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Kritik über Grosse & Donati (2020): De divinatione (Liber tertius de somno et vigilia), Über die Weissagung (Drittes Buch über das Schlafen und das Wachen), (lateinisch – deutsch).

Winkler, Norbert
In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 23 (2020), Heft 1, S. 302-312
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Kritik über Grosse & Donati (2020): De divinatione (Liber tertius de somno et vigilia), Über die Weissagung (Drittes Buch über das Schlafen und das Wachen), (lateinisch – deutsch) 

Grosse, Albert der

De divinatione (Liber tertius de somno et vigilia), Über die Weissagung (Drittes Buch über das Schlafen und das Wachen), (lateinisch – deutsch) Übersetzt und eingeleitet von

Donati, S.

Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters Bd. 48 Freiburg/Basel/Wien Verlag Herder 2020 204 38 Euro 978-3-451-38409-7

Der gebotene lateinische Text dieser zweisprachigen Ausgabe fußt auf der in der kritischen Werkausgabe vorbereiteten Edition, die in diesem Werkabschnitt des Albert'schen Oeuvres die lange Zeit benutzten Ausgaben von Petrus Jammy (1651 in Lyon gedruckt, blieb mit 21 Bänden unvollendet), sowie die im Auftrag Papst Leo XIII. von den Gebrüdern Borgnet von 1890 bis 1899 in Paris ins Werk gesetzte, endlich ablösen wird.[1] Die historische Vorgeschichte ist deshalb von belang, weil die weiter verbreitete Borgnet-Ausgabe gegenüber der von Jammy im Grunde einen schlecht aufbereiteten Nachdruck ihrer Vorgängerin darstellte, in den nun auch noch unzureichend geprüfte Schriften eingereiht wurden, die sich alsbald als unecht erwiesen.[2] H. Anzulewicz, profunder Kenner dieser Werkgeschichte, merkte einmal hierzu an: „Die Ausgabe von Borgnet unterscheidet sich nur geringfügig vom Lyoner Druck – sie korrigiert offensichtliche Fehler von Jammy und fügt einige neue Varianten hinzu. Von einer Textrevision auf handschriftlicher Grundlage kann nicht gesprochen werden." Und eben darin besteht eines der unstrittigen Verdienste der seit 1951 erscheinenden Editio Coloniensis, dass nunmehr die uns überkommenen echten Texte Alberts nach dem international erreichbaren Handschriftenbestand ediert werden. Mitte der 90iger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde dann der Aufgabenbereich des Albertus-Magnus-Instituts dahingehend erweitert, dass über die reine Editionsarbeit hinausgehend die Forschungen zur Denkungsart Alberts forciert wurden, wozu neben eigenständig erstellten Publikationen seit Jahren vorbildlich angefertigte und kommentierte Übersetzungen gehören. Denn während bspw. zentrale Texte des Thomas von Aquin – in welcher Übersetzung auch immer – im 20. Jahrhundert einer interessierten Leserschaft sehr wohl zur Verfügung standen, war der Inhalt der Schriften des Albertus Magnus dagegen lange Zeit nur wenigen Spezialisten bekannt, wenn wir von ein paar mageren Florilegien absehen wollen. Erst allmählich und dank auch dieser Übersetzungsarbeit wandelt sich das Bild und die recht eigene Gedankenwelt des Albertus tritt hinter der seines Schülers Thomas von Aquin markant hervor.

