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Christian Grabas, Wiederaufbau, Wirtschaftsplanung und Südförderung. Industriepolitik in Italien, 1943/45–1975. (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft, Bd. 26.) Berlin/Boston, De Gruyter 2020.

König, Malte
In: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-08-01), Heft 1, S. 271-273
Online review

Christian Grabas, Wiederaufbau, Wirtschaftsplanung und Südförderung. Industriepolitik in Italien, 1943/45–1975. (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft, Bd. 26.) Berlin/Boston, De Gruyter 2020 

Christian Grabas, Wiederaufbau, Wirtschaftsplanung und Südförderung. Industriepolitik in Italien, 1943/45–1975. Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft, Bd. 26. 2020 Walter de Gruyter GmbH Berlin/Boston, 978-3-11-068416-2, € 99,95

Ausgehend von Vera Zamagnis Kritik, dass die Wirtschaftsgeschichte Italiens lange Zeit nur von Ökonomen geschrieben worden sei, unterzieht Christian Grabas die italienische Industriepolitik der Nachkriegszeit einer tiefgehenden empirischen Überprüfung. Hinterfragt wird in der vorliegenden Studie vor allem, inwiefern privatrechtlich organisierte Staatsunternehmen und staatlich subventionierte Kreditfinanzierung zwischen 1943/45 und 1975 Wachstum und Strukturwandel der italienischen Volkswirtschaft beförderten. Besonderes Augenmerk wird im Zuge dessen auf die Genese der nationalen Industriepolitik gelegt und auf die staatlichen Maßnahmen in Süditalien, was aufgrund des ausgeprägten Nord-Süd-Dualismus auch geboten ist. Kein anderer westeuropäischer Staat wies nach dem Krieg innerhalb der Landesgrenzen stärkere Kontraste in wirtschaftlicher, industrieller und sozioökonomischer Hinsicht auf.

Dass sich die italienische Regierung um 1948 von wirtschaftsliberalen Vorstellungen löste und zunehmend steuernd in die industrielle Entwicklung eingriff, lag dem Verfasser zufolge in der Teilhabe am amerikanischen Marshall-Plan begründet. Langfristig sei die qualitative Prägung, den das European Recovery Program auf die nationale Industriepolitik ausgeübt habe, bedeutsamer gewesen als die Finanzhilfen selbst. Italien sei unter den westeuropäischen Ländern zudem ein Sonderfall gewesen, da es von vornherein über einen ungewöhnlich hohen Anteil an staatlich kontrollierten Wirtschaftsunternehmen verfügte. Als Erbe des Faschismus standen dem Staat Industrieholdings bereit, die sich als zu groß erwiesen, um einfach aufgelöst zu werden. Welche Fragen sich im Zuge einer solchen Liquidation auftaten, stellt Grabas anschaulich am Beispiel der Mineralölgesellschaft AGIP und ihres kommissarischen Verwalters Enrico Mattei dar. Dieser trieb nämlich entgegen seines eigentlichen Auftrags den Wiederaufbau und Ausbau der staatlichen Energiegesellschaft voran, als ihm klar wurde, welches Potential die jüngst entdeckten Erdgasvorkommen in der Po-Ebene hatten. Ein staatliches Unternehmen erschien Mattei als das am besten geeignete Instrument, um in diesem wichtigen Industriezweig konkurrenzfähig zu agieren. 1953 gründete die Regierung vor diesem Hintergrund die ENI, eine staatliche Energieholding, die fortan für die Ausbeutung sämtlicher fossiler Brennstoffe Italiens zuständig war – ein Markstein, an dem deutlich wird, dass sich der dirigistische Ansatz durchsetzte.

Indem der Verfasser Italiens Nachkriegsboom und die Wirtschaftswunderjahre 1958–1963 international vergleichend erläutert, bereitet er den Boden, um den Wachstumsschub, von dem auch Süditalien profitierte, einordnen zu können. Mittels einer quantitativen Analyse des Strukturwandels gelingt es ihm, detailgenau aufzuzeigen, inwieweit im Mezzogiorno zwar der Wohlstand stieg, aber das Nord-Süd-Gefälle bestehen blieb. Hinsichtlich der staatlichen Südförderung relativiert Grabas die Bedeutung, die gemeinhin dem sogenannten Schema Vanoni beigemessen wird. Einen industriepolitischen Kurswechsel habe das Programm von Finanzminister Ezio Vanoni nicht markiert, da es keine konkreten Pläne mit Verbindlichkeitscharakter ausformuliert habe. Der entscheidende Wendepunkt sei erst mit der Nota La Malfa vom Mai 1962 erfolgt, in der die Vorschläge, die der wissenschaftliche Berater Pasquale Saraceno bereits 1953 gemacht hatte, konsequent und wirkkräftig integriert wurden. Neben die Cassa per il mezzogiorno, die seit 1950 Extragelder für den Süden zur Verfügung stellte, trat fortan die koordinierte Industrialisierung Süditaliens mittels staatlicher Unternehmen. Da dadurch bisweilen „Kathedralen in der Wüste" entstanden, riesige Werke der Schwerindustrie, die anders als erwartet keine weiterverarbeitende Industrie im Umfeld generierten, sondern dem Norden zuarbeiteten, blieben die Investitionen hinsichtlich des Multiplikatoreffekts hinter den Erwartungen zurück. Ambivalent sei zudem die Wirkung der staatlich subventionierten Kreditfinanzierung gewesen. Im verarbeitenden Gewerbe habe man dadurch zwar Anfang der siebziger Jahre Erfolge erzielt und die Produktion deutlich gesteigert, doch habe es sich im Grunde genommen um ein Wachstum „auf Pump" gehandelt; insbesondere im Süden hätten sich die expandierenden Branchen stark verschuldet, mit langfristigen Folgen.

Die Studie von Christian Grabas überzeugt durch Solidität und Differenziertheit. Obwohl sie wenig überraschende Erkenntnisse liefert, trägt sie wesentlich zu unserem Verständnis der Industriepolitik der Ersten Republik bei, da sie den Blick auf Planung und Wirkung der staatlichen Industrieförderung schärft. Mit den 47 Tabellen und 28 Grafiken, die durchweg auf eigenen Recherchen und Berechnungen beruhen, stellt der Verfasser zudem eine Fülle von gut aufbereitetem Datenmaterial zur Verfügung, das für Anschlussstudien vielfältig genutzt werden kann.

By Malte König

Reported by Author

Titel:
Christian Grabas, Wiederaufbau, Wirtschaftsplanung und Südförderung. Industriepolitik in Italien, 1943/45–1975. (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft, Bd. 26.) Berlin/Boston, De Gruyter 2020.
Autor/in / Beteiligte Person: König, Malte
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 313 (2021-08-01), Heft 1, S. 271-273
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1283
Schlagwort:
  • WIEDERAUFBAU, Wirtschaftsplanung und Sudforderung: Industriepolitik in Italien, 1943/45-1975 (Book)
  • GRABAS, Christian
  • ECONOMIC policy
  • NONFICTION
  • Subjects: WIEDERAUFBAU, Wirtschaftsplanung und Sudforderung: Industriepolitik in Italien, 1943/45-1975 (Book) GRABAS, Christian ECONOMIC policy NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Freie Universität Berlin, Friedrich Meinecke Institut, Berlin,, 14195, Germany.
  • Full Text Word Count: 670

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