Der sogenannte Fall Therwil führte zu Bestrebungen, in der Verfassung des Kantons Basel-Landschaft einen Vorbehalt bürgerlicher Pflichten zu verankern. Diese geplante und schlussendlich gescheiterte Verfassungsrevision ist Anlass, der Frage nach der Bedeutung des Vorbehalts der bürgerlichen Pflichten nachzugehen. Es zeigt sich, dass dessen Bedeutung nicht in seiner rechtlich verbindlichen und durchsetzbaren, sondern in seiner symbolischen Dimension liegt. Diese wird im Fall Therwil eingesetzt, um einer bestimmten politischen Zielsetzung zu dienen. Dies zeigt sich deutlich mit Blick auf den migrationspolitischen Hintergrund der sog. Handschlag-Affäre, werden mit der geplanten Verfassungsrevision doch implizite wie explizite Imaginationen von Zugehörigkeit ausgedrückt. Es ist dabei kein Zufall, dass mit dem Vorbehalt bürgerlicher Pflichten ein Konzept aufgegriffen wurde, das dem Kontext des Kulturkampfes im 19. Jahrhundert entstammt.
The Therwil case sparked efforts to change the cantonal constitution and to enshrine the reservation of civic duties at constitutional level in the canton Basel-Country. The proposed amendment failed in the cantonal parliament, but it serves in this contribution as a starting point for a reading of the Therwil case that centers around the meaning of the concept of the reservation of civic duties. A reading of the Therwil case with a view to this concept is revealing because even the proponents of the bill admitted that it would not have legally relevant consequences. The significance of the reservation of civic duties must therefore lie elsewhere, presumably in its strong symbolism that is suitable for achieving political goals, transcending the practical legal dimension of justiciability. Considering the political discourse surrounding the Therwil case, the symbolism of the reservation of civic duties especially refers to the aspect of migration policy. In fact, the reservation of civic duties emerged as a heavily loaded "code" that allowed to determine aspects of belonging to the "Swiss culture". It is significant that the concept of the reservation of civic duties stems from the Swiss Federal Constitution of 1874 and the context of 19th century's "Kulturkampf" (culture war).
Keywords: Recht; Schule; Religionsfreiheit; Verfassung; Kulturkampf; Law; school; freedom of religion; constitution; culture war
Der sogenannte Fall Therwil, in dem zwei muslimische Schüler ihrer Lehrerin mit Verweis auf religiöse Gründe den zwischengeschlechtlichen Handschlag verweigerten, ist ein jüngeres Beispiel für eine öffentlich problematisierte, massenmedial vermittelte und politisierte Konfliktsituation des pädagogischen Kontexts. Der Fall wurde zu einem Konflikt um „hiesige Werte" hochstilisiert und oft wurde gar ins Feld geführt, es gehe hier um die „Identität" unserer Gesellschaft. Ein Votum des basel-landschaftlichen Regierungsrates zu diesem Fall bringt solche Befürchtungen auf den Punkt: „Wie geht die Gesellschaft mit der zunehmenden Heterogenität der Bevölkerung um, ohne dabei ihre Werte und damit ihr Selbstverständnis und ihre Identität zu verlieren?".
Vor dem Hintergrund einer medialen Skandalisierung in der regionalen, nationalen und internationalen Berichterstattung wurde der Vorfall zum Anlass genommen, um über Modifikationen der kantonalen Verfassung und Gesetzgebung zu diskutieren. Als Reaktion auf die Handschlagverweigerung und darauf folgende Vorstöße im kantonalen Parlament unterbreitete der Regierungsrat dem Parlament unter anderem den Vorschlag, die Verfassung zu ändern und darin einen Vorbehalt bürgerlicher Pflichten zu verankern.
Im Einzelnen ging es bei dieser – nach äußerst kritischen Stellungnahmen in der Vernehmlassung im Vergleich zur ursprünglichen Fassung abgeänderten Vorlage – unter anderem darum, den § 20 der Verfassung des Kantons Basel-Landschaft („Persönliche Pflichten") um einen Absatz 2 zu ergänzen, welcher festhält: „Weltanschauliche Auffassungen und religiöse Vorschriften entbinden nicht von der Erfüllung bürgerlicher Pflichten." Das Vorhaben fand allerdings keine Mehrheit im basel-landschaftlichen Parlament, so dass die Änderung der Kantonsverfassung – und damit der „Vorbehalt bürgerlicher Pflichten" – nicht angenommen wurde.
Die geplante und schlussendlich gescheiterte Verfassungsrevision soll im vorliegenden Beitrag aber als Ausgangspunkt einer Lektüre des Falls Therwil dienen, die der Frage nachgeht, welche Funktion das Konzept des Vorbehalts der bürgerlichen Pflichten in der Debatte um die Verweigerung des Handschlags eingenommen hat. Als äußerst aufschlussreich erweist sich eine solche Lektüre dieses Falls deshalb, weil selbst von den Initianten und Befürwortern der Vorlage zugestanden wurde, dass eine Aufnahme dieses Vorbehalts in die Verfassung in rechtlicher Hinsicht weitgehend wirkungslos bleiben würde. Es stellt sich daher die Frage nach der Bedeutung des Konzepts des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten. Dieses Konzept verfügt offensichtlich über einen starken symbolischen Gehalt, welcher sich für den Transport politischer Ziele und moralischer Wertungen zu eignen scheint und der über die praktische Dimension rechtlicher Justiziabilität hinausweist.
Dieser Aspekt des Falls Therwil erscheint – über den letztgenannten hinaus – von unmittelbarer Relevanz für gegenwärtige Aushandlungsprozesse von Religion. Die auch in anderen Rechtsordnungen bekannte Kategorie des symbolischen Gesetzes- und Verfassungsrechts entzieht sich der instrumentellen, normativ wirksamen Rechtsdimension. Mit ihr lassen sich bestimmte politische und moralische Wertungen markieren, die in einer Gesellschaft herrschen sollen und derer sich die Gesellschaft vergewissern will. Damit eignet sich diese Kategorie hervorragend dazu, politisch gezielt, etwa für die kollektive Identitätsstiftung, eingesetzt zu werden. Es erscheint daher nicht als Zufall, dass gerade im Fall Therwil, mithin im Kontext der Aushandlung religiöser Identitäten, auf die damit angesprochene Form der Verfassungsgebung zurückgegriffen wird, obschon diese im juristischen Diskurs nicht unumstritten ist.
