aufforderung zur Überwindung den interpretatorischen Rahmen verlässt und angesichts der Grundsätzlichkeit der Unterscheidung zwischen Form und Materie womöglich Kants an sich spannungsgeladene Philosophie unkenntlich machen könnte, reflektiert G. nicht weiter.

Zur Umsetzung seines Vorhabens führt G. im 1. Teil des Buches Suárez' Begriff der Realität als substantieller Form ein, die Ausdruck individueller Wesenheit sei und so die kausalen Dispositionen einzelner Dinge erklärbar mache. Kants eigener Realitätsbegriff stehe in der Nachfolge der scholastischen Tradition, wie sie von Descartes als unintelligibel verworfen wurde, nur um bereits im Zuge von Leibnizens in der vis viva-Debatte formulierten Kritik am Mechanismus des Cartesianismus wieder rehabilitiert zu werden. Dieser überzeugende Teil endet mit einer gut argumentierten Darstellung des Kontinuitätsprinzips im Zusammenhang mit dem dynamischen Kraftbegriff bei Leibniz.

Der 2. Teil über die Größe der Realität setzt mit dem 4. Kapitel über Kants Einführung der negativen Größen in gleichnamiger Abhandlung ein. Im nächsten Kapitel wird die für das Buch zentrale Engführung des Realitäts- und des Kontinuitätsbegriffs bei Kant dargestellt. Anhand jener werden im 6. Kapitel Objektivität und der für G.s Auslegung entscheidende Anspruch Kants der Quantifizierung der Realität durch Diskussion der Antizipationen der Perzeption und der zweiten Analogie der Erfahrung (wobei G. letztere als Erweiterung ersterer deutet) herausgearbeitet. Mit dem 2. Buchteil will G. die zentrale Stellung sowie die im ersten Teil ausgeführte Genealogie und Kontinuität des Realitätsbegriffs bei Kant mit der scholastischen Tradition belegen und zeigen, auf welche Weise die bei seinen Vorläufern vorgefundenen Problemlagen Kant zur Konzeption seiner kritischen Philosophie und zu seiner Auffassung über die Möglichkeit von Naturwissenschaft führen (2). Realität, verstanden als Grund der Erfahrung, liege jenseits der Erfahrung. Dieser Konstellation, so G.s These, liege Kants Bestreben zugrunde, einen Weg zur Quantifizierung des qualitativen Aspekts der Realität zu finden. Zu diesem Zweck führe Kant den Begriff der negativen Größen, später den der intensiven Größen ein, um der Realität eine Form der Beschreibbarkeit abzuringen, die ihrer wesentlichen Kontinuität gerecht werde. Daher stehen die Begriffe der Bewegung, Kraft und Kausalität im Fokus der Studie. G.s grundlegende Annahme dabei ist, dass das Problem der Quantifizierbarkeit der Realität Kants Entwicklung hin zur kritischen Philosophie maßgeblich antreibe, zumal Realität dort mittels der reinen Anschauungen a priori als Verstandeskategorie zugänglich gemacht werden soll und in den Antizipationen der Realität „intensive Größe" (KrV, B 208) zugeschrieben wird (6). Diese von seinem Mentor Michael Friedman geprägte Auffassung (gegen dessen „Newtonian reading" Vgl. Michael Friedman: Kant's Construction of Nature. A Reading of the Metaphysical Foundations of Natural Science. Cambridge/New York 2013, xiv. er Leibniz – hinsichtlich Kants Vermittlungsversuch zwischen beiden – etwas stärker betont) führt G. aber nicht weiter zu einem kohärenten Argument bezüglich Kants Entwicklung aus. Gerade die Beschränkung legitimer Erkenntnis auf Erscheinungen im Zuge der Hinwendung zur kritischen Philosophie kann mit Schönfeld als Reflektion auf das Scheitern der vorkritischen Philosophie gelesen werden, somit womöglich auch als ein Scheitern des Kant von G. unterstellten Quantifizierungsprojekts, welches in der Anwendung auf das Ding an sich als Realität qua Qualität scheiterte und so einer Einschränkung bedurfte. Vgl. Martin Schönfeld: The Philosophy of the Young Kant. The Precritical Project. Oxford/New York 2000, 10–14. Hier hätte eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten Beisers, Henrichs, Hinskes oder Kreimendahls zu Kants Entwicklungsgeschichte zu mehr Reflexivität verhelfen können.

