Zum Hauptinhalt springen

Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Hrsg. von Chryssoula Kambas. Aus dem Griechischen übers. von Andrea Schellinger

Pommerin, Reiner
In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-05-01), Heft 1, S. 160-164
Online review

Hagen Fleischer, Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Hrsg. von Chryssoula Kambas. Aus dem Griechischen übers. von Andrea Schellinger, Köln: Böhlau 2020, 366 S. (= Griechenland in Europa, 5), EUR 30,00 [ISBN 978‑3‑412‑51789‑2] 

Hagen Fleischer, Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Hrsg. von Chryssoula Kambas. Aus dem Griechischen übers. von Andrea Schellinger, Köln : Böhlau 2020, 366 S. (= Griechenland in Europa, 5), EUR 30,00 [ISBN 978‑3‑412‑51789‑2]

Einer größeren Öffentlichkeit ist der Name des deutsch-griechischen Historikers Hagen Fleischer spätestens seit der griechischen Finanzkrise 2013 aus Presse und Fernsehen bekannt. Er hält die von der Bundesrepublik 1960 gezahlte Entschädigung von 115 Millionen DM angesichts der Praxis der deutschen Besetzung des Landes im Zweiten Weltkrieg für keineswegs ausreichend. Besonders unbeliebt macht er sich bei manchen Zeitgenossen mit seiner Erinnerung an den dem besetzten Griechenland 1942 bis 1944 in monatlichen Raten abgepressten Zwangskredit. Die Fälligkeitsraten dieses Kredits hatte das Deutsche Reich noch bis zum Oktober 1944 bedient. Die Bundesrepublik, den Kreditcharakter der griechischen Zahlungen abstreitend, sehe jedoch keine Veranlassung zur Fortführung der Kreditbedienung, so beklagt Fleischer. Den beiden Herausgeberinnen der Reihe, Chryssoula Kambas, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Osnabrück, und Marilisa Mitsou, Professorin für Byzantinistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist es ein Anliegen, den Fokus mehr auf die Forschungsergebnisse des Geschichtswissenschaftlers Fleischer zu konzentrieren. Deshalb stellen sie im vorliegenden Sammelband einige seiner bisher lediglich in griechischer Sprache vorliegenden Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung vor.

Hagen Fleischer, im Januar 1944 geboren, passt problemlos in das Kollektivportrait der männlichen westdeutschen Geschichtsprofessoren, die sich als Angehörige des Jahrgangs 1943 vor einigen Jahren befragen ließen (Barbara Stambolis, Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker des Jahrgangs 1943, Essen 2010). In einer am Ende des Bandes abgedruckten Autobiografie beschreibt er die deutsche Nachkriegszeit und seine Jugend. Dabei zeigt sich eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten, die Fleischers Werdegang mit dem Weg der 44 Kollegen des Jahrgangs 1943 in die historische Zunft hat.

Fleischers Biografie erinnert zunächst an die schwierige Ernährungslage und die Trümmerfrauen nach 1945 in Deutschland. Er kommt, wie so manch anderer, über das Abendgymnasium zum Studium. An der Freien Universität Berlin schreibt er sich für Geschichte, Publizistik sowie für Skandinavistik ein, eine Fächerkombination, die allerdings kein Staatsexamen ermöglicht. Wie viele seiner künftigen Kollegen zieht ihn die radikale studentische Opposition nur wenig an. Dies gilt auch für die in der »Kritischen Universität (KU)« angebotenen Gegenveranstaltungen, befassen sich diese doch weniger mit dem Zweiten Weltkrieg als mit dem Vietnamkrieg und vor allem mit dem »Kampf gegen das System«. Den Studenten Fleischer hingegen interessiert die Zeitgeschichte und vor allem der Zweite Weltkrieg. Mit diesem will und wird er sich künftig sowohl aus der Sicht der Täterinnen und Täter als auch der Opfer befassen.