Der Beitrag greift die Kategorie des symbolischen Rechts auf, um am Beispiel des Falls Therwil zu zeigen, wie identitätspolitisch geprägte Debatten über Religion im Recht verhandelt werden.
Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Handschlagverweigerung der zwei Schüler sowohl einen politischen Prozess als auch ein juristisches Verfahren auslöste. Beide werden im Folgenden beleuchtet. Mit Blick auf das juristische Verfahren sind als erstes die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Religionsfreiheit, um welche sich ein Grossteil der Diskussion dreht, vorzustellen. Dabei ist vorab anzumerken, dass Gegenstand dieses juristischen Verfahrens die Handschlagverweigerung und die den Schülern in der Folge auferlegten Disziplinarmaßnahmen bildete. Im Zentrum stand die Frage, ob die zwei muslimischen Schüler das Recht hatten, ihrer Lehrerin aus religiösen Gründen den zwischengeschlechtlichen Handschlag zu verweigern oder nicht. Aus Sicht der Lehrperson bzw. der Schule stellte sich die Frage, ob diese ein Recht hatte, den Handschlag einzufordern oder nicht. Diese Fragen sind nicht zuletzt auch verfassungsrechtlicher Natur, weil die Schüler sich auf die in Artikel 15 der schweizerischen Bundesverfassung verankerten Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen konnten. Die für die juristische Beurteilung des Falles zuständigen Behörden prüften entsprechend, ob die Verweigerung des Handschlags in der Schule unter dem Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, oft als „Religionsfreiheit" bezeichnet, steht.
Folgende Grundsätze des schweizerischen Verfassungsrechts waren für die juristische Beurteilung durch die basellandschaftlichen Behörden maßgeblich:
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Religionsfreiheit) ist in Art. 15 der Bundesverfassung von 1999, in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II) verankert. Sie schützt das Recht jeder Person, ihre Religion und weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen (Art. 15 Abs. 2 BV), einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen (Art. 15 Abs. 3 BV). Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen (Art. 15 Abs. 4 BV). Alle in der Schweiz lebenden Personen können sich unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus unmittelbar auf dieses Grund- und Menschenrecht berufen.
Der geschützte Bereich dieses Grund- und Menschenrechts wird nach schweizerischem Verständnis weit gefasst. So schützt die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht nur die traditionellen Glaubensformen der christlich-abendländischen Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern „grundsätzlich alle Arten von Vorstellungen über die Beziehung des Menschen zum Göttlichen beziehungsweise zum Transzendenten", auch agnostische und atheistische Weltanschauungen. Wie das Bundesgericht in seinem Urteil zum islamischen Kopftuch (Hijab) einer Schülerin an einer öffentlichen Schule im Jahr 2015 (BGE 142 I 49) verdeutlicht hat, bestimmt sich der Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kern nach subjektiven Gesichtspunkten; sind die staatlichen Organe doch gehalten, von derjenigen Bedeutung auszugehen, welche die religiösen Vorschriften für die Betroffenen haben. Das Bundesgericht hatte in diesem Fall die Frage zu beurteilen, ob ein Kopftuchverbot für Schülerinnen an einer öffentlichen Schule zulässig sei. Das Gericht entschied, dass das Freiheitsrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit die betroffene Schülerin schütze, ihrem religiösen Bekenntnis Ausdruck zu verleihen, weshalb das Kopftuchverbot gegen die Verfassung verstoße.
Denn die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt gemäß anerkannter Praxis des Bundesgerichts, des höchsten schweizerischen Gerichts, nicht nur das Recht jeder Person, ihre Religion und weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit andern zu bekennen, sondern auch das Recht jedes Menschen, „sein Verhalten grundsätzlich nach den Lehren des Glaubens auszurichten und den Glaubensüberzeugungen gemäss zu handeln." Nach der Praxis des Bundesgerichts existiert damit ein eigentliches Recht auf eine religiös geprägte Lebensweise, zu welcher „über kultische Handlungen hinaus auch die Beachtung religiöser Gebräuche und Gebote sowie andere Äusserungen des religiösen Lebens gehören, soweit solche Verhaltensweisen Ausdruck der religiösen Überzeugung bilden". Auch religiös motivierte Bekleidungs-, Ernährungs- und sonstige Verhaltensvorschriften sind vom Schutz von Art. 15 BV erfasst. Es lässt sich daher mit den Behörden des Kantons Basel-Landschaft mit guten Gründen argumentieren, dass angesichts dieser bundesgerichtlichen Praxis auch die religiös motivierte Weigerung, einer Person des anderen Geschlechts die Hand zu reichen, eine religiös motivierte Handlung im Sinne von Art. 15 BV darstellt.
Nun ist man sich innerhalb der muslimischen Gemeinschaft der Schweiz nicht einig, ob eine solche Vorschrift des Nichthändeschüttelns gilt oder nicht. Vielmehr ist die Frage, ob ein Mensch muslimischen Glaubens einer Person des anderen Geschlechts die Hand reichen darf oder nicht, Gegenstand einer Kontroverse unter Musliminnen und Muslimen. Diese Uneinigkeit zeigte sich auch in den gegensätzlichen Stellungnahmen in den Medien. Fromme Muslime verweisen auf in den Hadithen enthaltene religiösen Überlieferungen für ein Verbot des Händedrucks, damit argumentierend, die Berührung von erwachsenen Personen des anderen Geschlechts könne zu sexuellen Versuchungen und unmoralischem Handeln führen. Sie berufen sich dabei auf traditionelle Vorstellungen der Geschlechterseparation. Aus dieser Perspektive ist das Nichthändeschütteln, wie Petra Bleisch formuliert hat, „ein Ausdruck von Bescheidenheit, Anstand und Respekt". Andere Muslime betrachten das Nichthändeschütteln durchaus kritischer; jedenfalls ist der Händedruck aus Sicht vieler Muslime nicht verboten. In der alltäglichen Praxis von Muslimen und Musliminnen wird das Nichthändeschütteln demnach sehr unterschiedlich eingeschätzt.
Der Umstand, dass nur eine Minderheit der Muslime diese religiöse Vorschrift befolgt und dass es innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen umstritten ist, ob die Vorschrift gilt oder nicht, spricht indessen gemäß Praxis und Lehre in der Schweiz nicht gegen die Inanspruchnahme der Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit schützt nicht nur die Glaubensüberzeugungen, die von der Mehrheit einer Religionsgemeinschaft oder ihren leitenden Organen vertreten werden, sondern auch jene von Minderheiten. Daher kann trotz des Umstands, dass es innerhalb der Gemeinschaft der Muslime umstritten ist, ob der Händedruck zu unterlassen sei oder nicht, der Schluss gezogen werden, dass die religiös motivierte Weigerung, einer Person des anderen Geschlechts die Hand zu reichen, eine grundsätzlich von der Religionsfreiheit geschützte Handlung darstellt, wie auch die basellandschaftlichen Behörden entschieden. Entsprechend stellt das Einfordern des Handschlags bzw. die rechtliche Pflicht, einer weiblichen Lehrperson die Hand zu reichen, einen Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit der betroffenen Schüler bzw. ihrer Eltern als Erziehungsberechtigte dar, denn er bedeutet, dass die Schüler, welche glaubhaft darlegen, den Handschlag aus religiösen Gründen zu verweigern, eine religiöse Verhaltensvorschrift nicht ausführen dürfen.
Allerdings gilt die in der Bundesverfassung garantierte Religionsfreiheit nicht absolut, sondern sie unterliegt bestimmten Schranken. Dies bedeutet, dass die religiös begründete Verweigerung des zwischengeschlechtlichen Handschlags im Fall Therwil zwar prima facie unter dem Schutz der Religionsfreiheit steht, dass sich ein Eingriff in dieses Freiheitsrecht – das Einfordern des Handschlages – aber nach der Prüfung von bestimmten, in der Bundesverfassung verankerten und in der Praxis des Bundesgerichts und der rechtswissenschaftlichen Lehre anerkannten Voraussetzungen als zulässig erweisen kann.
Die Ermittlung dieser Schranken richtet sich an der Bestimmung von Art. 36 der schweizerischen Bundesverfassung aus, deren eigentlicher Kern und Errungenschaft der Grundsatz ist, dass staatliche Eingriffe in die Grundrechte einer Rechtfertigungspflicht gemäß bestimmten, in der Verfassung genannten Kriterien unterliegen. So hält Art. 36 der Bundesverfassung die allgemeinen Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten fest, welche unbestritten für die Freiheitsrechte gelten, zu denen die Religionsfreiheit zählt. Demnach ist eine Beeinträchtigung dieses Grundrechts nur zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruht (Art. 36 Abs. 1 BV), im öffentlichen Interesse liegt oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt ist (Art. 36 Abs. 2 BV) und verhältnismäßig ist (Art. 36 Abs. 3 BV). Eine Rechtfertigungsmöglichkeit entfällt hingegen dann, wenn ein Eingriff den Kerngehalt der Religionsfreiheit nicht respektiert, denn der Kerngehalt der Grundrechte ist gemäß Art. 36 Abs. 4 BV unantastbar.
Im Fall der Handschlagverweigerung durch die beiden Schüler galt es dementsprechend zu prüfen, ob der Eingriff in die Religionsfreiheit – das rechtliche Einfordern des Handschlags – diese Voraussetzungen erfüllt oder nicht, ob das Einfordern des Handschlags also auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismäßig ist sowie schließlich den Kerngehalt des Grundrechts der Religionsfreiheit wahrt.
Für das juristische Verfahren, das sich auf das Verhalten der beiden muslimischen Schüler gegenüber den Lehrpersonen in der Schule bezog, waren diese Grundsätze maßgeblich. Die über die „Handschlag-Affäre" befindende Exekutivbehörde (Regierungsrat) des Kantons Basel-Landschaft entschied in Anwendung dieser Grundsätze schließlich zu Lasten der beiden Schüler, dass alle Lehrpersonen den Handschlag von ihren Schülern einfordern dürfen. Die Durchsetzung des Handschlags stelle zwar einen Eingriff in die Religionsfreiheit der beiden betroffenen Schüler dar. Dieser Eingriff beruhe aber auf einer gesetzlichen Grundlage, liege im öffentlichen Interesse und sei verhältnismäßig, wobei der Kerngehalt des Grundrechts der Religionsfreiheit nicht angetastet werde. Dabei sei der Eingriff nicht „besonders schwer", und durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertigt, wobei die öffentlichen Interessen an der Integration von ausländischen Kindern und am Schulbesuch (soziale Integrationsfunktion der öffentlichen Schule) sowie der Gleichstellung der Geschlechter im Vordergrund stünden. Die Interessen der Integration und des schulischen Bildungsauftrags, der Gleichstellung von Frauen und Männern und der Vermeidung der Geschlechterdiskriminierung überwiegen aus Sicht der Behörde somit das individuelle Interesse an der Ausübung der Religionsfreiheit. Der Eingriff in die Religionsfreiheit wurde aus diesen Gründen als zulässig beurteilt. Die juristische Auseinandersetzung um die Handschlagverweigerung der beiden Schüler wurde mit dem Entscheid des Regierungsrates im Mai 2017 in inhaltlicher Hinsicht abgeschlossen. Zwar reichte die Familie in der Folge beim Kantonsgericht Basel-Landschaft Beschwerde ein. Das Kantonsgericht schrieb den Fall im November 2017 wegen mangelnden Rechtsschutzinteresses aus formellen Gründen allerdings als gegenstandslos ab; eine inhaltliche Beurteilung durch das Gericht erfolgte daher nicht.
Die Handschlagverweigerung löste sodann, wie erwähnt, verschiedene politische Vorstöße auf Bundes- und kantonaler Ebene aus. Im Kanton Basel-Landschaft führte der Fall zu Bestrebungen, die kantonale Verfassung und Gesetzgebung zu ändern. Insbesondere sollten auf Verfassungsstufe ein Vorbehalt bürgerlicher Pflichten verankert und die gesetzlichen Grundlagen im Bildungsbereich geändert werden. Dieser politische Prozess steht im vorliegenden Beitrag im Fokus, wenn er auch nicht losgelöst von der hier skizzierten – ihn zeitlich überlagernden – juristischen Entscheidungsfindung im konkreten Einzelfall betrachtet werden kann. Denn die rechtliche Beurteilung des Falls Therwil wirft symptomatisch ein Schlaglicht auf jene Spannungsverhältnisse, welche auch die politische Debatte um die Religionsfreiheit in der öffentlichen Schule in der Schweiz heute prägen: Deren Spannungsverhältnis zum verfassungsrechtlichen Auftrag der Gleichstellung von Frauen und Männern und dem Verbot der Geschlechterdiskriminierung, zur Integration der ausländischen Bevölkerung sowie zum Bildungsauftrag der Volksschule als einem wichtigen Instrument gesellschaftlicher Integration. Ganz offenkundig wurden diese Anliegen im Fall Therwil in einen migrationspolitischen Kontext gestellt, welcher die politische Diskussion um die Handschlagverweigerung – ausgesprochen oder unausgesprochen – dominierte.
