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Kritik über Hengelbrock (2018): Zeit und Freizeit: Seneca, Epistulae morales.

Groß, Johannes
In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 23 (2020), Heft 1, S. 297-301
Online review

Kritik über Hengelbrock (2018): Zeit und Freizeit: Seneca, Epistulae morales 

Hengelbrock, Matthias

Zeit und Freizeit: Seneca, Epistulae morales Classica Kompetenzorientierte lateinische Lektüre XIII Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht 2018 118 € 14,99 978-3-647-90050-6

Senecas Epistulae morales gehören nach wie vor zum unumstrittenen Kanon der Originallektüren im schulischen Lateinunterricht. Es ist erfreulich, dass sich mit Matthias Hengelbrock (H.) ein weiterer Bearbeiter dieser wichtigen philosophischen Texte in der Reihe Classica gefunden hat[1], der einerseits bereits in seiner Dissertation eine profunde Textkenntnis unter Beweis gestellt hat[2] und andererseits – wie sich zeigen wird – kluge Schnittschnellen zwischen den ausgewählten Texten und aktuellen Diskursen zu sehen in der Lage ist. Da es sich um eine Schulausgabe handelt, wird die Tauglichkeit des Bandes für den unterrichtlichen Einsatz in diesem Beitrag die wesentliche Richtschnur sein.

Die Besprechung orientiert sich an den drei großen Teilen, in welche der Band gegliedert ist: I. Einleitung (6–11); II. Texte (12–69); III. Anhang (70–96).

Am Beginn der Einleitung (6) steht ein angenehm lesbarer Brief an die Schülerinnen und Schüler, in dem H. die großen Linien seiner Ausgabe zeichnet, wobei er einerseits inhaltlich motivierend arbeitet und Zielvorstellungen ausschärft, andererseits aber auch den recht komplexen Aufbau der Textseiten erläutert. An dieser Stelle wird auch die nachvollziehbar gestaltete Schwierigkeitsstaffelung der Texte erklärt: „A bezeichnet einen Text ohne nennenswerte Probleme, B einen Text mit durchschnittlichen Herausforderungen, C einen sprachlich und/oder gedanklich recht anspruchsvollen Text.", 6. Man stößt sich etwas an der Formulierung für den Schwierigkeitsgrad A, sind doch wohl sprachliche Probleme gemeint.

Es folgen die üblichen Standards und Kompetenzen (7), gegliedert nach Sprache, Text und Kultur.

Auf den Folgeseiten (8–11) findet sich grundlegendes Hintergrundwissen zur Stoa in Rom, zu Senecas Biographie und Werk (wobei die Satire über Kaiser Claudius ungenannt bleibt) sowie ein erster gattungsgeschichtlicher Einblick in die Literatur des philosophischen Lehrbriefs. Die stichpunktartig aufgelisteten „allgemeinen Merkmale des philosophischen Lehrbriefs senecanischer Prägung" (11) werden den Schülerinnen und Schülern während der Lektüre gute Dienste leisten.

Ausgesprochen positiv zu bewerten sind die am Schluss des Einleitungskapitels stehenden „Anregungen zum Weiterlesen" (12), in denen sowohl auf verschiedene Übersetzungen der Epistulae morales als auch auf biographische Literatur zu Seneca hingewiesen wird. Derartige Anregungen wünscht man sich in Textausgaben für die Schule viel häufiger.

Im Hauptteil der Ausgabe arbeitet H. mit dem mittlerweile etablierten Doppelseitenprinzip.

Die Texte sind den folgenden Briefen entnommen und bilden damit eine breite Auswahl aus dem Epistelkorpus Senecas ab: epist. 1; epist. 49, 3–5; epist. 70, 1–5; epist. 7, 3–6, 8; epist. 8, 1–6; epist. 22, 1–4, 9–12; epist. 56, 1–3, 5–9, 11; epist. 92, 3–4, 6, 10f.; epist. 123, 1–2, 4; epist. 31, 2–8; epist. 94, 13, 17 und epist. 113, 1 27, 31–32 (Reihenfolge wie in der Ausgabe). Die Stellenangaben werden leider nur im Inhaltsverzeichnis genannt, nicht auf der Textseite selbst.