Als Gastlehrer in Dänemark und Finnland stößt er in Gesprächen immer wieder auf das Verhalten der deutschen Besatzungsmacht. Das führt ihn zu der Überlegung, als Studienabschluss eine Dissertation über die Zeit der deutschen Besetzung Dänemarks zu schreiben. Tatsächlich wird Fleischer sein gesamtes wissenschaftliches Leben einem besetzten Land widmen, allerdings nicht Dänemark, sondern Griechenland, das von italienischen Truppen und vor allem von der Wehrmacht des nationalsozialistischen Deutschlands besetzt wurde. Ende 1968 besucht er, ausgestattet mit einem kleinen Stipendium, auf einer Forschungsreise Athen. Ihn begleitet seine künftige Ehefrau Eleni, die er in Berlin kennengelernt hat. Sie ist eine erklärte Gegnerin der zu dieser Zeit in Griechenland herrschenden Junta. In Athen erlebt er die unter großer Anteilnahme der Athener Bevölkerung stattfindende Beerdigung von Georgios Papandreou. Dieser hatte dem Land von 1944 bis 1945 und von 1964 bis 1965 als Premierminister gedient. Als sich sein erneuter Wahlsieg ankündigte, putschte eine Militärjunta und übernahm am 21. April 1967 die Macht. Papandreou wurde unter Hausarrest gestellt, wo er am 1. November 1968 verstarb. Die Rufe der versammelten Menge während der Beerdigung nach »Freiheit« gleichsam als Auftrag annehmend, sendet Fleischer sogleich unter schwierigen Bedingungen Berichte über die politische Entwicklung in Griechenland an die West-Berliner Zeitung »Der Abend«. Damit fokussiert sich sein ganz persönliches »68« künftig auf Griechenland. Daher meidet er nach seiner Rückkehr nach Berlin die lautstarken Demonstrationen seiner Kommilitonen für Mao und »Ho-Ho-Ho-Chi Minh«.

Die jetzt ebenfalls stattfindende inhaltliche Verlegung seines Dissertationsthemas von der Besetzung Dänemarks auf die Besetzung Griechenlands wird von seinem Doktorvater, dem Fachmann für Skandinavien, Prof. Hans Dietrich Look, akzeptiert. Die folgende Forschungsarbeit erweist sich allerdings als äußerst mühselig und zeitraubend. Die in Frage kommenden griechischen Archive sind entweder spurlos verschwunden, geplündert oder verwüstet und Archivalien bewusst verfälscht worden. Wichtige Zeitzeugen für sein Thema hatten das Land inzwischen verlassen müssen. Die Obristen der Junta haben ganze Arbeit geleistet. Mit Hilfe der Oral History erfasst Fleischer dennoch über 200 Gespräche und schriftliche Interviews mit namhaften und unbekannten Protagonisten. Insgesamt nimmt das Vorhaben sieben volle Jahre in Anspruch. Das erfordert große Disziplin und Stehvermögen. 1977 kann er Look schließlich 1001 maschinenschriftliche Seiten übergeben und wird mit seiner Arbeit an der FU Berlin promoviert. Es vergehen Jahre, bevor die Arbeit in Buchform erscheint (Hagen Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941–1944. Okkupation – Kollaboration – Resistance, 2 Bde, Frankfurt [u. a.] 1986). In griechischer Sprache erscheinen die beiden Bände 1988 und 1995.

Nach Wiederherstellung der Demokratie zieht Fleischer 1977 nach Griechenland und arbeitet zunächst als Korrespondent für deutsche Zeitungen. Ab 1979 lehrt er für zwei Jahre als Gastprofessor des DAAD an der Nationalen Kapodistrias-Universität in Athen. Danach lehrt er für zehn Jahre an der Universität Kreta. 1992 kehrt er an die Athener Universität als Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Griechische Geschichte des 20. Jahrhunderts zurück.

Auf besonderen Wunsch der beiden Herausgeberinnen umfassen die ersten 175 Seiten des vorliegenden Buches eine gestraffte Zusammenfassung und Weiterführung der Forschungsergebnisse seiner Dissertation unter dem Titel »Krieg und Besatzung«. Verfasst wurde dieser Beitrag ursprünglich für den Band 16 der »Geschichte der Griechischen Nation«, der 2000 in Athen erschien. Sein Inhalt beschreibt die deutsche Besetzung Griechenlands und die Kontakte zwischen den Besatzern und dem griechischen Widerstand. Hitlers überraschendes geostrategische Interesse an Kreta wird ebenso aufgegriffen wie das deutsche Verhalten gegenüber dem griechischen Judentum. Wenn auch auf den ursprünglich umfangreichen Anmerkungsapparat des griechischen Textes verzichtet wird, so verdeutlicht die eindrucksvolle Übersetzung dennoch, warum ausgerechnet dem aus Deutschland stammenden Autor dieser Band der Enzyklopädie zur griechischen Geschichte anvertraut wurde.

