Hengelbrock, Matthias
Zeit und Freizeit: Seneca, Epistulae morales Classica Kompetenzorientierte lateinische Lektüre XIII Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht 2018 118 € 14,99 978-3-647-90050-6
Senecas Epistulae morales gehören nach wie vor zum unumstrittenen Kanon der Originallektüren im schulischen Lateinunterricht. Es ist erfreulich, dass sich mit Matthias Hengelbrock (H.) ein weiterer Bearbeiter dieser wichtigen philosophischen Texte in der Reihe Classica gefunden hat[
Die Besprechung orientiert sich an den drei großen Teilen, in welche der Band gegliedert ist: I. Einleitung (6–11); II. Texte (12–69); III. Anhang (70–96).
Am Beginn der Einleitung (
Es folgen die üblichen Standards und Kompetenzen (
Auf den Folgeseiten (8–11) findet sich grundlegendes Hintergrundwissen zur Stoa in Rom, zu Senecas Biographie und Werk (wobei die Satire über Kaiser Claudius ungenannt bleibt) sowie ein erster gattungsgeschichtlicher Einblick in die Literatur des philosophischen Lehrbriefs. Die stichpunktartig aufgelisteten „allgemeinen Merkmale des philosophischen Lehrbriefs senecanischer Prägung" (
Ausgesprochen positiv zu bewerten sind die am Schluss des Einleitungskapitels stehenden „Anregungen zum Weiterlesen" (
Im Hauptteil der Ausgabe arbeitet H. mit dem mittlerweile etablierten Doppelseitenprinzip.
Die Texte sind den folgenden Briefen entnommen und bilden damit eine breite Auswahl aus dem Epistelkorpus Senecas ab: epist. 1; epist. 49, 3–5; epist. 70, 1–5; epist. 7, 3–6, 8; epist. 8, 1–6; epist. 22, 1–4, 9–12; epist. 56, 1–3, 5–9, 11; epist. 92, 3–4, 6, 10f.; epist. 123, 1–2, 4; epist. 31, 2–8; epist. 94, 13, 17 und epist. 113, 1 27, 31–32 (Reihenfolge wie in der Ausgabe). Die Stellenangaben werden leider nur im Inhaltsverzeichnis genannt, nicht auf der Textseite selbst.
Ein Blick auf den Aufbau dieser Textseiten:
Auf der linken Seite sind die lateinischen Texte mitsamt thematischer Überschrift und einer kurzen, aber treffenden Einleitung sowie einem ad-lineam-Kommentar abgedruckt. Etwas störend sind die kleinen Hochzahlen im lateinischen Text, mit denen auf die Lemmata im (teils zu reichhaltigen) ad-lineam-Kommentar Bezug genommen wird. Aller Erfahrung nach kann man Oberstufenschülerinnen und -schülern die selbstständige Zuordnung der Hilfen zum Text zutrauen und könnte für zukünftige Ausgaben der classica-Reihe auf diese gut gemeinte Hilfe verzichten, da sie hemmend auf den Lesefluss wirken kann.
Die Textlänge der zu übersetzenden Stücke beträgt im Durchschnitt etwa 140 Wörter und ist unter Einbezug der Hilfen in fortgeschrittenen Oberstufenkursen bestimmt gut in angemessener Zeit zu bewältigen. Der in den lateinischen Texten recht großzügig gewählte Zeilenabstand erleichtert den Lesefluss in der Fremdsprache. Lediglich in epist. 1 ist ein leicht aufgelockertes, vor allem an den zahlreichen Trikola orientiertes Druckbild gegenüber dem sonst üblichen Blocksatz gewählt, vielleicht um den Einstieg in die Lektüre zu erleichtern. An zwei Stellen (epist. 56, 2–3 und epist. 92, 4; 6) sind Textstücke zweisprachig abgedruckt.
Es fällt insgesamt auf, dass Aufträge zur sog. pre-reading-Phase fehlen. Diese Anmerkung sollte jedoch keinesfalls als Manko verstanden werden, erwecken allzu fein gegliederte Lektüreeinheiten häufig den Eindruck vorgestanzter Programme, mittels derer die Schülergruppen sich selbst mit vermeintlichen Kompetenzhäppchen versorgen können, ohne dass eine Lehrkraft von Nöten wäre. Für die Bearbeitung dieser Texte benötigen die Schülerinnen und Schüler trotz aller gewährter Hilfen vornehmlich inhaltliche Motivation und Anleitung durch eine Lehrperson – und das ist ein gutes Zeichen für die altsprachliche Fachdidaktik.
