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Kritik über Leeten (2019): Redepraxis als Lebenspraxis. Die diskursive Kultur der antiken Ethik.

Martena, Laura
In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 23 (2020), Heft 1, S. 281-296
Online review

Kritik über Leeten (2019): Redepraxis als Lebenspraxis. Die diskursive Kultur der antiken Ethik 

Leeten, Lars

Redepraxis als Lebenspraxis. Die diskursive Kultur der antiken Ethik Freiburg/ München Karl Alber 2019 288 978-3-495-48913-0

An Geschichten der antiken Philosophie, auch neueren Datums, herrscht kein Mangel. Gerade in einem derart traditionalisierten Forschungsdiskurs ist man bei solchen Darstellungen, die sich meist auf rein doxographischer Ebene bewegen, in der Regel gegen größere Überraschungen gefeit. Unter dem Titel Redepraxis als Lebenspraxis hat Lars Leeten nun aber eine Geschichte der antiken philosophischen Ethik geschrieben, die auch und gerade für solche Leserinnen interessant sein könnte, die mit den Quellen und gängigen Narrativen vertraut sind. Ihren Ausgang nimmt seine Studie, die zugleich Teil seiner Habilitationsschrift ist, nicht bei einem bestimmten Begriff oder Theorem. Sie setzt vielmehr bei einer Grundkonzeption des ethischen Diskurses selbst an, die dessen Gestalt über weite Strecken, von seinen archaischen Anfängen über die frühgriechische Zeit bis in den Hellenismus hinein, geprägt habe. Diese sei nicht nur für seinen eigenen Anspruch, sondern auch für den Umgang mit den Texten bedeutsam, die ihn für uns konstituieren.

Leeten geht von der Beobachtung aus, dass die Bereiche von Reden und Leben, Logos und Ethos und damit auch: von Theorie und Praxis, die wir heute in vielen Kontexten wie selbstverständlich unterscheiden und einander gegenüberstellen, in der Antike noch als verflochten aufgefasst wurden – mit Konsequenzen für das (Selbst-)Verständnis dessen, was wir als „antike Ethik" zu adressieren gewohnt sind. Zumindest in den Phasen, die er untersucht, habe diese sich nämlich nicht allein als theoretischer Diskurs über ethische Fragen begriffen – etwa nach Tugenden, Charakterbildung und dem guten Leben –, der auf die Lebenspraxis reflektieren, unsere normativen Orientierungen rekonstruieren und rationale Maßstäbe für sie liefern kann. Vielmehr habe sich dieser Diskurs selbst als ethische Praxis verstanden, als Aufweis dieser Tugenden, Formung des Charakters und Vollzug ethischer Bildung im Medium der Rede. Die Kultivierung der Redepraxis sei von den antiken Intellektuellen dabei als elementarer Bestandteil einer gelingenden Lebenspraxis verstanden worden. Für sie sei die Frage, wie zu reden ist, zur Frage geworden, wie zu leben ist – und umgekehrt; und die von ihnen praktizierte Arbeit am Logos zu einer Arbeit am Ethos. (S. 12 und passim) Wer infolge moderner Unterscheidungsgewohnheiten den genuin ethischen bzw. „ethopoietischen" Aspekt dieses Diskurses[1] ausblendet und in der Auslegung der Texte nur deren thematische Schicht, nicht aber ihre performative und pragmatische Dimension berücksichtigt, liefe insofern Gefahr, Wesentliches zu verpassen. Vorprogrammiert sei eine solche verkürzende Sicht dann, wenn, wie Leeten zu Recht kritisiert, auch solche Texte beharrlich wie bloß theoretische Traktate behandelt werden, die sich dem eigentlich entziehen. Angesichts der Vielfalt philosophischer Textformen, von Aphorismen und Spruchsammlungen über Lehrgedichte, Gleichnisse, Briefe und Reden bis zu fiktiven Dialogen, scheint dies in der Antike eher der Standard. (S. 25)

Einen anderen, nicht nur doxographischen Zugang zu ihnen zu finden sei aber nicht nur angesichts moderner Denk- und Lesegewohnheiten, sondern auch deshalb ein „heikles Unterfangen, weil die konkreten Vollzugsformen eines philosophischen Denkens in den überlieferten Texten oft nicht mehr als Spuren hinterlassen". (S. 184) Hinzu kommt die bruchstückhafte Überlieferung. Dieser Schwierigkeiten zum Trotz macht es sich Leeten zur Aufgabe, gegen den vorherrschenden „Inhaltismus" und „Propositionalismus" den Vollzugssinn der Texte in die Aufmerksamkeit zu heben. Unter diesem Gesichtspunkt skizziert er eine Genealogie der diskursiven Kultur der antiken Ethik, wie sie sich in und zwischen ihnen abzeichne.

Anknüpfen kann er dazu an prominente Ausnahmen von der beschriebenen Tendenz. Hierzu zählen die Arbeiten Pierre Hadots zur antiken Philosophie als Lebensform, die deren existentiellen Charakter herausstellen, vor allem aber Michel Foucaults Studien zur Antike, insbesondere die Hermeneutik des Subjekts.[2] Leeten beschränkt sich dabei nicht auf solche textuellen Quellen, die traditionell zum Korpus der antiken Philosophie zählen. Da Intellektuelle unterschiedlichster Couleur an der antiken Redekultur mitgewirkt hätten, zieht er in einem für die philosophische Historiographie ungewöhnlich breiten Zugriff gerade für das frühgriechische Denken auch die Geschichtsschreibung, Medizin und Tragödiendichtung heran.

Seine Studie ist zwar über weite Strecken der Genese dieser ethischen Redekultur gewidmet; angefangen mit dem Wandel der Antilogie von der sozialen Diskurspraxis von Rede und Gegenrede zu einem methodisierten Verfahren diskursiver Entscheidungsfindung im 5. Jahrhundert v. Chr. (Kap. II, S. 56–81) über deren Weiterentwicklung im Rahmen von Lehrpraktiken bei den Intellektuellen der sophistischen Zeit einerseits (Kap. III, S. 82–126 und IV, S. 127–163), in der sokratischen Dialektik andererseits (Kap. V, S. 164–190), bis in die Übungspraktiken der hellenistischen Schulen, insbesondere der Stoa hinein (Kap. VI, S. 191–223 und VII, S. 224–260). Zugleich verfolgt er aber auch ein Anliegen mit Blick auf die Gegenwartsphilosophie. Die Intervention wird nur am Rande thematisch (Kap. I, S. 25–55, s. insbes. S. 27ff., und Kap. VII, S. 261–267), treibt seine Untersuchung aber insgesamt an.

Anhand seiner Genealogie der antiken Ethik der Rede möchte Leeten indirekt aufzeigen, inwiefern die moderne Philosophie der Sprache einerseits, die Moralphilosophie andererseits aufgrund je schon getroffener, kaum mehr als solcher reflektierter, dadurch aber umso wirkmächtiger Unterscheidungen nicht nur zwischen Logos und Ethos, Theorie und Praxis, sondern vor allem zwischen Philosophie und Rhetorik eine gemeinsame Leerstelle aufweisen: Während die philosophische Reflexion auf die Sprache in der Gegenwart kaum je deren ethosbildende Dimension mitbedenke und die Frage, „welche Habitusformen und Lebensweisen eine diskursive Praktik hervorbringt" (S. 261), selten als solche wahrnehme, habe die Moralphilosophie das Gespür für das Problem verloren, „wie mit der formativen Kraft der Sprache umzugehen ist". (S. 30) Auch im Zuge der Wiederentdeckung antiker Themen des guten Lebens, der Tugend und des Charakters, der moralischen Wahrnehmung und ethischen Bildung seien diese Frage, die einen Dreh- und Angelpunkt antiker Ethik ausgemacht habe, kaum aufgenommen worden. (S. 27) Insofern möchte Leeten indirekt auch einige „horizontbildende Schema[ta]" (S. 132) der Gegenwartsphilosophie problematisieren. Insbesondere möchte er aufzeigen, was verloren gehe, wenn die Philosophie die „formative Kraft" von Redeweisen, und damit die ethisch-paideutische Dimension ihrer eigenen Diskurspraxis, als Reflexionsgegenstand aus sich ausschließt. Die historische Arbeit soll so beitragen, den Sinn für diese Momente philosophischer Rede neu zu schärfen. Bevor darauf eingegangen wird, werden im Folgenden der Gedankengang der Studie nachgezeichnet und einige Befunde Leetens zur antiken Diskurs-Ethik diskutiert.

Die Geburt philosophischer Diskursivität aus dem Geist der Widerrede

Miteinander gesprochen, einander widersprochen und miteinander gestritten haben Menschen nicht erst mit der Entstehung der Philosophie, die sich dieser Redepraktiken angenommen und sie weiterentwickelt hat – ausgehend von der Vorstellung, eine solche Form der Konfliktlösung, die dem Menschen als sprachbegabtem Wesen immer möglich ist, sei roher Gewalt allemal vorzuziehen. Von dieser Überlegung lässt sich Leeten jedenfalls leiten, wenn er sich im ersten Schritt „im Vorfeld der philosophischen Disziplinbildung" (S. 56) bewegt und den „Aufstieg des Diskursiven" im 5. Jahrhundert v. Chr. nachzeichnet. Diesen macht er am Wandel der Antilogie fest, die in dieser Zeit zu einem methodisierten Verfahren diskursiver Entscheidungsfindung in politischen und juridischen Kontexten werde.

Wie er seine Geschichte beginnen lässt, ist für alles Weitere maßgeblich, weil die Darstellung der Genese archaischer Redekultur seine Deutung ihrer Aufnahme im frühgriechischen Denken bestimmen wird. Denn die sogenannten Sophisten – ein Begriff, von dem er sich eigentlich ganz verabschieden will[3] – hätten an dieser Praxis, die in Philosophiegeschichten kaum je vorkommt, im Rahmen ihrer Lehrpraktiken angeknüpft und sie so für die Ethik-Reflexion im engeren Sinn fruchtbar gemacht. Vor dieser Folie lasse sich auch der Neuansatz der Sokratik differenzierter beurteilen. Erst seit Platon, bei dem sie als Antilogik (ἄντιλογική τέχνη) wiederbegegnet und in die Nähe der Eristik, der bloßen Wortfechterei rückt, werde sie als Gesprächstechnik begriffen – und mit einem Anspruch verknüpft, an dem sie kläglich scheitern muss. Klammere man dieses (nach-)platonische Urteil ein, ergebe sich ein anderes Bild.

Leetens Befunde zur Geschichte der Antilogie gehören zu den interessantesten der Studie. Zugleich zeigt sich hier, was sich durch einen solchen Zugriff gewinnen lässt, der sich von Foucaults Arbeiten zur antiken Praxis des Wahrsprechens (παρρησία) inspiriert zeigt.[4] Indem Leeten nicht von generischen Sprechern ausgeht, sondern die für die Antilogie jeweils konstitutiven Machtverhältnisse mitreflektiert, kann er argumentieren, dass sie ursprünglich keine Sachfragen gegenüber indifferente, allein am Sieg orientierte Redeform war. Vielmehr erweise sie sich als wesentlicher Schritt in der Genese philosophischer Diskursivität, die ihrerseits mit der Entstehung eines demokratischen Ethos eng verbunden sei.

Um dies zu verdeutlichen, beschreibt er zunächst die Gestalt, die pragmatischen Kontexte und Ziele der Antilogie. Formal sei sie dadurch bestimmt, „dass die Beteiligten ihre Positionen nacheinander in längeren Monologen darlegen, bevor dann, durch Akklamation oder Abstimmung, darüber entschieden wird, welchem Logos ‚gefolgt' werden soll" (S. 56). Ihr Anlass sei stets eine akute Entscheidungssituation gewesen. In der Archaik sei diese gewöhnlich gelöst worden, indem der Alleinherrscher zu seinen Untertanen sprach, seine Entscheidung also in einem Monolog verkündete. (S. 61f.) Wer es gewagt habe, bei diesen Gelegenheiten das Wort zu ergreifen und um der Sache willen zu widersprechen, habe so die gewohnte Ordnung unterbrochen – und sei damit nicht selten ein hohes Risiko eingegangen. (S. 65f.) Erst allmählich sei die Antilogie von einem prekären Akt der Aufmüpfigkeit, zu einem geordneten Verfahren politischer Auseinandersetzung geworden, und damit zu einem Kennzeichen demokratischer Argumentationskultur in vorplatonischer Zeit. Damit würden auch ihre Ziele verständlich: Ihres agonalen Charakters zum Trotz sei es nicht allein um den Sieg gegangen, der auch mithilfe schmutziger rhetorischer Tricks zu erringen war – was eher eine Fortsetzung der Gewalt mit anderen Mitteln wäre. Vielmehr sei sie von dem Bemühen getragen, „die jeweils beste Entscheidung zu treffen, oder abstrakter gesagt, das in einer Situation praktisch Gute" zu bestimmen (S. 64, Herv. i. O.) Sie stehe so für „eine Diskursivität, die [...] darauf zielt, das bloß Siegreiche durch [...] reifliche Überlegung zu ersetzen" (S. 69).

Charakteristisch für die Antilogie seien zudem bestimmte Argumentationsstrategien, die uns eher fremd erscheinen mögen. Im Zentrum habe noch die Person des Redners gestanden, sein Ethos, wie es sich im Medium der Rede offenbaren sollte. (S. 69ff.) Dies mache auf allgemeinere Tendenzen antiken Denkens aufmerksam, konkret darauf, wie das Verhältnis von Worten und Taten gefasst worden sei. (S. 75ff.) Beide seien wiederum als verflochten gedacht worden, also das Sprechen als Handeln einer Person und Taten als etwas, was sich meist nicht wortlos vollzieht. Nach Leeten spricht einiges dafür, „dass die Vorstellung der Harmonie von Reden und Tun für die innere Logik der frühgriechischen Diskurse von entscheidender Bedeutung war" (S. 81) – und dann auch Grundlage der Sokratik geworden sei.

Ethische Bildung bei den ‚Sophisten'

Nachdem er diese Vorgeschichte skizziert hat, widmet sich Leeten den Gelehrten der sophistischen Zeit. Er versucht zu zeigen, wie diese das Verfahren, die Intention und Argumentationsstrategien der Antilogie für ihre Lehrpraxis genutzt haben. Dabei wendet er sich nicht unmittelbar den platonischen Quellen zu, sondern jenen, die uns von den ‚Sophisten' selbst überliefert sind, um die platonische Sicht, die er gerade herausfordern möchte, nicht von vornherein zu reproduzieren. Leeten beginnt mit Protagoras (Kap. III, S. S. 82–126). Im Zentrum stehen dessen überlieferten Sentenzen, dass es in jeder Sache zwei logoi gäbe und der schwächere logos gestärkt werden müsse sowie der berühmt-berüchtigte Homo-Mensura-Satz, der den Menschen zum Maß aller Dinge erklärt. Auch wenn die Quellenbasis brüchig ist, sind Leetens Thesen schon dadurch anregend, dass sie der herrschenden Doxographie teils genau entgegengesetzte Sichtweisen eröffnen – womit er sich offenbar dem Geist des Protagoras verpflichtet weiß.

Dessen erstes Diktum habe nämlich kaum besagen wollen, dass zum Sieg im Streit alle Mittel Recht seien, auch wenn man die schlechteren Argumente habe. Vielmehr sei damit daran erinnert, dass es „in der Praxis der Rede und Gegenrede [...] schon deshalb zwei logoi zu allem gibt, weil diese Diskursform durch Konflikte oder Unentschiedenheiten in Gang gesetzt wird." (S. 99) Das Problem, um das es geht, läge so gesehen nicht einfach vor, sondern „bildet sich im Streit erst heraus" (ebd.). Daraus habe Protagoras Konsequenzen gezogen: „Wenn Rede und Gegenrede damit anfangen, dass dasselbe unterschiedlich betrachtet wird, dann sollte die Ausarbeitung von Diskursverfahren vielleicht an diesem Faktum ansetzen und es methodisch fruchtbar machen. Praktische Diskurse werden durch einen Konflikt gegensätzlicher Sichtweisen in Gang gesetzt [...]. Wer die diskursive Praxis also fortentwickeln und veredeln will, hat den Konflikt zu verteidigen" (S. 101). Ziel der protagoreischen Bildungspraxis sei die Einübung einer „Kunst der praktischen Reflexion" im Medium solcher Diskurse; ein Prozess, in dem gelernt werde, die „Dinge von mehreren Seiten zu betrachten" und „viele Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen" (ebd.). Die protagoreische „Arbeit am Logos" sei „eine Arbeit am Ethos [...], der es um die Einübung in die ‚besten' Sichtweisen ging" (ebd.).[5]

An diesem Punkt drängt sich eine Frage auf, die Leeten selbst adressiert und die virulent bleiben wird (S. 104ff.): Wenn der protagoreische Ansatz, wie auch seine Weiterentwicklung in der Gorgianik, auf eine immanente Kultivierung diskursiver Praxis in und durch Ausübung dieser Praxis selbst abheben, woran kann diese sich dann messen lassen? Wie soll in einem solchen Modell eine der Sache nach bessere von einer schlechteren Sichtweise, ein stärkerer von einem schwächeren Logos unterschieden werden? Und wenn Maßstäbe hierfür angenommen werden müssen, wären die Suche danach nicht ein aussichtsreicherer Ansatzpunkt für die philosophische Praxis und Paideia? Wenn es sie aber nicht gibt bzw. für Protagoras nicht geben kann – aber von welchem Ort aus sollte sich das widerum behaupten lassen? –, wird eine solche nicht maßlos, sofern sie ihren ethischen und erzieherischen Anspruch nicht einholen kann? Wenn eine solche Begründungslücke klafft, läge es nahe, an die Stelle des vernünftigen Maßstabs die bloß faktische Wirkmacht eines Logos zu setzen, der verführen kann – wie der eines Lysias im platonischen Phaidros –, oder den man einem anderen, wie es Thrasymachos in der Politeia formuliert, „in die Seele [zu] rammen" vermag (Platon, Politeia, 345b): „Da es im Streit der Reden" für Protagoras, kein externes (und scheinbar auch kein reflexiv zu gewinnendes) Kriterium gibt, „muss das Kriterium der bloße Streit selbst" sein (S. 105). Träfe dies zu, drohte dessen Parteinahme für das Diskursive wieder unterlaufen zu werden bzw. auf eine einfache Negation herrschender Kräfteverhältnisse hinauszulaufen. An dieser Problematik wird die sokratisch-platonische Konzeption ansetzen.

Leeten bringt hier den Homo-Mensura-Satz ins Spiel. Statt sich auf dessen Auslegung im Theaitetos zu berufen, in dem er als Bekenntnis zu einer „stark relativistischen oder skeptizistischen Position" erscheint (S. 107), die im Selbstwiderspruch kollabieren muss, stellt er unabhängige Überlegungen zu dessen Interpretation an. Dazu grenzt er den Gegenstands- und Geltungsbereich des protagoreischen Logos ein: Im Unterschied zu den ‚Vorsokratikern' habe Protagoras „einen Standpunkt der radikalen Immanenz" eingenommen und sich nur auf lebenspraktische Fragen bezogen, die Gegenstand ethischer Konflikte werden können, wie sie im Rahmen der Antilogie ausgetragen wurden. (S. 108)[6] Dies erhelle auch den Begriff der Erkenntnis, wie er im Homo-Mensura-Satz beansprucht werde, und damit die Frage, woran sich Logoi messen lassen. Demnach liefere für Protagoras nicht ein Sein im abstrakten Sinn, sondern vielmehr „[d]as prädikative Sosein unmittelbar aufgefasster Phänomene [...] das Paradigma von Erkenntnis überhaupt." Es handle sich um einen „sinnlichen Begriff der Erkenntnis" (S. 110) – eine Deutung, die mit derjenigen im Theaitetos wieder zu konvergieren scheint. Die protagoreische Bildungspraxis habe ergo gar nicht beansprucht, transsituativ gültige Wahrheitskriterien bzw. ein allgemeines Wissen um das Gute zu vermitteln. Vielmehr solle der Sinn für konkrete Logoi geschult werden, denen dafür eine gewisse Materialität und ästhetische Qualität eigen sein muss. Dazu gelte es, „für die richtige Verfassung der Wahrnehmung zu sorgen. Die diskursive Verfassung des Logos, der ‚zur Tugend' führt, wäre in diesem Fall eine Arbeit an der Wahrnehmung – ein Prozess, in dessen Verlauf das individuelle Auffassen verändert wird". (S. 110) Damit hätten Protagoras und Gorgias der aisthesis „mehr [zugetraut] als Sokrates und mit ihm der Hauptstrom der philosophischen Tradition in Europa". (S. 110f.)[7]

Ob sich das Problem, das sich auch noch für moderne Spielarten eines solchen Ansatzes stellt, so lösen lässt oder nur verschiebt, muss hier offenbleiben. Zu klären wäre hierbei unter anderem, wie der Zusammenhang von Phänomen und Rede, die Funktion der Wahrnehmung, die hier die Unterscheidung des vorzugswürdigen vom bloß durchsetzungsstarken Logos leisten soll, und die Materialität des Logos genauer zu bestimmen wären, damit ethische Bildung im Medium der Rede möglich wird. Welche 'metaethische' Position damit genauer verbunden wäre, bleibt bei Leeten offen, und die Konzeption in seiner Deutung insgesamt etwas unscharf. Zumindest er verteidigt jedenfalls ein solches Modell: „Was gut und richtig ist, manifestiert sich ästhetisch, wenn jemand sehen gelernt hat und sich in Diskursen auskennt. Wer dies für einen haltlosen Relativismus hält, übersieht, dass man durchaus in einer solchen Praxis selbst Halt finden kann." (ebd.).

Im Folgenden untersucht Leeten die Entwicklung der Redekultur u.a. anhand von Prodikos. (S. 112ff.) Dabei gewinne eine vorplatonische Ethik an Kontur, die von einem allgemeinen Interesse am Guten ausgehe, dieses aber nicht im Allgemeinen, sondern in der Vielfalt gegebener Diskurspraktiken suche. (S. 119ff.) Beide Perspektiven stellt Leeten einander als Optionen der Rationalisierung im Sinne einer Orientierung am Wahren einerseits, der Kultivierung im Sinne einer Orientierung am Guten andererseits gegenüber – wobei „das (praktisch) Gute" wieder nur als situativ bestimmbare Größe zu denken sein kann. (S. 125ff.) Der Streit beider schreibe sich bis heute fort: „Aus Sicht einer Logik der Rationalisierung wird man das Tugendwissen nicht finden, solange man nur die ethische Praxis selbst hat, aber keine gedanklichen Formen, die ihr Halt geben; aus Sicht einer Redekultur wird man das Tugendwissen verfehlen, solange man versucht, den Weg zur ethischen Praxis durch eine sittliche Einsicht abzukürzen, die einem mühevollen Durchgang durch den wirklichen Prozess der Versittlichung erspart." (S. 125) An der Gegenüberstellung dieser Optionen – die womöglich beide auf Kurzschlüssen beruhen – hätte bereits eine Deutung der platonischen Diskurs-Ethik und Paideia ansetzen können. Diese lässt sich vom Streben nach der Erkenntnis des Guten leiten, das gerade nicht als bloß situative Größe gedacht, sondern als Maßstab entdeckt wird, der im ethischen Urteilen immer schon angelegt worden sein wird; dieses gesuchte Gute aber nur im Vollzug der diskursiv verfassten Suche danach selbst realisieren, rückblickend als solches erkennen und dann auch auf Begriffe bringen kann – eine Suchbewegung, die Platons Dialoge vorführen –, wobei zugleich der Versuch gemacht wird, noch die Möglichkeitsbedingungen dieses Diskurses reflexiv einzuholen. Sie würde damit beide Perspektiven in sich aufheben.

Bevor er auf den platonischen Sokrates eingeht, betrachtet Leeten die Schriften des Gorgias (Kap. IV, S. 127–163), die „weiteres Anschauungsmaterial dafür liefern, wie eine Diskurspraxis aussehen kann, die die Maßstäbe der Rede nicht in erster Linie aus der Sachlogik, sondern aus einer Logik der ethischen Kultivierung [sic] herleitet" und dokumentieren sollen, „dass eine solche Diskurspraxis keineswegs wahrheitsindifferent sein muss". (S. 126) Dabei sei, wie schon bei Protagoras, ein spezifischer Wahrheitsbegriff im Spiel: „Das ‚Wahre sagen' bedeutet für Gorgias zuallererst, auf eine Weise zu sprechen, die ein sittliches Ideal wahrnehmbar macht und wirksam zur Geltung bringt" (ebd.)[8] Auch Gorgias erweise sich, wie Leeten entlang einer Relektüre der Rede über das Nichtseiende argumentiert, als Denker mit einer „antispekulativen Haltung", der sich von den abstrakten Ontologien seiner Vorgänger ab- und der „Welt der konkreten pragmata" zugewandt habe. (S. 131, Herv. i.O.) Entsprechend habe auch seine Redelehre nicht auf eine Technik der Rede abgezielt, sondern sei als „ethische Bildungspraxis" zu verstehen, „die eine diskursive Form annimmt". (ebd.) Diese orientiere sich sehr wohl an der Wahrheit, die sie ins Werk zu setzen versuche; diese werde aber eben – im Einklang mit dem griechischen Konzept der aletheia – selbst als ethisch und ästhetisch verfasst gedacht. Aufgewiesen werden könne sie nur epideiktisch, „im Modus des Zeigens". (ebd.) In diesem Sinne seien auch die Reden des Gorgias selbst zu lesen, die ein ideales Ethos exemplifizieren und so erzieherisch auf ihre Adressaten wirken sollen, wie Leeten anhand der Lobrede auf Helena argumentiert. Die Gorgianik zeuge so wiederum davon, wie in der Antike die Diskurspraxis „Schauplatz ethischen Verhaltens" (S. 28) und ethischer Bildung wurde – zugleich aber wohl wieder davon, inwiefern eine solche unzulänglich bleiben muss.

Sokratische Bildungspraxis als „Übung der Wahrheit"

Dies wird deutlicher, wenn man diese Diskurspraxis im Lichte der Sokratik betrachtet. Leeten stützt sich hier nun auf die platonischen Quellen, konkret den Gorgias und Phaidros. In ihnen setzt sich Sokrates auf charakteristische Weise mit jener Diskursform auseinander, die meist mit der Sophistik identifiziert wird, hier als Rhetorik (rhetorike techne) auftritt und der Philosophie antagonistisch gegenübergestellt zu werden scheint. (Kap. V, S. 164–190) Gleichwohl versucht Leeten Distanz zu Platon zu wahren. Immerhin gilt der ihm als Urheber einer Reihe jener folgenschweren Dichotomien, die er gerade problematisieren will – wobei jedoch, wie bei solchen Narrativen so oft, notorisch unklar bleibt, welchen Anteil daran er Platon, welchen Aristoteles und welchen er der späteren Rezeption zuschreibt.

Leeten verfolgt mehrere Argumentationsziele. Einerseits möchte er nachweisen, dass die sokratische Dialektik affirmativer an die ‚sophistische' Redekultur, insbesondere die Gorgianik anschließe als es die Platon-Lektüre allein nahelege. Im selben Atemzug richtet er sich gegen Deutungen, denen zufolge Sokrates diese Redepraxis – hier in Gestalt einer scheinbar wahrheitsindifferenten, sich als bloße Machttechnik erweisenden Rhetorik – mit seiner eigenen Diskursform zu überwinden und deren überlegenen Wahrheitsbezug abzusichern versucht habe, indem er ein Reich ewiger, sprachunabhängiger Begriffe postuliert habe, die seinen Diskurs erst ermöglichen, ihm aber prinzipiell entzogen seien und zu denen nur der Philosoph – etwa qua Wiedererinnerung an etwas vorgeburtlich Gewusstes oder eine intuitive Schau – Zugang habe.[9] Andererseits möchte Leeten die spezifische Differenz der Sokratik markieren. Hierzu untersucht er nicht nur deren formalen Neuansatz. Er geht auch der Frage nach, wie der Sachbezug der sokratischen Dialektik zu verstehen ist, wenn die „Sache selbst" nicht als dem Diskurs vorausliegende, sondern ihn gleichsam aus dem Geheimen antreibende zu denken ist.

Worin zeichnet sich die Sokratik aus? Prima facie sei ihre Innovation in der Forderung zu sehen, sich im moralischen Leben nicht mehr nur an rednerisch aufgewiesenen Idealen zu orientieren, sondern „an dem Logos, der sich im dialektischen Fragen und Antworten bewährt". (S. 168) Dieser werde entsprochen, indem die ethisch relevanten Überzeugungen (doxai) der Gesprächspartner expliziert und einer Prüfung auf Konsistenz unterzogen werden – woran sie in den Frühdialogen verlässlich scheitern, sodass diese im Ergebnis negativ zu bleiben scheinen.

Eine solche Beschreibung suggeriert, dass sich der ethische Diskurs hier gegenüber der Lebenspraxis verselbstständigt. Die Leserin der platonischen Dialoge, die eine solche Perspektive einnimmt, wird zwar bemerken, dass die in ihnen thematisierten Überzeugungen stets von bestimmten Charakteren verfochten werden. Sie wird aber darauf bestehen, sie und ihre Prüfung seien letztlich personenunabhängig. In der Auslegung der Dialoge, deren literarische Form sie als kontingente Einkleidung der philosophischen Gehalte verstehen und allenfalls eine sekundäre didaktische Funktion zuschreiben kann, wird sie sich auf deren thematische Ebene konzentrieren. Angesichts ihres Ausgangs wird sie den Platon der Frühdialoge zum Aporetiker erklären oder versuchen, mittels der beliebten ‚Schere-und-Klebe-Methode' doch noch positive Lehrmeinungen aus ihnen zu rekonstruieren, die dann als „Platons Philosophie" firmieren können. Alternativ kann sie sich der Suche nach der „ungeschriebenen Lehre" verschreiben.

Leeten müsste solche Herangehensweisen für verfehlt halten. Er stellt dagegen heraus, dass auch die sokratische Dialektik primär eine diskursiv verfasste ethische Bildungspraxis bleibe. Auch der sokratische Logos sei wesentlich ein „erzieherisches Sprechen", das sich als solches auch an seiner „eigentümliche[n] ethische[n] Wirksamkeit" messen lassen müsse. (S. 169)[10] Damit tritt gerade der personenbezogene Sinn des sokratischen Diskurses in den Vordergrund, wie er von der Dialogleserin durch aufmerksame Beobachtung des Gesprächsgeschehens indirekt erschlossen werden muss.[11] Die „Errungenschaft des sokratischen Verfahrens" bestehe dann auch nicht allein darin, dass hier „ein logisches Verfahren die Regie" übernimmt (S. 168), sondern darin, dass diese ethische Wirkung nunmehr selbst „aus logischer Kritik resultieren" soll. (ebd.) Gleichwohl verliere der Gedanke, „dass sich Tugendideale durch Gestaltungsformen der Rede selbst in Kraft setzen lassen", nicht an Bedeutung. Auch die Dialektik bleibe darauf angewiesen, ethische Haltungen „‚epideiktisch' zur Geltung zu bringen". (ebd.) Überlegen sei sie, sofern sie ein „höheres Ethos" zeige. (ebd.)

Ein solcher Blickwechsel hat Folgen für das Verständnis des Gegenstandes und Progresses der sokratischen Gespräche; speziell der Rolle der Homologie. Geprüft würden nicht vorrangig die Überzeugungen der Gesprächspartner; vielmehr deren Ethos. Indem sie, die im Zuge der Unterredung zu Geprüften werden, ihre Überzeugungen vertreten, beanspruchen sie, wie das sokratische Fragen aufdeckt, den Besitz eines ethischen Wissens, letztlich eines Wissens um das Gute als Maßstab ethischen Urteilens. Sofern sich diese Überzeugungen im Moment ihrer Explikation und Rechtfertigung aber als widersprüchlich und damit haltlos erweisen, werde auch diese Voraussetzung widerlegt, und das beanspruchte Wissen als Scheinwissen entlarvt. Im selben Akt entpuppt sich die Souveränität, mit der die Gesprächspartner sie verfochten, oft noch im Moment ihres Scheiterns gegen alle Widerstände durchzusetzen und gegen Kritik zu immunisieren versuchen, als Selbstüberschätzung und insofern -verkennung. Aufgedeckt würde weniger ein rein intellektueller Mangel, eher einer, der in dessen Person des Gesprächspartners selbst liege – ein „sittlicher Mangel" (S. 163). Ziel des elenchos und dessen pädagogische Pointe sei es, den Antwortenden „zum ‚Zeugen' (martyra) der Wahrheit zu machen", und so „zum Zeugen des eigenen sittlichen Mangels" als Voraussetzung seiner ethischen Besserung. (S. 177)

Von da aus erkläre sich auch die Funktion der Homologie, die Leeten von ihrem Übungscharakter her deutet: „Gerade hier erweist sich die Dialektik als ein Verfahren der ethischen Transformation, bei dem durch den wiederholten Vollzug eines Handlungstyps allmählich ein Habitus verändert wird. Wer sich daran gewöhnt, dem Anderen zuzustimmen, wo der Widerstand klein ist, wird mehr und mehr bereit sein, auch dort zuzustimmen, wo der Widerstand größer ist. Er wird es sich schließlich sogar gefallen lassen, ‚widerlegt zu werden'" (S. 184f.) Positiv diene sie der Gewöhnung daran, „den beschränkten eigenen Standpunkt" und den Willen, ihn zu verabsolutieren und durchzusetzen, zu überwinden und sich stattdessen auf ein Gemeinsames zu besinnen. Die Leserin der Dialoge müsste demnach ihr Augenmerk auch nicht nur auf die Thesen des Gesprächspartners, sondern zugleich auf sein diskursives Ethos und dessen Entwicklung unter dem Druck der Forderung nach Rechtfertigung richten, und auf das Verhalten des Sokrates im Kontrast dazu.[12]

In diesem Prozess der Gewöhnung an die Orientierung an einer übergreifenden Ordnung der Rede manifestiere sich auch der Sachbezug sokratischer Dialektik. Die in Rede stehende „Sache" könne nichts Gegebenes sein, das dem Diskurs vorausläge und um das der Philosoph schon wissen müsste. Der Sachbezug sei vielmehr ein diskursiv zu verwirklichendes Ziel.[13] Ohne sich in der Methodendiskussion in der Platon-Forschung zu positionieren, eröffnet Leeten so einen Weg zwischen asystematisch-skeptischer und systematisch-doktrinärer Deutung, den zu verfolgen sich lohnen könnte.

Die Transformation des Selbst im Hellenismus

Nachdem Leeten die Genese der frühgriechischen Redekultur nachgezeichnet hat, widmet er sich der Frage, was mit Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. in der Akademie und den Schulen der Skeptiker und Epikureer, vor allem aber in der Stoa aus ihr werde (Kap. VI, S. 191–223 und VII, S. 224–260).[14] Er wendet sich damit jener Zeit zu, in der die Philosophie von der Agora verschwindet und jene „Ordnung des Wissens" entstehe, „an der sich geistesgeschichtliche Erzählungen bis heute orientieren". (S. 191) Insbesondere setze sich hier die Differenz von Philosophie und Rhetorik durch, die das philosophische Selbstverständnis bis heute präge. Damit würden auch „die analytischen Trennungen von Rede und Sprecher, Wahrheit und Vermittlung oder Form und Inhalt [...] geläufiger" (ebd.). Spätestens mit Aristoteles erscheine eine „formale Redetechnik als reale Möglichkeit". (ebd.) Die Redepraxis selbst könne „keinen konstitutiven Rang mehr beanspruchen. Durch sie kann nicht eigentlich etwas zur Geltung gebracht werden. Sie macht nur geltend, was unabhängig von ihr als gültig erkannt wird." (S. 198) Damit gerate die „ethische Eigenlogik von Diskursen" aus dem Blick und „die Rationalisierung der Rede – ihre Erschließung aus einem vergegenständlichenden, theoretischen Blickwinkel – wird zu einer ständigen Möglichkeit." (S. 199) Die „erzieherische Kraft" der Rede gerate fortan „unter den Verdacht sekundärer Pädagogik". (S. 260)

Gegen diese Erzählweise macht Leeten geltend, dass „Elemente der alten Redekultur – die ethosbildende Wirksamkeit, die sinnlich-ästhetische Dimension, die Funktion des Zeigens, das Geschehen der Wiederverkörperung [im Sinne der Nachahmung eines ethischen Vorbildes, L. M.], das Ideal der Harmonie von Leben und Reden, der ethische Wahrheitsbegriff" weiterhin essentiell gewesen seien. (S. 192) Dabei geht er von der Vorstellung von „Philosophie als Lebensform" aus, die er als Forschungsperspektive aufnimmt. Indem er die nachplatonische Philosophie so betrachtet, kann er argumentieren, dass diese primär ethische Bildungspraxis bleibe: Auch und gerade hier sei es im Philosophieren immer auch um „die Verwandlung des philosophierenden Selbst" gegangen. (S. 192) Dabei versucht Leeten wiederum mit Foucault zu zeigen, dass Wahrheitssuche und Transformation des Subjekts hier noch nicht zu trennen seien. (ebd.) „Die Philosophie seit Platon" bleibe eine „diskursiv geschulte [...], die die Macht der Rede nicht zu neutralisieren versucht, indem sie sie schlicht ignoriert, sondern die einen Umgang mit dem wirksamen Logos pflegt, und dies nicht erst sekundär, bei der Vermittlung oder Verinnerlichung philosophischer Erkenntnis, sondern bereits dort, wo bestimmt wird, was als wahr gelten soll." (S. 199f.)

Die hellenistischen „Exerzitien der Weisheit" (Hadot) erwiesen sich dabei widerum als diskursive Übungen. Leeten verfolgt diese unter dem Aspekt ihrer medialen Formen, in denen sich die „Transformation des Ethos durch den Logos" vollziehen solle, „den mündlichen und schriftlichen Formen des Hörens, Lesens, Schreibens und Sprechens". (S. 225) Sein origineller Ansatz besteht darin, sie so zu behandeln, „dass diese einzelnen medialen Formen gleichzeitig den Verlauf eines Bildungsgangs" abbilden; wobei das Zuhörenkönnen „als erste, elementare Grundvoraussetzung philosophischer Bildung gilt, während der Dialog deren anspruchsvollste Form repräsentiert, die Fortgeschrittenen vorbehalten ist." (ebd.) Schließlich schlägt er vor, „der Idee von der Philosophie als Lebensform die Pointe zu verleihen, dass die antiken philosophischen Schulen einen Versuch darstellen, die Fähigkeiten des Hörens, des Schriftgebrauchs und Mit-sich-Sprechens als Basis einer Lebensgemeinschaft zu perfektionieren, in welcher Gespräche möglich sind, die sich als wahre Rede vollziehen und am sittlichen Guten orientieren." (S. 259)

Philosophie als ethische Diskurspraxis – Perspektiven für die Gegenwart?

Was ist nun gewonnen durch eine solche Genealogie, über einen originellen, stellenweise provokanten, oft zu sehr mit dem pragmatistischen Relativismus der Sophistik sympathisierenden Beitrag zur Philosophiegeschichte hinaus? Nach Leeten eröffnet sie auch eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Logos und Ethos für die Gegenwartsphilosophie. Zwar gebe es zeitgenössisch Ansätze, die sich unter den Titel ‚Sprache und Ethik' stellen ließen, etwa die Diskursethik, poststrukturalistische Konzepte, die responsive Phänomenologie und Dialogphilosophie. Betrachte man diese aber im Lichte antiker Redekultur, werde deutlich, inwiefern die Thematisierung dieses Verhältnisses einseitig und verengt bleibe. Insbesondere werde unterschätzt, wie „Formen der Subjektivität, soziale Beziehungen und Weltverständnisse im Zuge von Diskursen geformt werden [...]. Die Rede hat Wirksamkeit [...] in dem grundlegenden Sinn, dass sie Lebensformen in Kraft setzt [...]. Ohne Rücksicht auf diese formative Kraft der Rede bleiben Überlegungen zum Thema „Sprache und Ethik" unvollständig." (S. 264f.) Durch eine „Veränderung der Optik" werde diese „ethische Tiefendimension der Rede" wieder wahrnehmbar. Daraus ergebe sich eine Möglichkeit der Reflexion und Kritik, sofern sie erlaube, „die vertrauten Diskurspraktiken daraufhin zu befragen, welche Lebensweisen durch sie angebahnt werden und auf welches Ethos sie hinwirken." (S. 265) Zudem könne deutlich werden, dass es „keine Philosophiekonzepte ohne Bildungsideale [gibt]. Redeweisen exemplifizieren immer auch Lebensweisen, und wo sie eingeübt werden, hängen sie mit Weisen der Lebensgestaltung zusammen." (S. 266)

Eine solche Intervention scheint in mehrfacher Hinsicht produktiv. Einerseits scheint sie interessant mit Blick auf das, was Leeten als „praktische Diskurse" fasst. In den vergangenen Jahren hat der Begriff der „Gesprächs-" bzw. „Streitkultur" neue Popularität gewonnen – in dem Moment, in dem diese in eine massive Krise geraten ist. Die Philosophie könnte sich angesichts dessen auf ihre Geschichte besinnen und mit der ihr eigenen Expertise erneut der Aufgabe annehmen, sich um diese Gesprächskultur zu kümmern. Andererseits könnte sie sich anregen lassen, nicht nur andere Diskursformen zu beobachten und zu intervenieren, sondern auch ihre eigene Gesprächskultur zum Gegenstand zu machen. Mit Blick auf die diskursiven Untugenden, die man ironischerweise auf philosophischen Fachtagungen – beispielsweise in der Antike-Forschung – bisweilen besonders eindrücklich studieren kann, wäre es durchaus an der Zeit für eine derartige Selbstreflexion.

Schließlich eröffnet sie Forschungsperspektiven mit Blick auf die Philosophie als textuelle Praxis. Einerseits schärft sie die Aufmerksamkeit auf die performativen, pragmatischen, rhetorischen, poetischen und literarischen Aspekte philosophischer Rede, die kaum je auf ihre philosophische Bedeutung befragt worden sind. Deren Untersuchung könnte nicht nur an eher „experimentellen" Rede- und Schreibformen ansetzen. Vielmehr könnte sie auch den Mainstream der Gegenwartsphilosophie zum Gegenstand machen, der diese Aspekte oft gerade nicht mehr zu kultivieren, sondern mit Macht zu eliminieren versucht, indem er ein dezidiert anti-rhetorisches Selbstbild pflegt und Ideale philosophischen Sprechens propagiert, die gerade diese Elemente ausschließen sollen – dadurch aber umso mehr Gefahr läuft, von ihnen beherrscht zu werden.[15] Positiv gewendet würde so der Weg für neue Formen philosophischer Rede gewiesen, die diese Momente anerkennen und in einer ethischen und bildungsbezogenen Hinsicht fruchtbar machen könnten.

Footnotes 1 Zu diesem für Leeten zentralen Konzept siehe M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/ 82), Frankfurt a. M. 2009, S. 297f. 2 Siehe unter anderem P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt a.M. 2002; Foucault, Hermeneutik des Subjekts (wie Anm. 1). 3 Siehe dazu ausführlich L. Leeten: Verliert die Philosophie ihren Erzrivalen? Ein Blick auf den aktuellen Stand der Sophistikforschung", in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 41/1 (2016), 77–103. 4 Siehe dazu Foucault, Hermeneutik des Subjekts (wie Anm. 1). 5 Vgl. auch T. Buchheim, „Händler des guten Lebens. Sophistische Erziehungsideen", in: C. Rapp / T. Wagner (Hrsg.), Wissen und Bildung in der antiken Philosophie. Stuttgart 2006, S. 73–86. 6 Ein Zug, den widerum Buchheim betont, wenn er den Gegensatz von platonischem und sophistischem Denken als Gegensatz von „Reflexion und Räsonnement" fasst: T. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986. 7 Damit würde das protagoreische Modell anschlussfähig an gegenwärtige Debatten um moralische Wahrnehmung und entsprechende Konzepte ethischer Bildung, vgl. zu Letzterem etwa M. Ziegler, Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht, Würzburg 2014. Dieser orientiert sich widerum an der Deutung der platonischen Sprach-, Wahrnehmungs- und Lerntheorie bei J. Hachmöller, Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer, Würzburg 2015. 8 Vgl. dazu W. Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a. M. 2020 [1995], S. 32: „Wahrheit ist in der Gorgias-Rede etwas, das nicht außerhalb des Textes schon besteht, kein metaphysischer Begriff, sondern etwas, das durch und in der Rede erst erzeugt wird und das sich im Kosmos der Rede konkret ereignet." 9 Anzumerken ist, dass Leeten die Debatte um die sogenannte platonische „Ideenlehre" ausklammert und auch offenlässt, was in den „mittleren" und „späten" Dialogen Platons mit dem Sokratischen geschehe. Er erweckt teils den Eindruck, Platon habe sich in seiner Sicht im Laufe der Zeit davon abgewandt, womit er die Kontinuitätslinien vom platonischen Spätwerk zu Aristoteles betont würden. Da dies aber nur vermutet werden kann, weil Leeten es nie explizit sagt, wird dies hier nicht weiter diskutiert. Leeten scheint hier einzig an die Wirkung auf den Gesprächspartner zu denken; interessanter wäre womöglich die Frage, welche Wirkung die Dialoge auf ihre Leserin haben sollen und können und welche Rolle dabei der dramatischen Inszenierung des Theorie-Theaters zukommt. In diese Richtung denkt etwa auch A. K. Cotton, Platonic Dialogue and the Education of the Reader, Oxford 2014. Die Frage nach dem Status des Dialogischen verfolgt Castagnoli auf anderer Ebene, nämlich der Funktionsweise einer für die Antike typischen Argumentationsweise selbst: L. Castagnoli, Ancient Self-Refutation. The Logic and History of the Self-Refutation Argument from Democritus to Augustine, Cambridge 2010. Leeten scheint hier recht großzügig, wenn er in den Dialogen Anhaltspunkten für diese Transformation ausmacht. Die Frage, wie weit diese jemals wirklich gelingt, kann hier nicht beantwortet werden. Richtete man den Blick nicht auf den Gesprächspartner, sondern auf die Leserin des Dialogs, würde sie sich anders stellen; siehe oben (Anm. 10). Dies könnte nicht nur als Form der Selbstmäßigung, sondern zugleich der Ermächtigung verstanden werden – sofern derjenige, der lernt, ‚zur Sache' (pros to pragma) zu sprechen, sich nicht nur von der Willkür des eigenen Standpunkts befreit. Er kann sich im selben Akt auch von den Anmaßungen anderer emanzipieren, indem er sich mit deren Positionen auf dialektische Weise auseinanderzusetzen lernt, also selbst vom Geprüften zum Prüfenden wird. Hinsichtlich der „Klassik" kommt Leeten – indirekt und äußerst knapp – auf Isokrates zu sprechen. Dessen Ansatz einer ‚rhetorischen' Bildung taucht allerdings nur im Moduls des Defizitären auf: „Bei Isokrates ist das Vertrauen in die Stiftungskraft der Rede so stark ausgeprägt, dass die kritische Nachfrage und die dialektische Prüfung als diskursive Verfahren keinerlei Bedeutung gewinnen". Er falle damit hinter die Sokratik zurück. (S. 196) Dieses Urteil ist womöglich einseitig. Siehe dagegen die Überlegungen bei T. Blank, Logos und Praxis. Sparta als politisches Exemplum in den Schriften des Isokrates, Berlin 2014. Blank meint zeigen zu können, dass Isokrates in seinen (insofern doppelbödigen) Lobreden absichtlich Inkonsistenzen einbaut, um so die kritische Urteilskraft ihrer Adressaten mit Blick auf die gängige rhetorische Praxis zu schulen. Für ein Beispiel mit Blick auf die „analytische Philosophie" siehe: J. Volbers, „Analytische Philosophie: Die andere Seite der Rhetorik", in: G. Posselt & A. Hetzel (Hrsg.): Handbuch Rhetorik und Philosophie. Berlin/ Boston 2017, S. 333–352.

By Laura Martena

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Titel:
Kritik über Leeten (2019): Redepraxis als Lebenspraxis. Die diskursive Kultur der antiken Ethik.
Autor/in / Beteiligte Person: Martena, Laura
Link:
Zeitschrift: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 23 (2020), Heft 1, S. 281-296
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: review
ISSN: 1384-6663 (print)
DOI: 10.1075/bpjam.00065.mar
Schlagwort:
  • REDEPRAXIS als Lebenspraxis: Die diskursive Kultur der antiken Ethik (Book)
  • LEETEN, Lars
  • ANCIENT ethics
  • SPEECHES, addresses, etc.
  • NONFICTION
  • Subjects: REDEPRAXIS als Lebenspraxis: Die diskursive Kultur der antiken Ethik (Book) LEETEN, Lars ANCIENT ethics SPEECHES, addresses, etc. NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Göttingen, 00rcxh774

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