Die damit angesprochenen Spannungsverhältnisse lassen sich grundrechtsdogmatisch als Frage nach den Grenzen der Religionsfreiheit formulieren. So erstaunt es nicht, dass sich auch eine delikate politische Debatte um eben diese Grenzen entwickelte, welche in der Schweiz traditionell in den „bürgerlichen Pflichten" gesehen wurden. Aber welche Bedeutung kommt nun dem Vorbehalt der bürgerlichen Pflichten – insbesondere im hier skizzierten Gefüge der Grundrechtsschranken – genau zu?
Die Bezugnahme auf den Vorbehalt der bürgerlichen Pflichten in den politischen Prozessen rund um die Handschlag-Affäre in Therwil erstaunt schon alleine deshalb, weil dieses Konzept der alten schweizerischen Bundesverfassung, jener von 1874, entstammt. Art. 49 der Bundesverfassung von 1874 garantierte im ersten Absatz die Glaubens- und Gewissens-freiheit, hielt aber im fünften Absatz fest: „Die Glaubensan-sichten entbinden nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten." Die revidierte, 1999 in Kraft getretene Bundesverfassung erwähnt einen solchen Vorbehalt nicht mehr.
Mit der geplanten Verfassungsänderung im Kanton Basel-Landschaft wurde indes ganz bewusst an die – nicht mehr in Kraft stehende – schweizerische Bundesverfassung von 1874 sowie an die aargauische Kantonsverfassung, welche dieses Konzept nach wie vor enthält, angeknüpft. Der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten sollte im Kontext des Falls Therwil in grundrechtsdogmatischer Hinsicht die Frage nach den Grenzen der Religionsfreiheit beantworten: „Die Religionsfreiheit gibt keinen Anspruch, sich staatlich festgelegten, bürgerlichen Pflichten zu entziehen." Wie im Folgenden zu zeigen ist, ging es aber beim Aufgreifen des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten im Fall Therwil weniger um die (gewissermaßen „rechtstechnische") Frage nach den rechtlich verbindlichen und durchsetzbaren Schranken der Religionsfreiheit als vielmehr um den symbolischen Gehalt des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten.
Denn der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten bildete unter der Bundesverfassung von 1874 zwar einen – sogleich näher zu erläuternden – Aspekt der verfassungsrechtlichen Schranken der Religionsfreiheit, darüber hinaus stand er aber (und steht er offenbar nach wie vor) symbolhaft für ein bestimmtes Verständnis des Staates in seiner Beziehung zur Kirche bzw. zur Religion. Dies belegt ein Blick in die Botschaft des schweizerischen Bundesrates, welche die Bestimmungen der Bundesverfassung von 1874 erläutert. So begründet der Bundesrat den Vorrang der bürgerlichen Pflichten im Jahr 1870 folgendermaßen:
„Der Staat [...] kann nicht Jedem das Recht nach seinem religiösen Glaubensbekenntnis zuschneiden: den Einen vom Militärdienst aus religiösen Skrupeln entbinden; dem Geistli-chen einen Ausnahmegerichtsstand anweisen; das Kirchengut ausnahmsweise von der Steuer befreien; die Geseze über den Erwerb von Gütern zu todter Hand zu Gunsten der Kirche mo-difiziren; ihr die Gründung von Korporationen und Stiftungen auf Bedingungen, die dem gemeinen Recht nicht entsprechen, bewilligen [...]. Es sollen für die Kirche keine Ausnahmegese-ze, weder zu ihren Gunsten, noch zu ihren Ungunsten, gemacht werden. (...) Das Recht für die Kirche soll in jeder Beziehung dem gemeinen Rechte konform sein; sie soll nicht als ausser dem Staate stehend betrachtet werden, nicht als eine ihm frem-de Macht gegenüberstehen; sie sei nicht ein Fremdling im Hau-se des Staates, noch ein Unterthan desselben, sondern mit und neben den anderen Bürgern dessen freie und gleichberechtigte Bürgerin."
Diese Ausführungen verdeutlichen die starken Befürchtungen im noch jungen Bundesstaat, dass kirchliche bzw. religiöse Mächte gegenüber staatlichen Institutionen überhandnehmen könnten. Sie sind vor dem Hintergrund einer konkreten politischen Krise, des zwischen 1870 und 1874 besonders virulenten Kulturkampfes, zu sehen. Dieser Konflikt zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem Staat eskalierte nach der Verkündigung des päpst-lichen Primates und der päpstlichen Unfehlbarkeit durch das Erste Vatikanische Konzil von 1870. In die Bundesverfassung von 1874 wurden angesichts einer von den führenden liberalen Kreisen als bedrohlich wahrgenommenen kirchlichen Macht mehrere Bestimmungen eingeführt, die die Vorrangstellung staatlichen Rechts vor kirchlichem Recht und kirchlichen Gebräuchen manifestieren sollten.
Der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten bildete Teil dieser sog. konfessionellen Ausnahmeartikel, die unter anderem auch eine Bewilligungspflicht für neue Bistümer, die Säkularisierung des Schulwesens und die Abschaffung der geistlichen Gerichtsbarkeit umfassten. Damit sollte eine solche Vorrangstellung staatlichen Rechts gegenüber „der Religion" verankert und – durchaus im Sin-ne des Rechtsgleichheitsprinzips – sichergestellt werden, dass religiöse Normen, und damit waren damals vor allem kirch-liche Normen gemeint, im Staat nicht zur Bevorzugung füh-ren. Allen Bürgern, Genossenschaften und Korporationen sei ungeachtet ihrer jeweiligen religiösen Überzeugung oder religiösen Ausrichtung „gleiches Recht" zu gewähren.
Aus der Perspektive des Individualrechtsschutzes bedeutete der Vorbehalt der bürgerlichen Pflichten in der Bundesverfassung von 1874, dass die individuelle Ausübung der Religionsfreiheit eingeschränkt werden konnte, wenn sie mit einer bürgerlichen Pflicht kollidierte. Unter der Bundesverfassung von 1874 wurden dabei insbesondere der Schulbesuch im Rahmen der obligatorischen Schulzeit und der Militärdienst als „bürgerliche Pflichten" qualifiziert. Allerdings wurde die Frage, welche Pflichten – nebst der Schulpflicht und der Militärdienstpflicht – als „bürgerliche Pflichten" zu qualifizieren sind, nie ganz geklärt.
Das Bundesgericht definierte den Begriff nicht und bezog auch nicht umfassend Stellung zum Konzept der bürgerlichen Pflichten. Diese wurden in der rechtswissenschaftlichen Literatur zum einen den „Grundpflichten" gleichgesetzt. Die Grundpflichten werden als sich aus der Verfassung ergebende, besonders wichtige staatsbürgerliche Pflichten bezeichnet. Verschiedene Autoren bezogen sich zwar nicht auf den Begriff „Grundpflichten", zählten zu den „bürgerlichen Pflichten" aber doch auch nur „ganz bestimmte staatsbürgerliche Aufgaben". Abgesehen von der Militärdienstpflicht und der Schulpflicht herrschte in der Literatur jedoch keine Einigkeit darüber, welche in der Verfassung vorgesehenen Pflichten des Einzelnen besonders wichtig sind. Zum andern wurden über die spezifisch in der Verfassung statuierten Pflichten hinaus auch weitere allgemein verbindliche rechtliche Regelungen als „bürgerliche Pflichten" bezeichnet. Das Bundesgericht qualifizierte beispielsweise die gesetzlich verankerte Pflicht des Arbeitslosen, eine vom Arbeitsamt zugewiesene zumutbare Arbeit anzunehmen oder die Befolgung der strafrechtlichen Gesetze als bürgerliche Pflichten. Es ging somit offenbar von einem weiten Verständnis der bürgerlichen Pflichten aus, das in die Nähe einer allgemeinen Rechtsbefolgungspflicht rückt. Der Begriff „bürgerliche Pflichten" stand inhaltlich jedenfalls nicht fest, und es war unter der Bundesverfassung von 1874 ungeklärt, ob von einem weiten oder engen Verständnis solcher Pflichten auszugehen ist. Dies hat dementsprechend Auswirkungen auf die Bestimmung der Grenzen der Religionsfreiheit.
Die Problematik der Bestimmung von Art. 49 Abs. 5 der Bundesverfassung von 1874 brachte der Jurist Walther Burckhardt in seinem Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung bereits 1931 mit folgender Frage prägnant zum Ausdruck:
„Wenn (der Staat) sein Gebiet, das er selbst abgrenzt, ohne Rücksicht auf die religiösen Überzeugungen der Bürger ordnen kann, was gewährt denn die Verfassung dem Bürger für einen Schutz gegenüber dem Staat?"
Die Verfassungsrechtslehre plädier-te angesichts dieser Problematik bereits unter der alten Verfassung dafür, den in Art. 49 Abs. 5 strikt gesetzten Primat staatlicher Ordnung vor den religiösen Anschauungen abzuschwächen.
Die Hinwendung zu dieser Auffassung widerspiegelt sich – wenn auch nicht ganz gradlinig – in der Entwicklung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. So orientierte sich das Bundesgericht in seiner Praxis etwa zu den religiös bedingten Schuldispensationen zunächst strikt am Vorbehalt bürgerlicher Pflichten und betonte beispielsweise mit Blick auf die obligatorische Schulpflicht, dass diese eine bürgerliche Pflicht darstelle, welche gemäß Art. 49 Abs. 5 der Bundesverfassung nicht durch Berufung auf eine religiöse Anschauung umgangen werden könne. In der Folge schwächte das Bundesgericht den Primat der bürgerlichen Pflichten allerdings ab. Einen eigentlichen Paradigmenwechsel bedeutete ein Urteil im Jahr 1991, in welchem das Bundesgericht anführte, dass am Vorbehalt bürgerlicher Pflichten nicht absolut festgehalten werden könne, weshalb es sich veranlasst sah, seine Rechtsprechung zu Art. 49 Abs. 5 aBV zu präzisieren. Der in dieser Bestimmung statuierte Vorbehalt von Bürgerpflichten entbinde nicht davon, diese Bürgerpflichten verfassungsmäßig auszugestalten. Die Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit setze vielmehr eine gesetzliche Grundlage sowie die Wahrung des öffentlichen Interesses und der Verhältnismäßigkeit voraus. Die bürgerli-chen Pflichten und das Freiheitsrecht stehen demnach auf der gleichen recht-lichen Ebene.
Nicht ganz gradlinig war diese Entwicklung deshalb, weil sich das Bundesgericht in seinem bekannten zweiten Urteil zur Frage der Dispensationsmöglichkeit vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht im Jahr 2009 erneut auf den Vorbehalt der bürgerlichen Pflichten berief, um ein Dispensationsgesuch einer tunesischen Familie abzulehnen. Die Familie hatte geltend gemacht, die Pflicht, am Schwimmunterricht teilzunehmen, verletze das islamische Gebot, wonach Gläubige den weitgehend nackten Körper des anderen Geschlechts nicht sehen dürfen. Das Bundesgericht wies die Beschwerde mit Hinweis auf den Vorbehalt bürgerlicher Pflichten ab. Es hielt fest: „Glaubensansichten entbinden [...] nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten. Diese in der bisherigen Bundesverfassung (Art. 49 Abs. 5 aBV) noch ausdrücklich verankerte Regel muss als Grundsatz weiterhin gelten." Das Gericht verzichtete darauf, anzufügen, dass die bürgerlichen Pflichten und das Freiheitsrecht auf der gleichen rechtlichen Ebene stehen. Allerdings nahm es auch in diesem Fall eine eingehende Abwägung zwischen den konkret in Frage stehen-den öffentlichen und individuellen Interessen vor, womit es den Grundsatz bekräftigte, dass an einem strikten Vorrang bürgerlicher Pflichten, der ohne eine einzelfallbezogene Abwägung der tangierten Interessen durchgesetzt würde, nicht festgehalten werden kann.
Die Bestimmung von Art. 49 Abs. 5 wurde, wie andere aus der Zeit des Kulturkampfs stammende Verfassungsbestimmungen, anlässlich der Totalrevision der Bundesverfas-sung denn auch nicht mehr in den Text der Bundesverfassung von 1999 aufgenommen. Diese Bestimmung erschien angesichts der Entwicklungen der Grundrechtspraxis und -lehre als überflüssig. Ihr Gegenstand wurde als Vo-raussetzung der zulässigen Einschränkung des Grundrechts angesehen, und war demgemäß im neu verankerten Artikel 36 der Bundesverfassung (1999) geregelt.
Für den Fall Therwil implizieren diese verfassungsrechtlichen Grundlegungen, dass der Einsatz des Vorbehaltes der bürgerlichen Pflichten eine rechtliche Klärung von komplexen Lebenssachverhalten und Abwägungsstrukturen suggerieren sollte, die sich bei näherer Betrachtung als Scheinklärung erweist. Vielmehr zeichnet sich die schweizerische Verfassungspraxis gerade durch eine Entwicklung aus, welche die „bürgerlichen Pflichten" und das hier zur Diskussion stehende Freiheitsrecht der Religionsfreiheit auf die gleiche Ebene stellt, den Vorbehalt von bürgerlichen Pflichten also relativiert. Im Fall eines Konflikts zwischen Glaubensgeboten und rechtlichen Pflichten muss angesichts dessen stets in einer einzelfallbezogenen Abwägung bestimmt werden, ob ein solcher Konflikt für das betroffene Individuum zumutbar ist oder nicht.
Zu Recht wurden die rechtspraktischen Auswirkungen der geplanten Verfassungsänderung im politischen Prozess rund um den Fall Therwil denn auch als rechtlich unwirksam beurteilt. Die Bedeutung des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten kann daher nicht in seiner rechtlich verbindlichen und durchsetzbaren, sondern muss in seiner symbolischen Dimension liegen.
Bislang wurde der Unterschied zwischen dem rechtlich wirksamen und durchsetzbaren Gehalt einerseits und dem symbolischen Gehalt von Verfassungsrecht andererseits lediglich angedeutet. Darauf soll nun näher eingegangen werden.
Dass rechtlichen Erlassen auch symbolische Kraft zukommen kann, ist seit längerem anerkannt. Die Vorstellung von symbolischer Gesetzgebung wird, basierend auf Forschungen von US-amerikanischen Sozialwissenschaftlern, im deutschsprachigen Raum seit den 1970er Jahren intensiv diskutiert. Der Schweizer Strafrechtswissenschaftler Peter Noll versteht darunter „Gesetze, die von vornherein gar nicht darauf angelegt sind, faktisch wirksam zu werden, bei denen vielmehr die gesetzgebende Instanz mit dem Erlass des Gesetzes primär andere soziale Effekte erzielen will als diejenigen, die durch die faktische Wirksamkeit eintreten würden". Und Winfried Hassemer merkt an, dass „staatliche Verbote nur für eine naive Betrachtung die Funktion haben, das verbotene Verhalten zu unterdrücken und zu minimieren: dahinter stehen Kulturen und Moralen, welche bestimmte Lebensstile symbolisieren". Der Begriff „symbolisch" steht dabei in Gegensatz zur „instrumentellen Funktion" von Gesetzen oder zu deren realer rechtlicher Wirksamkeit, wobei die Intentionen des Gesetzgebers eine maßgebliche Rolle spielen.
Oft wird eine solche symbolische Funktion von Gesetzen negativ konnotiert. So hält etwa der US-amerikanische Soziologe Joseph Gusfield fest, das symbolische Gesetz sei eine „Geste", um den Wert einer gesellschaftlichen Gruppe zu glorifizieren und den „Wert" einer anderen Gruppe herabzusetzen. Es bezeichne den Wert eines bestimmten sozialen Normensystems und zeige, welche Kultur legitim und herrschend sei und welche nicht. Es bilde Bekräftigungen eines akzeptierten Codes im Sinne von Idealen. Symbolische Gesetzgebung wird indes nicht nur als negativ konnotiert gesehen. Wenn eine Norm mit Symbolcharakter wichtige, in der Gesellschaft herrschende Wertvorstellungen bestätige, könne ihr eine legitimierende und integrierende Funktion (Georg Müller/Felix Uhlmann) zukommen, wie dies etwa bei Zielbestimmungen und Grundsatznormen der Fall ist. Als Beispiele werden Präambeln von Verfassungen oder Staatsverträgen genannt. Sie zeigen, dass Rechtsetzung, wie Stefan Höfler darlegt, „nicht nur der Ordnung und Stabilisierung des Verhaltens und der Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung dient, sondern auch legitimierend und integrierend wirken kann". Davon unterschieden werden symbolische Gesetze ohne normative Relevanz, wenn nämlich eine Bestimmung zu keiner Veränderung der Rechtslage führt, weil die entsprechende Regelung bereits Teil des geltenden Rechts ist. Solche Erlasse sind oft politisch motiviert, geht es doch darum, ein Zeichen setzen, die Bevölkerung zu beruhigen und zu zeigen, dass der Gesetzgeber die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst nimmt und er etwas dagegen unternimmt.
Auch gewissen Verfassungsnormen wird symbolischer Charakter zugeschrieben. So schreibt Johannes Reich im Kontext des schweizerischen Verfassungsrechts der Präambel (beginnend mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen!"), den Bestimmungen von Art. 6 („Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.") und von Art. 11 Abs. 1 („Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung.") der Bundesverfassung eine symbolisch-politische Funktion zu. Diesen Bestimmungen sollten keine rechtsnormativen Wirkungen zukommen. Vielmehr brächten solche symbolischen Verfassungsnormen im politischen Prozess gemachte moralische Bekenntnisse zum Ausdruck, mit denen die politischen Akteure eben gerade nicht darauf abzielten, rechtsverbindliche Normen im Verfassungstext zu verankern. Marcelo Neves, der die Beziehung zwischen „rechtsnormativer Unwirksamkeit" und politisch-symbolischer Funktion der Verfassung eingehend untersucht, betont, dass die Unterscheidung zwischen normativ wirksamer und symbolischer Verfassung relativ sei, es also nicht um eine strikte Dichotomie gehe. Zentral ist aber, dass mit bestimmten Verfassungsbestimmungen vor allem und überwiegend symbolische Ziele verwirklicht werden sollen, die nicht unbedingt auch rechtlich durchsetzbare Wirkungen zeitigen müssen. Dabei spielen die Intentionen des Verfassungsgebers eine ganz zentrale Rolle. Verfassungsnormen mit Symbolcharakter können, müssen aber demnach nicht stets auch rechtlich wirksam sein.