Bewusst haben die Herausgeberinnen sodann Aufsätze des Autors ausgewählt, welche auch die »helleren Seiten des schwierigen deutsch-griechischen Jahrhunderts« aufzeigen. Dazu zählt ein Beitrag zum deutschen Bild des kretischen »Nationalhelden« und griechischen Premierminister Eleftherios Venizelos, der sich gegen den deutschfreundlichen König Konstantin I. gestellt und das Land schließlich am 24. November 1916 zum Kriegseintritt gegen die Mittelmächte geführt hatte. Ausgerechnet in der Zeit von 1967 bis 1974, so zeigt ein weiter Beitrag, konnte die bundesdeutsche Kulturpolitik ein Zeichen der Solidarität mit dem griechischen Widerstand gegen das Militärregime setzen. Daran wirkten deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Intellektuelle und Gewerkschaften in Medien und Kulturinstitutionen mit. Natürlich findet sich auch ein Beitrag zum Thema »Wiedergutmachung« in Griechenland. Schließlich bleibt dieses Problem und die Hoffnung auf eine möglichst einvernehmliche Lösung zwischen Griechenland und der Bundesrepublik ein Herzensanliegen des Autors.

1985 wurde Fleischer auch griechischer Staatsbürger. Dieser Umstand, aber vor allem seine umfassenden Kenntnisse der Praxis der italienischen und deutschen Besetzung Griechenlands führten zu seiner Berufung in eine Kommission, die das Verhalten von Kurt Waldheim während seiner Kriegszeit untersuchen sollte. Der ehemalige UN-Generalsekretär und österreichische Bundespräsident hatte in seinen biografischen Angaben seine Tätigkeit als Wehrmachtoffizier zwischen 1942 und 1944 unterschlagen. Diese endeten stets mit der Verwundung an der Ostfront 1941, seine darauf folgenden Balkanjahre hingegen und besonders seinen Dienst in Griechenland, bei dem er hunderte Lageberichte unterzeichnet hatte, verschwieg Waldheim. Fleischer, der davon ausgeht, dass Waldheim in Österreich nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Vergangenheit zum Bundeskanzler gewählt wurde, berichtet von der schwierigen Arbeit der sechsköpfigen internationalen Kommission. Er gehörte ihr als permanent special expert an und sah sich zahlreichen persönlichen Diffamierungen ausgesetzt. Zur Kommission zählte aus der Bundesrepublik der damalige Leitende Militärhistoriker des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, Prof. Dr. Manfred Messerschmidt, dessen fachliche Kompetenz besonders hervorgehoben wird. Eine Veröffentlichung des Originaltexts des voluminösen Waldheim-Reports der Kommission steht immer noch aus! Statt der von Fleischer gewünschten Formulierung einer »konsultativen Mitwirkung und Mitverantwortung« zitiert er den schließlich gewählten Kompromiss aus seinem eigenen Exemplar des Berichts: »Er [Waldheim] war bemüht, seine militärische Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen und, sobald das nicht mehr möglich war, zu verharmlosen. Dieses Vergessen ist nach Auffassung der Kommission so grundsätzlich, dass sie keine klärenden Hinweise für ihre Arbeit von Waldheim erhalten konnte.«

Insgesamt gelingt es den beiden Herausgeberinnen durch die Auswahl der ins Deutsche übersetzten Beiträge, dem Leser einen Eindruck vom engagierten und höchst professionell arbeitenden Historiker Hagen Fleischer zu vermitteln, dessen Forschungsergebnisse stets auf umfassendem und sorgfältigem Quellenstudium beruhen.

By Reiner Pommerin

Reported by Author

Titel:
Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Hrsg. von Chryssoula Kambas. Aus dem Griechischen übers. von Andrea Schellinger
Autor/in / Beteiligte Person: Pommerin, Reiner
Link:
Zeitschrift: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-05-01), Heft 1, S. 160-164
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 2193-2336 (print)
DOI: 10.1515/mgzs-2021-0015
Schlagwort:
  • KRIEG und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Hrsg. von Chryssoula Kambas. Aus dem Griechischen ubers. von Andrea Schellinger (Book)
  • FLEISCHER, Hagen
  • MILITARY history
  • MILITARY science
  • NONFICTION
  • Subjects: KRIEG und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Hrsg. von Chryssoula Kambas. Aus dem Griechischen ubers. von Andrea Schellinger (Book) FLEISCHER, Hagen MILITARY history MILITARY science NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Dresden, Germany
  • Full Text Word Count: 1438

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -