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Christoph Raichle, Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus. Stuttgart, Kohlhammer 2019.

Rauh, Cornelia
In: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-08-01), Heft 1, S. 269-271
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Christoph Raichle, Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus. Stuttgart, Kohlhammer 2019 

Christoph Raichle, Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus. 2019 Kohlhammer Stuttgart, 978-3-17-035280-3, € 98,–

Die strategische Rolle der deutschen Finanzverwaltungen bei der Verfolgung der europäischen Juden wurde in den letzten beiden Jahrzehnten gründlich erforscht. Voraussetzung war der Zugang zu den Akten, den 1999 eine Vereinbarung der Länderfinanzminister und 2009 dann der Auftrag des Bundesfinanzministeriums zur Erforschung der Geschichte des Reichsfinanzministeriums gewährleistet haben. Für verschiedene Gebietseinheiten – von Bayern bis Niedersachsen – und Zuständigkeitsebenen – vom Reichsministerium über die Oberfinanzdirektionen als Mittelbehörden, die Reichsbank und die bei den Oberfinanzdirektionen angesiedelten Devisenstellen, bis hinunter zu einzelnen Zoll- und Finanzämtern – liegen Untersuchungen vor.

In Baden und Württemberg wurden jedoch bis Kriegsende „die meisten Akten vernichtet" (S. 23). Dennoch hat das Landesministerium für Finanzen dem Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta 2012 den Auftrag zur Erforschung der Geschichte der Finanzverwaltung im Nationalsozialismus erteilt, um – gestützt auf Splitter- und Sekundärüberlieferungen, wie z. B. die Entnazifizierungs- und Wiedergutmachungsakten – die Verwaltungspraxis im Gebiet des Südweststaats zu untersuchen. Seit 2019 liegt das Ergebnis vor: eine 900 Seiten starke Darstellung aus der Feder von Pytas Mitarbeiter, Christoph Raichle. Sie wird ergänzt durch einen Quellenanhang, der 17 einschlägige, kurze Dokumente, teils aus der NS-Zeit, teils aus der Nachkriegszeit, versammelt.

In einem instruktiven Einleitungskapitel beleuchtet der Verfasser die Verwaltungskultur in Baden und Württemberg, wie sie sich bei Aufbau der Reichsfinanzverwaltung in den 1920er Jahren etablierte. Hier wie da sei sie von einer abwartend distanzierten Haltung der Beamtenschaft gegenüber der Weimarer Republik gekennzeichnet gewesen, so dass den meisten Beamten das Arrangement mit dem „Dritten Reich" leichtfiel. Grundsätzliche Unterschiede zwischen Württemberg und dem als liberaler geltenden Land Baden hätten zu keiner Zeit eine Rolle gespielt. Das ist auch dem umfangreichen Kapitel zur Personalpolitik und politischen Führung (280 Seiten) zu entnehmen, ebenso wie den thematischen Hauptteilen über die Entziehung jüdischer Vermögen und die Verwaltung (355 Seiten) und Verwertung der jüdischen Vermögen (185 Seiten). Zum letztgenannten Komplex fehlt es für Baden allerdings fast gänzlich an Quellen, was umso bedauerlicher ist, als das Land bei der Zwangsdeportation der jüdischen Bevölkerung reichsweit vorwegpreschte und bereits im Oktober 1940, ein Jahr früher als andernorts, mit der Verwertung des Raubguts begann.

In allen Teilabschnitten seiner Studie versammelt Raichle eine Vielzahl an Fallbeispielen, angereichert durch biographische Exkurse zu Protagonisten, für die die Quellenlage günstig ist. Die Leser erfahren so am Beispiel des Berufsalltags des Verwaltungspersonals, was bereits etliche Studien seit Ende der 1970er Jahre erbracht haben: Wie die Herrschaftsdurchdringung des Alltags vom NS-Regime ins Werk gesetzt wurde, welche Rolle Anpassungsbereitschaft, Denunziationen und Disziplinierungsmaßnahmen zukam, dass Widerständigkeit vor allem in katholischen Kreisen anzutreffen war, während latent antisemitische Befindlichkeiten weit verbreitet waren und leicht mobilisiert werden konnten.

