Zum Hauptinhalt springen

Willibald Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert. (Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 6.) Frankfurt am Main, S. Fischer 2019.

Riotte, Torsten
In: Historische Zeitschrift, Jg. 312 (2021-06-01), Heft 3, S. 817-819
Online review

Willibald Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert. (Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 6.) Frankfurt am Main, S. Fischer 2019 

Willibald Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert. Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 6. 2019 S. Fischer Verlag GmbH Frankfurt am Main, 978-3-10-010826-5, € 78,–

„Eine Gesellschaftsgeschichte Europas", so schreibt Willibald Steinmetz in seiner Synthese, „kann nur als vergleichende Geschichte zahlreicher besonderer Wege vor dem Hintergrund gemeinsamer Trends geschrieben werden" (S. 93). Zwei Mal durchläuft der Band die gleiche Struktur. Geordnet nach den Themen „Gesellschaft", „Wirtschaft", „Kultur" und „Politik" werden die fünf Jahrzehnte vor und nach der europäischen Revolution von 1848/49 beschrieben, ohne langes oder kurzes 19. Jahrhundert, orientiert an den kalendarischen Zäsuren, da es dem Autor nicht um die „Suggestionskraft einzelner Ereignisse der hohen Politik" (S. 33), sondern um Transformationen und Schwellenzeiten gehe. Kurze Abhandlungen ereignisgeschichtlicher Zäsuren finden sich vor und zwischen diesen Blöcken.

Wie eng ist das methodische Konzept? Die Lektüre des mehr als 650 Textseiten umfassenden Bandes zeigt eindrucksvoll, welche Dynamik in komparativen Zugängen stecken kann. Neben Schwerpunkten auf der britischen, deutschen und französischen Geschichte, für die der Autor bekannt ist, werden Entwicklungen in fast allen europäischen Staaten aufgegriffen. Dabei schildert der Autor eine Vielfalt von Ereignissen und Transformationen, die im Verlauf des Bandes immer stärker an Dynamik und Facettenreichtum gewinnt. Der Agrarsektor in Spanien, die Verfassungsentwicklung in Schweden, die Oper in Russland, was es bedeutete, als Kind im 19. Jahrhundert aufzuwachsen, warum Sinti und Roma besonders zahlreich in Rumänien vertreten sind und wieso die Lautstärke bei der Krönungsmusik Napoleons I. eine besondere Rolle spielte: Dies stellt nur eine kleine Auswahl der diskutierten Themen dar, deren eigentliche Anzahl und thematische Breite Maßstäbe setzt.

Der Band zeichnet sich gleichzeitig durch eine beeindruckende Tiefenschärfe aus. Die angeführten Entwicklungen werden nicht kursorisch gestreift, sondern detailreich und auf dem aktuellen Forschungsstand beschrieben. Die Choleraepidemien etwa, die Europa im 19. Jahrhundert heimsuchten, erscheinen in der Darstellung als Global-, Medizin-, Verwaltungs- und Politikgeschichte. Die Niederschlagung des polnischen Aufstands durch russische Truppen zu Beginn der 1830er Jahre, der transatlantische Handel zwischen den USA und Südwesteuropa zur gleichen Zeit, die Entdeckung des Krankheitserregers im Labor zur Mitte des Jahrhunderts sowie das ungenügende Netz von Wasserpumpen und Abwasseranlagen, das die Infrastruktur zahlreicher europäischer Großstädte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts prägte, verflechten sich so zu der multiperspektivischen Geschichte einer Pandemie und ihrer Folgen. Auch für weniger bekannte Themen wie die Entstehung einer norwegischen Grammatik belässt es der Autor nie bei einer kursorischen Erwähnung, sondern ordnet sie anschaulich in national und transnational verflochtene Entwicklungen ein.