Was können die Schülerinnen und Schüler nun inhaltlich und sprachlich mit dieser Ausgabe lernen? Bereits mit Blick auf die lateinischen Texte eine ganze Menge: Welche (Frei-)Zeitkonzeptionen der Antike gibt es? Welchen Wert hat das Leben, welchen der Tod? Gibt es allgültige, wahre Werte und Tugenden? Was ist Glück? Wie kann ich meine Lebenszeit sinnvoll verbringen? Überhaupt – und diesen Ansatz entwickelt H. bereits im Vorwort – gehe es ihm weniger um das Alltagsgeschehen, also um das „was die Menschen auf dem Forum oder im Amphitheater tun, sondern, was sie stattdessen besser tun sollten." (
Zur Vertiefung dieser Gedanken sind im Anschluss an die Originaltexte verschiedene Aufgaben gestellt, die sich zunächst immer auf die gelesene Stelle beziehen. Hier bietet H. längerfristige und punktuelle Aufgabenformate gleichermaßen an: Längerfristige, indem beispielsweise über mehrere Texteinheiten hinweg eine Liste mit Belegstellen für verschiedene Ausdrücke (etwa occupatio/occupare, 43, Aufg. 1, 45, Aufg. 4, 51, Aufg. 1) geführt werden soll, punktuelle, indem zu einem klar umrissenen Textstück gearbeitet wird (etwa „Erläutern Sie die Ratschläge, die Seneca in Z. 11–19 gibt.", 43, Aufg. 2).
Diese Aufgaben werden darüber hinaus mit exakt zugeschnittenen Unterstützungsmaterialien zu den drei Bereichen Sprach-, Text- und Kulturkompetenz vernetzt. Was die sprachlichen Hilfen anbelangt, so setzt H. vor allem bei denjenigen Phänomenen einen Akzent, die in der Spracherwerbsphase meist zu kurz behandelt werden, für eine flüssige Lektüre der Briefe aber sinnvollerweise zu beherrschen sind. Exemplarisch seien hier der Gebrauch des bei Seneca häufigen Konjunktivs im Hauptsatz, die relativische Verschränkung und die coniugatio periphrastica genannt.
In den Fußzeilen der Textseiten sind links unter den lateinischen Texten schlagwortartig grammatische Phänomene genannt, die im betreffenden Abschnitt häufig auftreten; rechts unten finden sich Hinweise zu vorkommenden stilistischen Mitteln.
Die mit „K" (für Kulturkompetenz) beschrifteten Zusatzmaterialien bieten textinterpretatorische Anregungen, die ausschöpfend wohl kaum eingesetzt werden, aber immer wieder als Ausgangpunkt für Diskussionen und kleine schriftliche Arbeiten dienen können. Diese Angebote umfassen einerseits ein in die jeweiligen Kapitel integriertes Curriculum der stoischen Philosophie, unter den Überschriften Stoische Güterlehre I–V, Stoische Tugendlehre I–II und Stoischer Gottesbegriff. Andererseits werden die Konzeptionen der senecanischen Philosophie ideengeschichtlich innerhalb der Antike verortet: Leider weniger gelungen bei der Behandlung von epist. 1 mittels eines Sekundärtextes aus SPIEGEL WISSEN zu „Augustins Zeitbegriff" (
Besondere Aufmerksamkeit verdienen im Zusammenhang der Interpretation zwei Interviewauszüge aus der Wochenzeitung „Die Zeit" mit dem renommierten Soziologen und Philosophen Hartmut Rosa[
Gut lesbar und in den Gesamtkontext passend sind die beiden Exkurse (verfasst durch Karl-Wilhelm Weeber) zu den Themen „Freizeitgestaltung in römischer Zeit" (28–31) und „Der Tagesablauf bei den Römern" (46–49).
Mit Abbildungen geht H. insgesamt sparsam um, was aber aufgrund der inhaltlichen Ergiebigkeit der Ausgabe nicht negativ auffällt.
Der Anhang bietet ein Fundamentum (70–71) und ein Additum (72–73) insgesamt 47 (!) sprachlich-stilistischer Mittel mit beispielhaften Fundstellen aus dem Band sowie vier Beispielen für die gute sprachlich-stilistische Untersuchung einer Textstelle, in denen auf Verwendung und Funktion der Stilmittel hingewiesen wird. „Sprachliche Besonderheiten" (75–76), „Grammatikalische Stolpersteine" (75–76) und „Hilfen zur Worterschließung" (
Als Ergänzung zum gesamten Band sei auf den ausführlichen Lehrerkommentar hingewiesen.[
Fazit: Diese Textausgabe ermöglicht breite historische Kommunikation sowie zahlreiche philosophische und textinterpretatorische Lernanlässe für den Lateinunterricht. Überzeugend ist dabei sowohl die konzeptionelle als auch die praktische Grundausrichtung.
By Johannes Groß
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