Die Charakterisierung als Verfassungsnorm mit Symbolcharakter, die keine rechtliche Wirksamkeit entfalten soll, trifft jedenfalls auf die hier im Fokus stehende angestrebte Verfassungsänderung im Kanton Basel-Landschaft zu. Initialzündung für die Ingangsetzung des politischen Prozesses bildete der parlamentarische Vorstoß der FDP vom 14. April 2016, der eine Ergänzung der Kantonsverfassung um folgenden Passus forderte: „Weltanschauliche Auffassungen und religiöse Vorschriften entbinden nicht von der Erfüllung bürgerlicher Pflichten." Dieser Vorstoß mit dem Titel „Staatliches Recht vor religiösen Vorschriften" führt zur Begründung an:
„Die Religionsfreiheit gibt keinen Anspruch, sich staatlich festgelegten, bürgerlichen Pflichten zu entziehen. Das ist geltendes Recht. Dieses scheint aber nicht mehr genügend klar zu sein. Militante fundamentalistische Kreise versuchen verstärkt, ihren archaischen, der freiheitlich-demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung widersprechenden Wertvorstellungen mittels einer extensiven Auslegung der Religionsfreiheit zum Durchbruch zu verhelfen. Dem ist entschlossen Einhalt zu gebieten. § 11 Absatz 2 der Aargauer Kantonsverfassung hält explizit fest, dass weltanschauliche Auffassungen und religiöse Vorschriften nicht von der Erfüllung bürgerlicher Pflichten entbinden. Eine analoge Bestimmung gab es in Artikel 49 der alten Bundesverfassung von 1874. Diese Bestimmung findet sich in der geltenden Bundesverfassung nicht mehr, weil man ihre Geltung implizit voraussetzt. Aus dem gleichen Grund findet sich auch keine solche Bestimmung in der basellandschaftlichen Kantonsverfassung. Aufgrund der Absicht militant-fundamentalistischer Kreise, die Religionsfreiheit zur Aushebelung des staatlichen Rechts zu missbrauchen, ist aber eine ausdrückliche Nennung in der Kantonsverfassung angezeigt."
Indem die Motion auf das „geltende Recht" verweist, wird deutlich, dass eine rechtlich unbedingte Vorrangstellung der „bürgerlichen Pflichten" und somit eine Änderung des geltenden Rechts mit ihr nicht intendiert war. Denn wie gezeigt unterlag die Interpretation des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten unter der Bundesverfassung von 1874 einem Wandel, schwächte doch das Bundesgericht den strikten Primat der bürgerlichen Pflichten deutlich ab. Auf der Grundlage dieser bei der Revision der Bundesverfassung von 1874 etablierten Praxis wurde der Vorbehalt der bürgerlichen Pflichten nicht mehr explizit in die 1999 in Kraft getretene Bundesverfassung geschrieben, da die Voraussetzungen für Einschränkungen von Grundrechten nun in allgemeiner Weise in den Verfassungstext eingefügt waren und eine explizite Nennung eines solchen Vorbehalts nicht mehr als notwendig erschien. Gemäß der heute anerkannten Praxis bedarf es für die Prüfung, ob ein Grundrechtseingriff zulässig ist oder nicht, stets einer einzelfallbezogenen Prüfung. Die Beschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit setzt daher wie diejenige anderer Freiheitsrechte eine gesetzliche Grundlage sowie die Wahrung des öffentlichen Interesses sowie des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes voraus. Zudem darf der Kerngehalt des Grundrechts nicht angetastet werden. Angesichts dessen würde nur die Rückkehr zu einem strikten Verständnis des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten, wonach die Ausübung der Religionsfreiheit ohne solche Einzelfall- und Verhältnismäßigkeitsprüfung stets dann eingeschränkt werden darf, wenn bürgerliche Pflichten dieser Ausübung entgegenstehen, diese Rechtslage verändern. Wie aus der Motion selbst hervorgeht, sollte die mit der Motion verlangte „ausdrückliche Nennung" dieses Vorbehalts in der Kantonsverfassung aber keine solchen Wirkungen zeitigen.
Dass eine Änderung der Rechtslage nicht intendiert war, gibt explizit die von der kantonalen Exekutive verfasste Landratsvorlage zu:
„Entsprechend der Motion [...] der FDP-Fraktion: Staatliches Recht vor religiösen Vorschriften soll die Verfassung des Kantons Basel-Landschaft in § 20 ergänzt werden und neu ausdrücklich festhalten, dass weltanschauliche Auffassungen und religiöse Vorschriften nicht von der Erfüllung bürgerlicher Pflichten entbinden. Diese Ergänzung ändert grundsätzlich an der Rechtslage nichts, da jede bürgerliche Pflicht einer gesetzlichen Grundlage bedarf und jeweils im Einzelfall geprüft werden muss, ob Grundrechte aufgrund dieser Pflichten eingeschränkt werden dürfen. Der Vorbehalt soll gemäss Motion jedoch diesen Vorrang ganz allgemein verdeutlichen. Im Kontext Bildung beispielsweise ist der Grundschulunterricht obligatorisch und stellt eine bürgerliche Pflicht dar (Artikel 62 Absatz 2 BV). Bei der konkreten Ausgestaltung der Schulpflicht wird jedoch auch in Zukunft die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Betroffenen zu beachten sein."
Wenn die kantonale Exekutive also betont, der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten solle „diesen Vorrang ganz allgemein verdeutlichen", geht es demnach um einen – normativ nicht verbindlichen – Appell. Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, dass die Änderung der Kantonsverfassung und die Ergänzung um einen Vorbehalt bürgerlicher Pflichten in der Vernehmlassung in zahlreichen Stellungnahmen von politischen Parteien und Verbänden als überflüssig bezeichnet wurde, da sie rechtlich wirkungslos sei.
Der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten fand denn auch in der zuständigen Parlamentskommission keine Mehrheit. Die vorgeschlagene Verfassungsänderung (§ 20 Absatz 2) wurde nach intensiver Beratung mit den Argumenten aus der Vorlage entfernt, dass die Verfassung nicht mit Symbolpolitik belastet werden solle und die Ergänzung der Kantonsverfassung nicht notwendig und angebracht sei, da sie nichts an der Rechtslage ändern würde. Zumal eine Verfassungsänderung zwingend einer – kostspieligen – Volksabstimmung bedürfte, welche einen möglicherweise sehr emotionalen Abstimmungskampf mit sich bringen würde. Die Kommission erachtete die Ziele, welche die Vorlage anstrebt, mit der von ihr beschlossenen Fassung des Bildungsgesetzes als erreicht an. Auf diese revidierte Vorlage traten die Parlamentarier des Kantons Basel-Landschaft ein, wobei selbst die FDP-Fraktion bereit war, auf die von ihr per Motion verlangte Verfassungsergänzung zu verzichten, „obwohl es legitim wäre, in der Kantonsverfassung im Zusammenhang mit den individuellen Rechten auch die bürgerlichen Pflichten in Erinnerung zu rufen".