Verflechtung und Kooperation versteht der Autor in diesem Zusammenhang als „Handlungsmodi" (S. 551) die für ihn keine konkreten historischen Ereignisse der europäischen Geschichte darstellen, sondern als Katalysatoren wirkten. So definiert, kann er europäische Geschichte schreiben, ohne Globalgeschichte schreiben zu müssen. Europa sei für Zeitgenossen in erster Linie ein theoretischer Begriff mit nur eingeschränkter praktischer Relevanz gewesen, kein „umgrenzter Flächenraum" (S. 25). Doch die Summe der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa lassen sich, bei allen Abstrichen, so eines der Ergebnisse des Bandes, unter dem Begriff einer gemeinsamen „Epoche der Moderne" bündeln, die sowohl Europa beschreibbar macht als auch über Europa hinausgreift. Mit Verweisen auf Globalhistoriker wie Cemil Aydin schafft der Autor es, Europa zu „provinzialisieren", ohne zu unterschlagen, dass dem Kontinent in der Epoche der Moderne eine zentrale Rolle zukam, die die globale Geschichte mitbestimmten: eine durchaus überzeugende Balance zwischen regionalem und globalem Ansatz (S. 657).

An keiner Stelle drängt der Autor seine Interpretation auf, sondern markiert – auch das eine Stärke des Bandes – narrative Sollbruchstellen. Wo immer es in der Forschung zu unterschiedlichen Interpretationen gekommen ist, etwa in der Frage nach der Existenz eines europäischen Bürgertums, einem zweiten Konfessionellen Zeitalter oder der unter dem Stichwort der „Great Divergence" diskutierten Entwicklung europäischer und außereuropäischer Wirtschaftsräume, beschreibt er die Positionen der Debatte, bevor er die eigene Positionierung anzeigt. Distanziert er sich zu Beginn von einschlägigen Epochenbezeichnungen, so werden im Verlauf des Bandes die beiden Motivgruppen „Wettbewerb und Vergleich" sowie „universalistische Versprechen und partikulare Interpretation" als entscheidende Charakteristika seiner Interpretation deutlich.

Die Expertise in der Rechtsgeschichte sowie der historischen Semantik ermöglichen es, Veränderungen auch idealtypisch aufzuzeigen. Neue Begriffe wie der „Industriellen Revolution" verweisen genauso auf gesellschaftspolitische Veränderung wie der Bedeutungswandel bereits bestehender. Der Begriff der „Rasse" stellt in letzterem Zusammenhang das wohl bekannteste Beispiel dar. Doch der Band zeigt gleichermaßen, wann zum Ende des Jahrhunderts überhaupt von „Fin de siècle" gesprochen wurde.

Auch über diese Darstellung der Geschichte ließe sich streiten. Die Dominanz der Perspektive auf nationalstaatliche Entwicklung lässt wenig Raum für die Diskussion transnationaler Verflechtungen, vor allem auf der Ebene einzelner Akteure. Der in der Völkerrechtsgeschichte identifizierte Wechsel von einer Koexistenz souveräner Staaten hin zu verbindlicher internationaler Kooperation wird allzu kommentarlos als „unpolitisch" abgetan (S. 551). Das Rote Kreuz, die Genfer Konventionen und die in der Darstellung erwähnten Haager Friedenskonferenzen wären hier als Argumente gegen eine solche pessimistische Interpretation supranationaler Verbindlichkeit anzuführen. Aber diese Diskussionspunkte erscheinen als Marginalien bei der Besprechung einer Studie, die in allen Aspekten, methodisch, inhaltlich und darstellerisch, überzeugt. In der Reihe der Geschichten Europas im 19. Jahrhundert, die in den vergangenen Jahren in bemerkenswerter Zahl erschienen sind, nimmt dieser Band einen der vorderen, voraussichtlich den ersten Platz ein.

By Torsten Riotte

Reported by Author

Titel:
Willibald Steinmetz, Europa im 19. Jahrhundert. (Neue Fischer Weltgeschichte, Bd. 6.) Frankfurt am Main, S. Fischer 2019.
Autor/in / Beteiligte Person: Riotte, Torsten
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 312 (2021-06-01), Heft 3, S. 817-819
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2021-1192
Schlagwort:
  • EUROPA im 19.Jahrhundert (Book)
  • STEINMETZ, Willibald
  • EUROPEAN history, 1789-1900
  • SOCIAL history
  • NONFICTION
  • Subjects: EUROPA im 19.Jahrhundert (Book) STEINMETZ, Willibald EUROPEAN history, 1789-1900 SOCIAL history NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Johann Wolfgang Goethe-Universität, Historisches Seminar, Frankfurt am Main,, 60329, Germany.

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -