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Personenbezogenes Predictive Policing. Kriminalwissenschaftliche Untersuchung über die Automatisierung der Kriminalprognose:

Meier, Bernd-Dieter
In: Monatsschrift fuer Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 104 (2021-06-01), Heft 2, S. 171-173
Online review

Lucia M. Sommerer; Personenbezogenes Predictive Policing. Kriminalwissenschaftliche Untersuchung über die Automatisierung der Kriminalprognose: Baden-Baden: Nomos. 2020 

Lucia M. Sommerer ; Personenbezogenes Predictive Policing. Kriminalwissenschaftliche Untersuchung über die Automatisierung der Kriminalprognose. Baden-Baden : Nomos. 2020.

Über Predictive Policing ist in der Kriminologie nur wenig, über personenbezogenes Predictive Policing (PPP) ist fast gar nichts bekannt. Umso verdienstvoller ist es, dass Sommerer den Wissenstand in ihrer von Höffler betreuten Dissertation aufarbeitet und die Leserschaft für das Thema sensibilisiert. PPP führt, wie Sommerer deutlich macht, »neue Werte, Denkweisen und Handlungsmöglichkeiten in die Kriminalitätskontrolle ein, die die Polizeiarbeit und das Strafrechtssystem von Grund auf zu verändern vermögen« (S. 295). Aufmerksamkeit ist angebracht.

Beim Predictive Policing geht es um die anlasslose, systematische und automatisierte Berechnung der Wahrscheinlichkeit von Straftaten, die zu polizeirechtlich oder strafrechtlich legitimierten Eingriffen führen kann. Im Grundlagenteil ihrer Dissertation verdeutlicht Sommerer das Neuartige von PPP anhand des Vergleichs mit traditionellen aktuarischen Prognoseverfahren (S. 45–74): Während die bisherigen Instrumente auf der statistischen Berechnung von Prädiktoren für eine Zielvariable wie Rückfälligkeit anhand einer klar abgegrenzten Eichstichprobe aufbauen, beispielsweise einer Stichprobe von n wegen eines Gewaltdelikts verurteilten jungen Männern, ist das bei algorithmischen Kontrollsystemen anders. Hier ist – zumindest in der Theorie – nicht nur die Fallbasis unbegrenzt, sondern auch die Zahl und Herkunft der Datenquellen, die für die Berechnung von personenbezogenen Risikoprofilen ausgewertet werden; ausgewertet werden können insbesondere auch kommerziell verfügbare Daten von privaten Datenbrokern und/oder öffentlich zugängliche Social-Media-Daten. Die Berechnung der Zusammenhänge erfolgt in den von Sommerer als fallbasiert bezeichneten Systemen nicht auf der Grundlage von Hypothesen (regelgeleitet), sondern indem die verfügbaren Daten systematisch mit der Zielvariable in Verbindung gebracht, nach Mustern durchsucht und auf der Grundlage von zufällig gefundenen Korrelationen Vorhersagemodelle entwickelt werden. Die neueren Systeme sind lernfähig, d. h. sie können auf der Grundlage neuer Fälle oder Daten selbstständig zu neuen – der Idee nach: besseren, genaueren – Prädiktionsmodellen gelangen.

Derartige algorithmengestützte Vorhersagesysteme sind heute in der Kriminalitätskontrolle bereits im Einsatz. Sommerer beschreibt drei PPP-Systeme, die in den USA und in Großbritannien verwendet werden, sowie vier, überwiegend weniger weit entwickelte Systeme, die im deutschsprachigen Raum im Einsatz sind (S. 74–100). Als das potentiell ausgefeilteste System im deutschsprachigen Raum erweist sich der automatisierte Musterabgleich von Fluggastdaten durch das Bundeskriminalamt, der sich auf das 2017 eingeführte Fluggastdatengesetz (FlugDaG) stützt. Der vollautomatisierte Musterabgleich dient dem Ziel der Gefahrenverdachtserzeugung, d. h. das System soll eingesetzt werden, um Personen, von denen eine kriminelle Gefahr ausgehen könnte, überhaupt erst zu identifizieren. Unter Bezugnahme auf eine Mitteilung des Bundesinnenministeriums vom Oktober 2018 (BT-Drucks. 19/4755, S. 9) geht Sommerer davon aus, dass das System eine Trefferquote von 0,07 % hat, d. h. dass vom System 0,07 % aller Flugreisenden als auffällige Personen markiert werden, bei denen sodann Folgemaßnahmen getroffen werden.