Ein Blick auf den Aufbau dieser Textseiten:

Auf der linken Seite sind die lateinischen Texte mitsamt thematischer Überschrift und einer kurzen, aber treffenden Einleitung sowie einem ad-lineam-Kommentar abgedruckt. Etwas störend sind die kleinen Hochzahlen im lateinischen Text, mit denen auf die Lemmata im (teils zu reichhaltigen) ad-lineam-Kommentar Bezug genommen wird. Aller Erfahrung nach kann man Oberstufenschülerinnen und -schülern die selbstständige Zuordnung der Hilfen zum Text zutrauen und könnte für zukünftige Ausgaben der classica-Reihe auf diese gut gemeinte Hilfe verzichten, da sie hemmend auf den Lesefluss wirken kann.

Die Textlänge der zu übersetzenden Stücke beträgt im Durchschnitt etwa 140 Wörter und ist unter Einbezug der Hilfen in fortgeschrittenen Oberstufenkursen bestimmt gut in angemessener Zeit zu bewältigen. Der in den lateinischen Texten recht großzügig gewählte Zeilenabstand erleichtert den Lesefluss in der Fremdsprache. Lediglich in epist. 1 ist ein leicht aufgelockertes, vor allem an den zahlreichen Trikola orientiertes Druckbild gegenüber dem sonst üblichen Blocksatz gewählt, vielleicht um den Einstieg in die Lektüre zu erleichtern. An zwei Stellen (epist. 56, 2–3 und epist. 92, 4; 6) sind Textstücke zweisprachig abgedruckt.

Es fällt insgesamt auf, dass Aufträge zur sog. pre-reading-Phase fehlen. Diese Anmerkung sollte jedoch keinesfalls als Manko verstanden werden, erwecken allzu fein gegliederte Lektüreeinheiten häufig den Eindruck vorgestanzter Programme, mittels derer die Schülergruppen sich selbst mit vermeintlichen Kompetenzhäppchen versorgen können, ohne dass eine Lehrkraft von Nöten wäre. Für die Bearbeitung dieser Texte benötigen die Schülerinnen und Schüler trotz aller gewährter Hilfen vornehmlich inhaltliche Motivation und Anleitung durch eine Lehrperson – und das ist ein gutes Zeichen für die altsprachliche Fachdidaktik.

Was können die Schülerinnen und Schüler nun inhaltlich und sprachlich mit dieser Ausgabe lernen? Bereits mit Blick auf die lateinischen Texte eine ganze Menge: Welche (Frei-)Zeitkonzeptionen der Antike gibt es? Welchen Wert hat das Leben, welchen der Tod? Gibt es allgültige, wahre Werte und Tugenden? Was ist Glück? Wie kann ich meine Lebenszeit sinnvoll verbringen? Überhaupt – und diesen Ansatz entwickelt H. bereits im Vorwort – gehe es ihm weniger um das Alltagsgeschehen, also um das „was die Menschen auf dem Forum oder im Amphitheater tun, sondern, was sie stattdessen besser tun sollten." (6).

Zur Vertiefung dieser Gedanken sind im Anschluss an die Originaltexte verschiedene Aufgaben gestellt, die sich zunächst immer auf die gelesene Stelle beziehen. Hier bietet H. längerfristige und punktuelle Aufgabenformate gleichermaßen an: Längerfristige, indem beispielsweise über mehrere Texteinheiten hinweg eine Liste mit Belegstellen für verschiedene Ausdrücke (etwa occupatio/occupare, 43, Aufg. 1, 45, Aufg. 4, 51, Aufg. 1) geführt werden soll, punktuelle, indem zu einem klar umrissenen Textstück gearbeitet wird (etwa „Erläutern Sie die Ratschläge, die Seneca in Z. 11–19 gibt.", 43, Aufg. 2).

Diese Aufgaben werden darüber hinaus mit exakt zugeschnittenen Unterstützungsmaterialien zu den drei Bereichen Sprach-, Text- und Kulturkompetenz vernetzt. Was die sprachlichen Hilfen anbelangt, so setzt H. vor allem bei denjenigen Phänomenen einen Akzent, die in der Spracherwerbsphase meist zu kurz behandelt werden, für eine flüssige Lektüre der Briefe aber sinnvollerweise zu beherrschen sind. Exemplarisch seien hier der Gebrauch des bei Seneca häufigen Konjunktivs im Hauptsatz, die relativische Verschränkung und die coniugatio periphrastica genannt.

In den Fußzeilen der Textseiten sind links unter den lateinischen Texten schlagwortartig grammatische Phänomene genannt, die im betreffenden Abschnitt häufig auftreten; rechts unten finden sich Hinweise zu vorkommenden stilistischen Mitteln.

Die mit „K" (für Kulturkompetenz) beschrifteten Zusatzmaterialien bieten textinterpretatorische Anregungen, die ausschöpfend wohl kaum eingesetzt werden, aber immer wieder als Ausgangpunkt für Diskussionen und kleine schriftliche Arbeiten dienen können. Diese Angebote umfassen einerseits ein in die jeweiligen Kapitel integriertes Curriculum der stoischen Philosophie, unter den Überschriften Stoische Güterlehre I–V, Stoische Tugendlehre I–II und Stoischer Gottesbegriff. Andererseits werden die Konzeptionen der senecanischen Philosophie ideengeschichtlich innerhalb der Antike verortet: Leider weniger gelungen bei der Behandlung von epist. 1 mittels eines Sekundärtextes aus SPIEGEL WISSEN zu „Augustins Zeitbegriff" (19), besser verankert in der breiten Diskussion des otium-Begriffs (32–35) ist Cat. carm. 51. Auch zu Epikur sowie zu den Artes liberales sind ergänzende und prägnant formulierte Texte enthalten. Eine kleine, aber zu meisternde Hürde stellen die griechischen Fachbegriffe dar, die nicht in lateinischer Schrift aufgelöst sind (z. B. S. 59).

Besondere Aufmerksamkeit verdienen im Zusammenhang der Interpretation zwei Interviewauszüge aus der Wochenzeitung „Die Zeit" mit dem renommierten Soziologen und Philosophen Hartmut Rosa[3] unter den Überschriften „Zeit als knapper Rohstoff" (22–23) und „Ein modernes Plädoyer für Muße" (40–41), anhand derer die Schülerinnen und Schülern die erarbeiteten Begriffe in gegenwartsbezogener Weise vertiefen und einüben können. Der Gehalt dieser Interviews geht über reines Feuilletonwissen deutlich hinaus, und es gelingt H. in den Aufgabenstellungen ausgesprochen gut, die modernen Ansätze Rosas mit denen der gelesenen lateinischen Texte zu verknüpfen.

Gut lesbar und in den Gesamtkontext passend sind die beiden Exkurse (verfasst durch Karl-Wilhelm Weeber) zu den Themen „Freizeitgestaltung in römischer Zeit" (28–31) und „Der Tagesablauf bei den Römern" (46–49).

Mit Abbildungen geht H. insgesamt sparsam um, was aber aufgrund der inhaltlichen Ergiebigkeit der Ausgabe nicht negativ auffällt.

Der Anhang bietet ein Fundamentum (70–71) und ein Additum (72–73) insgesamt 47 (!) sprachlich-stilistischer Mittel mit beispielhaften Fundstellen aus dem Band sowie vier Beispielen für die gute sprachlich-stilistische Untersuchung einer Textstelle, in denen auf Verwendung und Funktion der Stilmittel hingewiesen wird. „Sprachliche Besonderheiten" (75–76), „Grammatikalische Stolpersteine" (75–76) und „Hilfen zur Worterschließung" (77) greifen zum Teil Elemente der Texteinheiten auf, bieten aber auch weiteres Material. Der „Lernwortschatz" (78–95) schließlich ist sehr ausführlich gehalten und macht gemeinsam mit dem ad-lineam-Kommentar die Benutzung eines Wörterbuchs beinahe überflüssig, weil tatsächlich fast jedes Wort genannt wird. Hier hätte man einerseits größeres Vertrauen in den Grundwortschatz der Schülerinnen und Schüler legen müssen und andererseits vermehrt auf die Möglichkeit der Wortableitung hinweisen können. Vokabeln wie tibi, oculus oder medicus gehören in jedem Lehrwerk zum Standard, Bedeutungen von Komposita wie antecedere, observare oder contrahere lassen sich mühelos herleiten. Derartiges muss nicht haarklein aufgelistet sein. Die letzte Seite der Ausgabe besteht in Formentabellen mit vermeintlich schwierig zu erkennenden Verbformen, z.B. Imperative oder die häufig verwechselten Formen des Futur I und Konjunktiv Präsens.

Als Ergänzung zum gesamten Band sei auf den ausführlichen Lehrerkommentar hingewiesen.[4]

Fazit: Diese Textausgabe ermöglicht breite historische Kommunikation sowie zahlreiche philosophische und textinterpretatorische Lernanlässe für den Lateinunterricht. Überzeugend ist dabei sowohl die konzeptionelle als auch die praktische Grundausrichtung.

Footnotes 1 Durch den Verfasser dieser Rezension wurde aus der gleichen Reihe bereits in BPJAM 21 (2018), 232–236 besprochen: P. Kuhlmann.Die Philosophie der Stoa. Seneca, Epistulae morales. Göttingen 2016. (classica Kompetenzorientierte lateinische Lektüre X) 2 M. Hengelbrock, Das Problem des ethischen Fortschritts in Senecas Briefen. Hildesheim u.a. 2000. (Beiträge zur Altertumswissenschaft 13) 3 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mit Hartmut Rosa ausgerechnet ein profilierter Kritiker des Kompetenzbegriffs in dieser Ausgabe aus der Reihe „Kompetenzorientierte lateinische Lektüre" zu Wort kommt und im Interview über das spricht, was in einer neoliberal-ökonomisch ausgerichteten Leistungsgesellschaft den Schülerinnen und Schülern streitig gemacht werden soll: Freie Zeit und Muße. Vielleicht möchte H. mit den Interview-Ausschnitten einen hintergründigen Gegenakzent setzen? Vgl. etwa H. Rosa, Unverfügbarkeit. Wien, Salzburg 2019, 79: „Bildung ereignet sich nicht dort, wo eine bestimmte Kompetenz erworben wird, sondern dann, wenn ein gesellschaftlicher relevanter Weltausschnitt ‚zu sprechen beginnt' [...]." 4 M. Hengelbrock, Zeit und Freizeit: Seneca, Epistulae morales. Lehrerband 13. Göttingen 2018. (classica Kompetenzorientierte lateinische Lektüre)

By Johannes Groß

Reported by Author

Titel:
Kritik über Hengelbrock (2018): Zeit und Freizeit: Seneca, Epistulae morales.
Autor/in / Beteiligte Person: Groß, Johannes
Link:
Zeitschrift: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 23 (2020), Heft 1, S. 297-301
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: review
ISSN: 1384-6663 (print)
DOI: 10.1075/bpjam.00066.gro
Schlagwort:
  • ZEIT und Freizeit: Seneca, Epistulae morales (Book)
  • HENGELBROCK, Matthias
  • EPISTULAE (Book : Pliny, the Younger)
  • SENECA (North American people)
  • NONFICTION
  • Subjects: ZEIT und Freizeit: Seneca, Epistulae morales (Book) HENGELBROCK, Matthias EPISTULAE (Book : Pliny, the Younger) SENECA (North American people) NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Ruhr-Universität Bochum, 04tsk2644

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