Im Allgemeinen fungierten insbesondere die Devisenstellen als effektive Instrumente zur Erfassung und Verstaatlichung jüdischen Vermögens und als Schrittmacher der „Arisierung". Das war mit Sicherheit auch im Südwesten der Fall, aber der vollständige Verlust beider Devisenstellen bedingt eine „Blindstelle" (S. 400). Raichle versucht, sie mithilfe der umfangreichen Spruchkammerakte Ernst Niemanns, des zeitweiligen Leiters der Stuttgarter Devisenstelle, auszuleuchten. Dem kurzen Wirken (1937–1939) des Reichsbankrats sind nicht weniger als 80 Seiten von Raichles Buch gewidmet (S. 452–528). Dabei lässt der Autor jedoch hie und da den gegenüber Entnazifizierungsakten wie jeder anderen Überlieferung methodisch gebotenen Abstand vermissen. Er ist weniger bemüht, die Behördenleitung Niemanns im Kontext des Aufgabenprofils der Devisenstellen als Verfolgungsinstitution zu beurteilen, als den antisemitischen Scharfmacher anhand der Belastungszeugnisse noch einmal als schweren Übeltäter zu überführen und die Leiden seiner Opfer darzulegen. Forschungsergebnisse zur Verfolgungspraxis anderer Devisenstellen, zur Karrierepolitik der Reichsbank, zur „Arisierung" und „Entnazifizierung" fließen kaum ein. Dasselbe gilt für die im Bundesarchiv überlieferte Reichsbankpersonalakten Niemanns aus der Zeit 1924–1944 ebenso wie anderer Reichsbankbediensteter. Ihre Kenntnisnahme hätte manche Spekulation über mögliche politische Hintergründe von Niemanns Reichsbankkarriere erübrigt. Dessen angebliche Protektion durch Hermann Göring war eine aus der Luft gegriffene Beschuldigung der Nachkriegszeit.

Raichles in anderen Abschnitten mehr überzeugende Arbeit zeigt im Übrigen, dass entgegen anderslautenden Behauptungen in der Nachkriegszeit auch den Beamten der Finanzverwaltungen bei der Durchsetzung des Unrechts Handlungsspielräume blieben, die jedoch nur von wenigen zugunsten der Verfolgten genutzt wurden. Hinsichtlich der Folgen des Unrechts für die Opfer dokumentiert der Verfasser materialreich und – auf bedrückende Weise eindringlich – deren systematische bürgerliche Ausgrenzung und planmäßige ökonomische Vernichtung, hie und da auch den dornenreichen Weg der Überlebenden, die nach 1945 Entschädigung begehrten. Und in allen vom Autor zusammengetragenen Fällen wirkte die Finanzverwaltung auf die ein oder andere Weise – nicht selten proaktiv – mit, meist ohne dass die Protagonisten dafür nach 1945 zur Verantwortung gezogen wurden. Der Fall des von der Zentralspruchkammer Nordwürttemberg-Baden 1953 rechtsgültig zum „Hauptschuldigen" erklärten Ernst Niemann, gegen den aufgrund seiner Amtsführung auch ein – allerdings aus juristischen Gründen niedergeschlagenes – Strafverfahren angestrengt wurde, blieb singulär.

Raichles detailreiche historische Rekonstruktion der von den südwestdeutschen Finanzbehörden lange Zeit verdrängten Verwaltungstradition der Jahre vor 1945 (S. 55–58) ist – zumal für die Landesgeschichte – zweifellos verdienstvoll. Kürzungen und ein analytischerer Zugriff hätten dem Buch allerdings gutgetan. Ein Orts- und Sachregister würde den Nutzen der Studie gesteigert und der sparsamere Gebrauch von Abkürzungen im Fließtext das Lesevergnügen erhöht haben.

By Cornelia Rauh

Reported by Author

Titel:
Christoph Raichle, Die Finanzverwaltung in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus. Stuttgart, Kohlhammer 2019.
Autor/in / Beteiligte Person: Rauh, Cornelia
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-08-01), Heft 1, S. 269-271
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1282
Schlagwort:
  • DIE Finanzverwaltung in Baden und Wurttemberg im Nationalsozialismus (Book)
  • RAICHLE, Christoph
  • NATIONAL socialism
  • FINANCIAL management
  • NONFICTION
  • Subjects: DIE Finanzverwaltung in Baden und Wurttemberg im Nationalsozialismus (Book) RAICHLE, Christoph NATIONAL socialism FINANCIAL management NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Leibniz Universität Hannover, Historisches Seminar, Hannover,, 30167, Germany.
  • Full Text Word Count: 857

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