Damit wird deutlich, dass die geplante (und schließlich gescheiterte) Verfassungsänderung gleichsam symbolhaft bestimmte politische „Werte" zum Ausdruck bringen wollte, welche in der Gesellschaft vorherrschen sollen. Gleichzeitig manifestiert sie das politische Interesse der Initianten, als Partei wahrgenommen zu werden, die für diese Werte steht und streitet, um damit „ein Zeichen zu setzen" und die Bevölkerung zu beruhigen. Allerdings erweist sich ihre Symbolik als vielschichtig, werden darin doch migrationspolitische und religionspolitische Anliegen verwoben. Als wirkmächtiges Symbol verweist der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten zunächst auf die Konfliktlinien des Kulturkampfs im 19. Jahrhundert, in welchem die Ansprüche des säkularen Staates gegenüber politisch gedeuteten Forderungen religiöser Gruppen ausgehandelt wurden. Auch die heutige Bezugnahme auf den Vorbehalt bürgerlicher Pflichten dreht sich im Kern um die Vorstellung, dass religiösen Gemeinschaften und Gruppierungen, ja der „Religion" insgesamt im säkularen Staat keine Sonderstellung zukommen dürfe. Angesichts heutiger Lebenswirklichkeiten im Zuwanderungsland Schweiz zielt dieser Appell im Kontext der Therwiler Handschlag-Affäre allerdings deutlich auf die zugewanderten Menschen mit „unterschiedlichen ethnischen und religiösen Hintergründen" ab, welche mit oftmals „fundamentalistisch-religiös motivierten Verhaltensweisen" unsere auf „säkularem" Fundament aufgebaute Staats- und Gesellschaftsordnung in Frage stellten. Auch sie sollen – so der Appell – die „bei uns geltenden Rechte, Werte und gesellschaftlich anerkannten Gebräuche" respektieren, wobei diese Werte aber paradoxerweise durchaus auch als christlich fundierte ausgewiesen werden. Der Einsatz des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten steht somit für ein politisches Bedürfnis, religiöse Vorbringen gerade dann nicht anzuerkennen, wenn diese von zugewanderten Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft und „anderen religiösen und ethnischen Hintergründen" geäußert werden. Insgesamt symbolisiert der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten im Fall Therwil einen Kodex „hiesiger Werte", der als bedroht imaginiert wird, wie eben im Fall der beiden muslimischen Schüler, die ihrer Lehrerin den Handschlag verweigerten.
Der Vorbehalt bürgerlicher Pflichten fungiert im rechtlichen und politischen Prozess rund um den Fall Therwil als rechtliche Kategorie, mit welcher der Schutzbereich der individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit zugunsten kollektiver Interessen einschränkt werden soll. Er erweist sich in dieser Hinsicht jedoch als rechtlich wirkungslos. Der Einsatz des Vorbehaltes der bürgerlichen Pflichten suggeriert somit eine rechtliche Klärung von komplexen Lebenssachverhalten und Abwägungsstrukturen, die sich bei näherer Betrachtung als Scheinklärung erweist. Vielmehr zeichnet sich die schweizerische Verfassungspraxis gerade durch eine – allerdings nicht gradlinige – Entwicklung aus, welche die bürgerlichen Pflichten (zu denen anerkanntermaßen der Schulbesuch gehört) und das hier zur Diskussion stehende Freiheitsrecht der Religionsfreiheit auf die gleiche Ebene stellt, den Vorbehalt von bürgerlichen Pflichten also relativiert. Im Fall eines Konflikts zwischen Glaubensgeboten und rechtlichen Pflichten muss deshalb stets in einer einzelfallbezogenen Abwägung bestimmt werden, ob ein solcher Konflikt für das betroffene Individuum zumutbar ist oder nicht.
Angesichts dessen kann die Bedeutung des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten im Fall Therwil nicht in seiner rechtlich verbindlichen und durchsetzbaren Dimension liegen. In den Vordergrund tritt vielmehr seine symbolische Funktion. Diese wird eingesetzt, um einer bestimmten politischen Zielsetzung zu dienen. Dies zeigt sich besonders deutlich mit Blick auf den migrationspolitischen Hintergrund der sog. Handschlag-Affäre, geht es doch um den Ausdruck von impliziten wie expliziten Imaginationen von Zugehörigkeit.
Dabei wird mit dem Rückgriff auf den Vorbehalt bürgerlicher Pflichten auf einen Verfassungsartikel aus der Zeit des Kulturkampfs im 19. Jahrhundert rekurriert. Liest man den Vorbehalt bürgerlicher Pflichten als symbolische Verfassungsnorm, ist der mit dieser historischen Referenz verbundene Aushandlungsprozess der säkularen Ansprüche des Staates gegenüber politisch gedeuteten Forderungen religiöser Gruppen bewusst zu machen. Gleichzeitig steht aber die heutige Inanspruchnahme des Vorbehalts bürgerlicher Pflichten vor dem migrationspolitischen Hintergrund im Fall Therwil symbolhaft für einen sich zunehmend schriller ausnehmenden Diskurs über Zugehörigkeit und Fremdheit in einer bürgerlichen Ordnung, die sich durch Migration und kulturelle Vielfalt herausgefordert fühlt. In dieser Situation der Verunsicherung erfolgt die Vergewisserung der eigenen Position über den Versuch, eine rechtliche Norm zu setzen, welche der weltanschaulich-religiösen Fluidität pluralistischer Gesellschaften eine (vermeintliche) rechtliche Eindeutigkeit entgegenhalten und damit eine „Vereinfachung" komplexer Lebensverhältnisse durch den Rückgriff auf einen Kodex „hiesiger Werte" suggerieren will. Die symbolische Verfassungsnorm will hiesige Werte markieren und verkünden; und offenbart damit geradezu die Intensität dieser Suche nach kollektiver Identität.
Die Autorin dankt lic. phil. Martin Bürgin für viele wichtige inhaltliche Impulse für den vorliegenden Beitrag, für die gute Zusammenarbeit beim gemeinsamen Referat zum Thema (gehalten am 20. Juni 2018 an der Konferenz der European Association for the Study of Religions in Bern) und bei einem ursprünglich gemeinsam verfassten Artikel – der aufgrund seiner Überlänge allerdings zweigeteilt werden musste. Grösster Dank gebührt auch Dr. phil. Philipp Hetmanczyk für seine wertvollen inhaltlichen Anregungen.
By Anne Kühler
Reported by Author