Der Grundlagenteil der Dissertation schließt mit einem kurzen Überblick über die Anwendungsvoraussetzungen und faktischen Grenzen der PPP-Systeme (S. 100–115). Instruktiv ist insbesondere Sommerers Hinweis, dass der Prädiktionsalgorithmus bei den fallbasierten, d. h. bei den nicht hypothesengeleiteten Systemen zur Sichtbarmachung von Scheinkorrelationen führen kann, die die Polizeiarbeit binden und/oder Fehlentscheidungen produzieren können; zur Verdeutlichung bildet Sommerer das Beispiel eines vom System angenommenen Zusammenhangs zwischen Schuhgröße und Straffälligkeit. Eng damit verbunden nennt sie als weiteres, insbesondere in den USA thematisiertes Problem die Gefahr, dass sich im Trainingsdatensatz des Systems enthaltene Verzerrungen (etwa die Über- oder Unterrepräsentanz einzelner Bevölkerungsgruppen) im Vorhersageergebnis niederschlagen und damit zur Perpetuierung gesellschaftlicher Diskriminierungen führen können. Last but not least macht Sommerer darauf aufmerksam, dass in jedem Vorhersagesystem bestimmte Voreinstellungen, etwa der cut-off-Wert und die Fehlerrate, also die Rate der falsch Positiven bzw. falsch Negativen, nur nach normativen Kriterien getroffen werden können, wobei weitgehend unklar ist, wer bei den bereits existierenden Systemen heute mit welcher Legitimation welche Entscheidungen trifft.

Der zweite Hauptteil der Dissertation ist den rechtlichen Grundlagen und Grenzen der PPP-Systeme gewidmet. Dass schon die Einrichtung und der Betrieb dieser Systeme einer Rechtsgrundlage bedürfen – und nicht erst die auf der Grundlage eines Prädiktionsergebnisses durchgeführten polizeirechtlichen und/oder strafrechtlichen Folgemaßnahmen –, ist die Konsequenz des Volkszählungsurteils aus dem Jahr 1983, wonach jede Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe von personenbezogenen Daten einer Rechtsgrundlage bedarf. Auch wenn der rechtliche Teil für die Leserschaft aus den nichtjuristischen Professionen auf den ersten Blick etwas »langweilig« wirken mag, sind viele der Ausführungen hochspannend. Dies gilt etwa für die Frage, ob Fehler in der Erstellung des Risikoscores zur Rechtswidrigkeit der darauf basierenden Maßnahme führen sollen (S. 135–137). Die Frage verdient Aufmerksamkeit gerade im Hinblick auf die bei fallbasierten Systemen zu erwartenden Scheinkorrelationen: Ist es wirklich, wie Sommerer meint, ein dem Polizeiapparat zurechenbarer, die Annahme einer »Anscheinsgefahr« ausschließender Fehler, wenn die Polizei ein System einsetzt, bei dem Scheinkorrelationen unvermeidlich sind? Der Platzverweis etwa, der gegenüber einem Flugpassagier ausgesprochen wird, der vom System wegen seiner Schuhgröße einen hohen Score erhält, könnte auch rechtmäßig sein, weil der Score bei kurzfristig zu treffenden Entscheidungen wie dem Boarding schlechterdings schon aus zeitlichen Gründen nicht als falsch entlarvt werden kann. Geradezu weiterführend sind aber auch die Ausführungen im verfassungsrechtlichen Teil der Analyse, etwa wenn Sommerer im Zusammenhang mit der Untersuchung der Vereinbarkeit von PPP-Systemen mit dem Diskriminierungsverbot die Frage aufwirft, was eigentlich der Bezugspunkt für die Betrachtung von Ungleichheit ist, ob es beispielsweise um die Gruppengenauigkeit des Systems, die Vorhersagegenauigkeit oder das Fehlerverhältnis geht (S. 183–189). Auch diese Fragen werden sicherlich in Zukunft noch weiter zu diskutieren sein.

An die rechtliche Analyse schließt sich im dritten Hauptteil der Dissertation eine kriminologische, soziologische und rechtstheoretische Einordnung von PPP an. Sommerer bescheinigt den Systemen einen grundlegend neuen Zugang zu den Problemen der Kriminalitätskontrolle, die sie als »algorithmische Wende« bezeichnet, der das Format eines Paradigmenwechsels zukomme (S. 261). Sie räumt ein, dass die Kriminalitätskontrolle schon gegenwärtig risikofokussiert sei, wobei die Risikoorientierung im normativen Bereich durch den RAF-Terrorismus und die Anschläge vom 11. September wesentliche Impulse erfahren habe (S. 275). Zu Recht werde deshalb schon gegenwärtig beim Blick auf das Kriminaljustizsystem von »Sicherheitsgesellschaft« (Singelnstein/Stolle) und »actuarial turn« (Feeley/Simon) gesprochen. PPP brächte jedoch noch einmal eine neue Wende, da es das Versprechen enthalte, Risikozuschreibungen schon zu einem Zeitpunkt zu ermöglichen, zu dem Anhaltspunkte für eine Gefahr für das Auge der Beamtinnen und Beamten noch gar nicht zutage getreten seien (S. 296).

Sommerer formuliert fünf »Herausforderungen«, die sich aus dieser Entwicklung ergeben (S. 300–340). Unter der etwas missglückten Überschrift »Rückkehr der Lebensführungsschuld« (S. 301) beschreibt sie, dass Menschen beim Einsatz von PPP nicht mehr nach ihrem Verhalten beurteilt, sondern auf die Funktion als Träger auffälliger Merkmale reduziert werden. Die Diagnose ist sicherlich richtig, aber mit »Schuld« hat der Wandel nichts zu tun, denn bei PPP geht es gerade nicht um die Vorwerfbarkeit des »Soseins«, sondern um den nüchtern-kalkulatorischen Blick auf das »Sosein«. Sommerer attestiert der Kriminalitätskontrolle zum zweiten einen Legitimitätsverlust, da notwendige Elemente der Verfahrensgerechtigkeit (Partizipation, Neutralität, respektvoller Umgang mit den Betroffenen, Vertrauen in die Motive der Akteure, Transparenz des Entscheidungsprozesses) beim Einsatz von PPP fehlten. Zum dritten befürchtet Sommerer einen Bedeutungsverlust der Kriminologie, sofern es der Kriminologie nicht gelinge, eine »digitale Subdisziplin« zu entwickeln, die sie als »algorithmenkundige Kriminologie« bezeichnet (S. 321). Die vierte Herausforderung sieht sie in den Folgen, die die Verwendung algorithmengestützter Entscheidungssysteme für die Nutzer habe: Unter Bezugnahme auf das Phänomen des »automation bias« befürchtet sie, dass die Nutzer sich der Verantwortung für die zu treffenden Entscheidungen durch Abwälzung der Verantwortung auf »das System« entledigen. Sommerer stellt einen Zusammenhang mit Banduras Konzept des »moral disengagement« her und bezeichnet das Phänomen in Anlehnung an Hannah Arendt als »selbst auferlegte Gedankenlosigkeit« (S. 325). Zum fünften schließlich droht nach Sommerer bei fortschreitender Nutzung von PPP die Gefahr, dass sich in der Kriminalitätskontrolle das Denken verändere und der »Maschinenlogik« unterwerfe. Es besteht die Gefahr, schreibt sie, »dass sich Einzelpersonen im Rechtssystem, die mit einem Risikoscore in Kontakt kommen (Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte), einer den Entscheidungskorridor einschränkenden Wirkung des Scores nicht entziehen können.« (S. 340)

Der uneingeschränkt lesenswerten, mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichneten Arbeit ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Die Arbeit ist flüssig geschrieben und beeindruckt durch die Eleganz und zugleich Nachdrücklichkeit, mit der technische, gesellschaftliche und normative Entwicklungen miteinander verknüpft und in einen neuen Interpretationsrahmen – die »algorithmische Wende« – gestellt werden. An manchen Stellen hätte man sich vielleicht noch weitergehende Vertiefungen gewünscht. So hätte Sommerer noch genauer auf die Problematik der Fehlerrate eingehen können (S. 113 f.), zu der im Zusammenhang mit der aktuarischen Individualprognose auch in Deutschland viel geforscht und geschrieben worden ist; insbesondere hätte sie darauf hinweisen können, dass die Rate der falsch Positiven und das »Fehlerverhältnis« in einem unlösbaren Zusammenhang mit der Basisrate des vorhergesagten Ereignisses stehen, was bei seltenen Ereignissen wie Kriminalität unvermeidbar zu einer Überschätzung des Risikos führt.

Aus politikwissenschaftlicher Sicht hätte der Zusammenhang zwischen Recht und Macht noch genauer analysiert werden können. Am Ende ihrer rechtlichen Analyse im zweiten Hauptteil deutet Sommerer an, dass sie ein Spannungsverhältnis zwischen realpolitischen Entwicklungen – nämlich dem Vormarsch von PPP – und der Notwendigkeit der rechtsstaatlichen Einhegung sieht (S. 258). So gern man einer solchen Beobachtung als Rezensent zustimmen mag, so evident ist doch auch, dass allein das (Verfassungs-) Recht keinen ausreichenden Mechanismus dafür bietet, um im Sicherheitsrecht »grundlegenden Verschiebungen« (S. 258) einen Riegel vorzuschieben. Der mit Billigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Bundesverfassungsgerichts betriebene hypertrophe Ausbau der Sicherungsverwahrung in den Jahren 1998 bis 2009, der erst vom Europäischen Gerichtshof für die Menschenrechte gestoppt werden konnte, bildet nach wie vor ein beredtes Beispiel für das Versagen der (verfassungs-) rechtlichen Kontrollmechanismen. Welche Kräfte die »algorithmische Wende« realpolitisch vorantreiben, warum sie erfolgreich sind und ob der oft zu hörende Wunsch nach »mehr Sicherheit« nicht legitim ist – dazu hätte man gerne noch mehr erfahren.

Indes, auch ein gutes Buch kann nicht immer alle Wünsche erfüllen. Festzuhalten bleibt, dass die von Sommerer vorgelegte Dissertation neue Maßstäbe setzt. Sommerer greift eine Entwicklung auf, die das Potential hat, die Kriminalitätskontrolle von Grund auf zu verändern. Ihr Ansatz, diese Entwicklung technologisch, kriminologisch und rechtlich zu beschreiben, einzuordnen und zu bewerten, bildet ein solides Fundament für die notwendige weitere Diskussion. Für alle, die an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Umbau der Kriminalitätskontrolle interessiert sind, ist die Lektüre ein Muss.

By Bernd-Dieter Meier

Reported by Author

Titel:
Personenbezogenes Predictive Policing. Kriminalwissenschaftliche Untersuchung über die Automatisierung der Kriminalprognose:
Autor/in / Beteiligte Person: Meier, Bernd-Dieter
Link:
Zeitschrift: Monatsschrift fuer Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 104 (2021-06-01), Heft 2, S. 171-173
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0026-9301 (print)
DOI: 10.1515/mks-2021-0109
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Hannover, Juristische Fakultät, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover, Germany
  • Full Text Word Count: 1669

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