Der 3. Teil zum All der Realität und dem transzendentalen Ideal, der die KrV mit den MAN zusammenliest, besteht in der Thematisierung der regulativen Idee der Vernunft dargestellt anhand einer Interpretation von Newtons Theorie der Gravitation als Ideal der Annäherung an eine Realität, wie sie gemäß der Einheit der Natur und dem Ideal der Systematizität der Natur sein müsste. Auch dieser Teil dient G. zur Untermauerung seiner These, dass es Kant darum gehe, die Realität als durch eine Größe messbar darzustellen. Sie müsse als bewegende Kraft verstanden werden, nicht nur als Ursache, weil nur so die Bedingungen der Homogenität als Voraussetzung einer kommensurablen Mannigfaltigkeit gegeben wären (9). Deshalb stellt er die sehr starke These auf, wonach Kants allgemeine Metaphysik der KrV „wesentlich" von der speziellen über Kraft und Materie der MAN abhänge (211)! Glezers Mentor Michael Friedman vertritt die Ansicht, wonach nur die metaphysica specialis die Anwendbarkeit der Mathematik auf die Erfahrung erklären könne, die allgemeine hierzu nicht zureiche (vgl. Michael Friedman: Kant's Construction of Nature. A Reading of the Metaphysical Foundations of Natural Science. Cambridge/New York 2013, 33, Anm. 51). Diese Auffassung, der Karen Gloy widerspricht, die den naturphilosophischen Zentralbegriff der Bewegung als aus den gleichursprünglich zu verstehenden Begriffen von Raum und Zeit ableitbar sieht (vgl. Karen Gloy: Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft. Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen. Berlin/New York 1976), hat Glezer womöglich zu seiner starken Behauptung bewogen. Den Umstand, dass seine These zu Kants Motivlage doch in nicht unerheblichen Widerspruch zu Kants System gerät, übergeht er unkommentiert wie auch die Möglichkeit, dass das Kant attestierte Motiv der Quantifizierung der Qualität auch in den MAN nur gelten kann, insofern die transzendentalphilosophische Reduktion auf Erscheinungen den Schematismus als Voraussetzung der Quantifizierung zuallererst begründen kann. Da G. diese in der Konklusion getroffene Behauptung nicht weiter begründet, bleibt auch dem Rez. bloß die Möglichkeit, dies zu konstatieren.

Im Allgemeinen hätte eine Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur dem Buch mehr Gewicht und Kontur verleihen können. Vor allem ist zu bemerken, dass G. nicht auf die seiner Meinung nach ungenügende Aufmerksamkeit eingeht, die dem Realitätsbegriff bisher bereits zuteilwurde. So schreibt Hermann Cohen 1883 im Vorwort zu seiner Studie über Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, das sich genau wie G. auf das Thema der Realität als Kontinuität bezieht – im Gegensatz zu G. aber zum Schluss kommt, dass Qualität zwar quantifizierbar, jedoch nicht messbar sei –, dass er beabsichtige, „den Begriff der Realität in seinem Werte für die Begründung der Erkenntnis auszuzeichnen". Hermann Cohen: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik. Mit einer Einleitung von Astrid Deuber-Mankowsky. Wien/Berlin 2013, 81. Auf Giovanellis Arbeit zu den Antizipationen bei Kant, die im Zentrum von G.s Studie stehen und der ebenso wie letzterer die scholastische Genealogie des Kant'schen Realitätsbegriffs hervorhebt, geht er leider genauso wenig ein wie auf Sophie Grapottes Arbeit oder Manfred Franks Betonung der Realität für Kant. Vgl. Sophie Grapotte: La conception kantienne de la réalité. Hildesheim/Zürich/New York 2004; Manfred Frank: „Kants Grundgedanke". In: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt am Main 2007, 160–182; Marco Giovanelli: Reality and Negation  Kant's Principle of Anticipations of Perception. An Investigation of its Impact on the Post-Kantian Debate. Dordrecht/Heidelberg/London/New York 2011 [Studies in German Idealism 11]. Das Weglassen von Kants vorkritischer Diskussion der Realität im Verhältnis zu Gott als dem Realgrund und Josef Schmuckers, Tillmann Pinders und Robert Theis' Studien zum Thema mag G.s wissenschaftsgeschichtlichem Blick geschuldet sein, doch scheint uns Kants Realitätsbegriff in der vorkritischen Phase ohne Berücksichtigung der Rolle Gottes nicht in Gänze begreifbar. Gegenüber Arbeiten wie Eidams, die vor allem auf Kants Begriff des Realgrundes abzielen, und damit durchaus die Wichtigkeit des Realitätsbegriffs hervorheben, hat G. das Verdienst, letzteren im Zusammenhang mit dem Kontinuitätsprinzip herausgearbeitet zu haben. Vgl. Heinz Eidam: Dasein und Bestimmung. Kants Grund-Problem. Berlin/New York 2000. Leider bleibt es bei der Darstellung dieses Zusammenhanges und dessen historischer Herkunft.

Das Hauptmanko dieser Arbeit besteht darin, dass sie die behauptete Zentralität des dargestellten Realitätsbegriffs für die Kantforschung nicht konkret darlegt, womit ihre These nicht überprüfbar ist. Somit erfüllt die Studie ihre angekündigte Absicht nicht. Sie bleibt nur Hinführung zu einer womöglich vielversprechenden These. Das ist schade, weil man dem Verf., der am besten ist, wenn er über Leibniz schreibt, diese Ausarbeitung durchaus zutraut. Man fragt sich, warum er das nicht gemacht hat, statt bloße, wenngleich notwendige Vorstudien zu veröffentlichen.

By Sergey Sistiaga

Reported by Author

Titel:
Kant on Reality, Cause, and Force. From the Early Modern Tradition to the Critical Philosophy.
Autor/in / Beteiligte Person: Sistiaga, Sergey
Link:
Zeitschrift: Kant-Studien, Jg. 112 (2021-06-01), Heft 2, S. 318-321
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0022-8877 (print)
DOI: 10.1515/kant-2020-0032
Schlagwort:
  • KANT on Reality, Cause & Force: From the Early Modern Tradition to the Critical Philosophy (Book)
  • GLEZER, Tal
  • KANT, Immanuel, 1724-1804
  • REALITY
  • TRADITION (Philosophy)
  • NONFICTION
  • Subjects: KANT on Reality, Cause & Force: From the Early Modern Tradition to the Critical Philosophy (Book) GLEZER, Tal KANT, Immanuel, 1724-1804 REALITY TRADITION (Philosophy) NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Full Text Word Count: 1483

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