Reinhard Rürup, Revolution und Demokratiegründung. Studien zur deutschen Geschichte 1918/19. 2020 Wallstein-Verlag GmbH Göttingen, 978-3-8353-3363-5, € 24,90
Bis in die frühen 1960er Jahre galt in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, was die deutsche Revolution von 1918/19 angeht, eine These des Kieler Historikers Karl Dietrich Erdmann aus dem Jahr 1955 als herrschende Lehre: Es sei damals um eine klare Alternative gegangen, nämlich „entweder die soziale Revolution im Bündnis mit den auf eine proletarische Revolution hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bündnis mit den konservativen Kräften wie dem alten Offizierskorps". Anfang der sechziger Jahre begannen Historiker einer jüngeren Generation dieser Interpretation zu widersprechen, indem sie nach den tatsächlichen Handlungsspielräumen und Alternativen der sozialdemokratischen Volksbeauftragten um Friedrich Ebert fragten. Sie verwiesen darauf, dass die Arbeiter- und Soldatenräte von 1918/19 überwiegend sozialdemokratisch orientiert waren und als Stütze einer Politik vorbeugender Strukturreformen hätten dienen können, wenn denn die regierenden Mehrheitssozialdemokraten das ernsthaft gewollt und sich nicht nur als „Konkursverwalter des alten Regimes" (Ebert) verstanden hätten.
Zu den Pionieren der neueren Forschungsrichtung gehörte neben Eberhard Kolb, Peter von Oertzen, Walter Tormin, Erich Matthias und Ulrich Kluge auch der im April 2018 verstorbene Berliner Historiker Reinhard Rürup. Der hier anzuzeigende Band enthält neben den wichtigsten bereits früher veröffentlichten Studien zur Revolution von 1918/19 auch einen eigens für diesen Zweck geschriebenen einleitenden Aufsatz des Autors, in dem dieser die neuere, bis Ende 2017 erschienene Literatur zur Entstehung der Weimarer Republik kritisch Revue passieren lässt. Auf weitere, aus Anlass des 100. Jahrestages der Revolution vorgelegte Veröffentlichungen gehen die Herausgeber in einem instruktiven Nachwort ein.
Die Aufsatzsammlung erlaubt es, der Frage nach Kontinuität und Wandel des Revolutionsverständnisses von Reinhard Rürup nachzugehen. Hatte er in seinen frühen Arbeiten – besonders deutlich in dem zusammen mit Eberhard Kolb und Gerald D. Feldman 1971 verfassten Aufsatz „Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs (1917–1923)" und der prägnanten Studie zur Entstehung der Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr 1972 – die 1918/19 versäumten Chancen einer grundlegenden gesellschaftlichen Erneuerung in den Vordergrund gerückt und von einem Scheitern der Revolution gesprochen, so hob er später den beschränkten Handlungsspielraum der sozialdemokratischen Volksbeauftragten hervor. Mehrfach verweist Rürup in diesem Zusammenhang auf das Erklärungspotenzial, das er der These des Politikwissenschaftlers Richard Löwenthal beimisst, wonach alle hochentwickelten Industriegesellschaften infolge ihrer existenziellen Abhängigkeit von den alltäglichen Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu einem revolutionshemmenden „Anti-Chaos-Reflex" neigten.
In dem abschließendem Aufsatz aus dem Jahr 2000 „Probleme der Revolution in Deutschland 1525–1989" tritt Rürup der Meinung entgegen, es habe in Deutschland von jeher an revolutionären Bewegungen und Impulsen gefehlt. Sehr erhellend sind in diesem Zusammenhang seine vergleichenden Betrachtungen zu den deutschen Revolutionen von 1848/49, 1918/19 und 1989/90.
Bis zuletzt hielt Rürup an seiner Überzeugung fest, dass die Mehrheitssozialdemokraten die Bedrohung durch den Bolschewismus und ihre deutschen Gefolgsleute überschätzt hätten. Entsprechend knapp, nach Meinung des Rezensenten zu knapp, fallen daher seine Bemerkungen zur historischen Bedeutung des Berliner Januaraufstandes von 1919 aus. Dass dessen strategisches Ziel die Verhinderung der Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung war, bleibt ungesagt. Strittig dürfte auch Rürups Interpretation des Theorems vom „deutschen Sonderweg" bleiben. Dass das Ausbleiben einer erfolgreichen liberalen bürgerlichen Revolution in Deutschland „unweigerlich in die Katstrophe des NS-Regimes" geführt habe (S. 215), war durchaus nicht die Meinung aller Historiker, die von einem „deutschen Sonderweg" sprachen oder sprechen. Vielmehr betonen die meisten, dass die Machtübertragung an Hitler weder ein zwangsläufiges Ergebnis der deutschen Geschichte noch ein „Betriebsunfall" war, also ohne das das nachwirkende Erbe des deutschen Obrigkeitsstaates nicht zu erklären ist. Leider fehlen dem Band ein Personenregister und ein vollständiges Verzeichnis der Orte, an denen die hier wieder abgedruckten Texte erstmals erschienen sind. Dessen ungeachtet ist es sehr zu begrüßen, dass nunmehr eine Sammlung einiger der wichtigsten Beiträge zu einer differenzierten Sicht der revolutionären Umbruchsphase von 1918/19 vorliegt. Vor allem Forschung und Lehre zur Geschichte der ersten deutschen Republik werden davon profitieren.
By Heinrich August Winkler
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