Siegfried Weichlein, Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik. 2019 Kohlhammer Stuttgart, 978-3-17-022011-9, € 32,–
Siegfried Weichleins Studie zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland überzeugt durch Detailreichtum und originelle Themen, wie Kulturfragen und Verwaltungsföderalismus. Sein Buch zeichnet kompetent die Entwicklung des Föderalismus nach. Der Autor begibt sich auch mit Geschick auf das Terrain der Politikwissenschaft, wo er sehr beflissen Begriffe aufgreift, dabei aber auch Einseitigkeiten, wie die Interpretationsangebote des historischen Neoinstitutionalismus, in Kauf nimmt. Problematisch ist seine lesenswerte Darstellung des Föderalismus vom Nachkriegsdeutschland bis zur Gegenwart jedoch aus zweierlei Gründen.
Erstens wiederholt der Autor die oft vorzufindende, aber unzutreffende Behauptung, die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland sei ein durch das Grundgesetz (GG) vorgegebenes Staatsziel. Tatsächlich erwähnt das GG gleichwertige Lebensverhältnisse nur als einen der Gründe, weshalb der Bund die konkurrierende Gesetzgebung an sich ziehen kann (vgl. Art. 72, 2 GG). Diese Fehlinterpretation führt zu weiteren Fehlschlüssen. Zum einen erscheint so die Unitarisierung des deutschen Föderalismus als Konsequenz zwangsläufig. Und zum anderen bringt der Autor die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates als Movens deutscher Politik mit der Entwicklung des Föderalismus durcheinander. Dass von einer Reihe von Politikwissenschaftlern und der deutschen Öffentlichkeit ähnliche Positionen vertreten werden, rechtfertigt nicht, die Literatur, die dieses Problem thematisiert hat, zu ignorieren.
Zweitens ist der Umgang mit den Begriffen Dezentralisierung, Föderalismus und Demokratie äußerst problematisch. Föderalismus ist eine Ausprägung von Demokratie, Föderalismus ohne Demokratie kann es nicht geben. Dezentralisierung ohne Demokratie schon. Das „und" im Titel des Buches ist deshalb nicht angebracht. Die klassische Föderalismusdefinition von Daniel J. Elazar definiert Föderalismus als Verbindung von „self rule" und „shared rule". Das partizipatorische Element ist konstitutiv für föderale Demokratien. Und es geht um „vertikale Gewaltenteilung". Zu fragen also wäre gewesen, wie die jeweilige Ausprägung des deutschen Föderalismus die deutsche Demokratie im Elazarschen Sinne prägte oder auch nicht, nicht aber, wie der Autor dies affirmativ tut, welche dezentralen Strukturen wie entstanden sind. Eine an demokratiestärkenden Aspekten des Föderalismus orientierte Untersuchung käme somit zu kritischeren Urteilen. Der Rückgriff auf den historischen Neoinstitutionalismus kann manches erklären, aber eben nicht alles. Ist beispielsweise die Abweichungsgesetzgebung tatsächlich auf irgendeinem Entwicklungspfad des deutschen Föderalismus zu finden?
Man hätte auch das Scheitern föderaler Machtteilung diskutieren können, das realpolitische Überrollen regionaler Interessen und vor allem die Tatsache, dass die Bundesrepublik ein Land ohne „Föderalisten" geworden ist. Ein Land, das sich eine ausgedehnte politische Klasse in übergroßen Parlamenten leistet (gemessen an der Bevölkerungszahl der Länder ist beispielsweise der Landtag Nordrhein-Westfalens größer als der Kongress der USA), diesen (Landes-)Parlamenten aber immer weniger Entscheidungsmöglichkeiten einräumt. Entsteht in Deutschland ein Problem, ist der populäre und bequeme Weg, es dem föderalen „Flickenteppich" oder der föderalen Kleinstaaterei anzulasten, und dies trotz zunehmender Politikverflechtung.
Die von Weichlein beschriebene Verhandlungsdemokratie von Bund und Ländern ist Ausdruck eines Exekutivföderalismus mit seinen häufig beschriebenen Merkmalen der Intransparenz und demokratischen Defizite. Wenn Demokratiefragen tatsächlich wichtig sind, sollte man das Entstandene nicht einfach als besonders gelungene Ausprägung von Kooperationsbeziehungen preisen, sondern auch die Schattenseiten eines unitarischen Föderalismus benennen, der näher am Einheitsstaat ist als an der durch Föderalismus eigentlich garantierten Vielfalt.
By Roland Sturm
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