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Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., 4.

Vollert, Michael Ph.
In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-05-01), Heft 1, S. 169-171
Online review

Mischa Meier, Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., 4. Aufl., München: C. H. Beck 2020, 1532 S. (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), EUR 58,00 [ISBN 978‑3‑406‑73959‑0] 

Mischa Meier, Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., 4. Aufl., München : C. H. Beck 2020, 1532 S. (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), EUR 58,00 [ISBN 978‑3‑406‑73959‑0]

Zu diesem 2019 erstmalig erschienenen Buch liegt ein Jahr später bereits die 6. Auflage vor, was für ein Werk mit über 1500 Seiten sowie bei den zahlreichen früheren Veröffentlichungen zu diesem Thema ungewöhnlich ist. Ebenso wenig kann die Vielzahl der Rezensionen zu diesem Buch überraschen, unter denen die von Andreas Kilb in der FAZ vom 23. November 2019 besonders erwähnenswert ist. Eine weitere dürfte im Hinblick auf die ununterbrochene Folge von Kriegen und exzessiver Gewalt während der sogenannten Völkerwanderungszeit auch das Interesse von Leserinnen und Lesern der MGZ finden. Das Buch ist jedoch mehr als die Schilderung der Geschichte der Kriege in dieser Epoche, also weit mehr als »Kriegsgeschichte«. Die in dieser Zeit, auch von kulturell hochstehenden Mächten wie Ost- und Westrom, also nicht nur von »Barbaren« geführten Kriege waren besonders rücksichtslos und grausam.

Mischa Meier, Inhaber des Lehrstuhls für Alte Geschichte an der Universität Tübingen, gelingt mit diesem opus magnum ein neuer und anderer Blick auf sein Thema. Nicht ohne Grund setzt Meier den im 19. Jahrhundert entstandenen Begriff »Völkerwanderung«, der in Deutschland lange für die eigene Nationalgeschichte vereinnahmt wurde, in Parenthese. Es waren aber nicht nur die Wanderungen der Germanen, die das dekadente Imperium Romanum zum Einsturz brachten, sondern nahezu alle an den Migrationen beteiligten Völker vermischten sich häufig mit anderen. Nordafrika eroberten die Vandalen gemeinsam mit dem iranischen Reitervolk der Alanen.

Die materialreiche Darstellung der historischen Ereignisse und deren Verlauf während der von Meier beschriebenen Epoche wird durch seine differenzierten Untersuchungen zu weiteren Fragen im Zusammenhang mit der Völkerwanderung ergänzt. Wann begann sie und wann endete sie? Der Verfasser beschränkt sich auf den Zeitraum vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. Dabei waren die Kimbern und Teutonen im Verlauf ihrer Wanderungen bereits 113 bis 101 v. Chr. kurzzeitig in das Römische Reich eingedrungen. Auch die Räume, in denen die Völkerwanderung im Allgemeinen verortet wird, beschränkten sich in früheren Veröffentlichungen zumeist auf Europa. Meier schließt mit guten Gründen dagegen die Arabische Halbinsel und Vorderasien mit ein. Kamen die Hunnen, Auslöser der Migration anderer Völkerschaften, die später in Südrussland, im Kapartenbogen und in Gallien nachgewiesen werden konnten, aus Innerasien? Woher kamen Goten, Vandalen und andere sogenannte germanischen Stämme, die bei Beginn ihrer Wanderung noch keine festgefügten Ethnien waren, sondern sich erst im Verlauf von zum Teil über hundert Jahren dazu entwickelten? Auch bleibt offen, woher die Alamannen kamen, ein Zusammenschluss verschiedener Volksgruppen, zu denen selbst Römer gehörten. Das Vordringen der Slawen auf die Balkanhalbinsel, ein wichtiger Teil der Migrationen in der Spätantike, kam in der Geschichtsschreibung bisher meist zu kurz. Auch waren Religion und Konfession bisher weitgehend unterbewertete Faktoren: Arianer und Athanasianer führten blutige Kriege gegeneinander, und für die Eroberungszüge der Araber bis auf die Iberische Halbinsel war die Verbreitung des Islam ein wichtiges Motiv.

Aus den Wanderungs- und Eroberungszügen, zumeist unter Führung einer Art »warlord«, entstanden später Völkerschaften mit eigener Identität; viele dieser charismatischen warlords wurden später Könige, die ihren sakralen Herrschaftsanspruch und eigene Dynastien mit ihrer göttlichen Herkunft begründeten.

Eindrucksvoll ist das Literaturverzeichnis mit über 2800 Titeln, davon allein 48 von Mischa Meier: Biographien wichtiger Akteure wie Attila, Alarich oder des oströmischen Kaisers Justinian I., über den Letzteren aus der Feder von Meier, sowie Monographien zu Goten, Vandalen und anderen Völkerschaften. Zahlreiche Abbildungen und Karten erleichtern die Lektüre des Buches und das Verständnis der komplexen Zusammenhänge. Originalzitate im Text in lateinischer und griechischer Sprache verleihen, mit Übersetzung versehen, dem Buch Authentizität, das grundsätzlich auf der Auswertung der unübersehbaren Zahl von Quellen basiert. Bei den Quellen gibt es für mehrere Zeitabschnitte große Lücken, weil die wandernden Völker zumeist keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hatten, so etwa bei der Eroberung der Britischen Inseln durch Angeln und Sachsen. Wann und woher kamen sie? DNA-Untersuchungen oder archäologische Zufallsfunde wie Münzen sind ein höchst unvollständiger Ersatz für fehlende schriftliche Quellen zur Völkerwanderungszeit. Und die Berichte antiker Autoren wie etwa von Prokop (um 500 bis nach 572) sind wie alle damalige Historiografie einseitig. Der Verfasser weist zu Recht daraufhin, dass sein Buch die Schnittstelle zwischen Antike und dem Frühen Mittelalter mit zahlreichen Brüchen und Zäsuren beschreibt, auf die der Althistoriker einen anderen Blick als der Mediävist hat.

Meier, ein ausgewiesener Kenner der von ihm untersuchten Epoche, liefert eine andere und neue Sicht auf das, was seit dem frühen 19. Jahrhundert als »Völkerwanderung«, bezeichnet wird. Die Gründe und Erklärungen für diese Form der Migration ganzer Völker sind komplex, und Meier beleuchtet diese sowie das Zusammentreffen unterschiedlicher Faktoren, soweit dies überhaupt möglich ist. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Warum gingen die »Völker« auf Wanderschaft? Landnot, Klimawandel, Überbevölkerung, lokale Konflikte, bei denen der Unterlegene mit seiner Sippe weichen musste? Eroberung neuer Siedlungsgebiete oder vielfach einfach nur Raubzüge und Plünderungen? Auch waren Kultur und Lebensstandard des Römischen Reiches, nicht nur für die »Barbaren« in römischen Diensten, äußerst attraktiv. Der Zerfall des west‑ und oströmischen Reiches – auch diese keine einheitlichen Nationen, sondern Wohn- und Siedlungsgebiete sehr unterschiedlicher »Völker« – und deren Krisen im Inneren begünstigten das Eindringen in und die Eroberung des Imperium Romanum, nachdem der Bevölkerungsdruck an der Rhein- und Donaugrenze besonders groß geworden war.

Die Völkerwanderung ist bis heute eine zeitlich, regional, ökonomisch, kulturell und konfessionell stark differenzierte Epoche. Mischa Meier ermöglicht einen umfassenden Blick auf diesen Abschnitt nicht nur der europäischen Geschichte und liefert damit einen wichtigen Beitrag zu deren Erforschung. Dabei identifiziert er (Forschungs-)Lücken, die auch er nicht schließen konnte. Vieles bleibt auch nach den 1532 Seiten seines Buches rätselhaft. Menschen sind immer auf Wanderschaft, Parallelen zur Migration ganzer Völker in anderen Epochen zieht Meier dagegen mit Bedacht nicht.

By Michael Ph. Vollert

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Titel:
Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., 4.
Autor/in / Beteiligte Person: Vollert, Michael Ph.
Link:
Zeitschrift: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 80 (2021-05-01), Heft 1, S. 169-171
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 2193-2336 (print)
DOI: 10.1515/mgzs-2021-0017
Schlagwort:
  • GESCHICHTE der Volkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., 4. Aufl (Book)
  • MEIER, Mischa, 1932-2002
  • MILITARY history
  • MILITARY science
  • NONFICTION
  • Subjects: GESCHICHTE der Volkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., 4. Aufl (Book) MEIER, Mischa, 1932-2002 MILITARY history MILITARY science NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Rheinbach, Germany
  • Full Text Word Count: 1000

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