Der in dieser Ausgabe zugrunde gelegte lateinische Text ist Bestandteil eines größeren Editionsunternehmens, das sich im Rahmen der DFG-Forschungsförderung den Kommentaren Alberts zu den kleinen naturphilosophischen Schriften des Aristoteles (Parva naturalia) widmet. Begonnen wurde in Tomus VII/2A der kritischen Werkausgabe mit der Edition der Kommentare zu De nutrimento et nutritio, De sensu et sensato und der darin enthaltenen Auslegung von De memoria et reminiscentia. Im Anschluss daran ist die Herausgabe von Alberts zweiteiligem Traktat De intellectu et intelligibili vorgesehen, mit dem die Intellektlehre seines De anima-Kommentars im eigentlichen Sinne abschließt, sowie seine Kommentare zu De somno et vigilia, De spiritu et respiratione, De motu animalium, De iuventute et senectute und De morte et vita. Das Projekt erzwingt ein äußerst vielschichtiges, zeitintensives Arbeiten und ist demgemäß bis in das Jahr 2024 hinein terminiert. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, aus dem editorischen Vorwärtsgang etwas herauszulösen, noch dazu, da die Editorin bereits in zwei Aufsätzen die inhaltliche Erschließung dieses Textes in Angriff genommen hatte (9f., Anm. 10), so dass sich daraus leicht eine fundierte Einleitung formen ließ. Wenn das Projekt einmal abgeschlossen sein wird, verfügen wir über die kritische Edition jener aufeinander verweisenden Werkabfolge, in der sich Albert in gedanklicher Auseinandersetzung mit der aristotelisch-peripatetischen Seelen- und Erkenntnislehre zeigt, insofern er sie in direkter Auseinandersetzung mit den Werken des Aristoteles betrieben hat. In dieser für die Zeit einzigartigen Kommentierungsleistung wurde Albert freilich in nicht geringem Maße von den Einflüssen des arabischen Peripatismus mit geprägt. Sein philosophisch auswertender Zugriff auf die aristotelischen Texte ist ohne jene Einsichten, die er aus den ins Lateinische übersetzten Werken Alfarabis, Avicennas und des Averroes gewonnen hatte, nicht zu denken. Das zeigt sich auch an dem hier vorzustellenden Text. Die Edition zu diesem wichtigen Werkabschnitt Albert'scher Naturphilosophie liegt in der bewährten Hand von Silvia Donati, die nun auch diese erste verlässliche Ausgabe von Alberts De divinatione übersetzt und eingeleitet hat.

Albert war in seinem Kommentar zu den Büchern I und II von De somno et vigilia zunächst auf die aristotelischen Traktate De somno et vigilia und De insomniis eingegangen, um sich im Buch III die Behandlung der aristotelischen Schrift De divinatione per somnum vorzunehmen. Jenes Buch III von De somno et vigilia, das von der Weissagung (de divinatione) einschließlich der Traumdeutung handelt, haben wir hier vorliegen. Der emendierte Text, welcher der Übersetzung zugrunde gelegt ist, und für dessen Erstellung an die 50 Handschriften und die wesentlichen Druckausgaben zu konsultieren waren, bringt hier den noch „unveröffentlichten Text" des Bandes zum Einsatz, (62) der für die große Werkausausgabe vorbereitet ist. Beibehalten wurde zunächst noch der Hinweis auf die Spaltenzahlen der Borgnet-Ausgabe – wohl um anhand des bislang Gewohnten die Orientierung zu erleichtern. Dieser zweisprachigen Ausgabe haftet somit durchaus eine gewisse Exklusivität an.

Alberts Kommentar untergliedert sich in zwei Teile. Im ersten Traktat befasst er sich damit, was die Weissagung (divinatio) ihrem Wesen nach ist, in welcher Weise Vision (visio), Traum (somnium) und Prophetie (prophetia) voneinander unterschieden werden können und was letztlich einen Propheten (propheta) ausmacht. Nach der Umgrenzung seines Darlegungsfeldes geht Albert in den Kapiteln 6 bis 8 daran, einschlägige Lehrmeinungen (Avicenna, Algazel, Averroes, Alfarabi, Isaak Israeli, die Stoiker) zu diskutieren und auch zu widerlegen.[3] Sein Ziel ist es, die Aussagen der verschiedenen Peripatetikergenerationen möglichst zu vereinheitlichen, da Albert gravierende Differenzen zwischen deren Anschauungen ausmacht. In den Digressionen 9 bis 12 fasst er seine eigenen Ansichten zu dieser Thematik zusammen. (113–141)

An seiner Betrachtungsweise ist umgehend herauszuheben, dass der doctor universalis das Problem rein naturphilosophisch (ex solis physicis) abhandelt. (69) Der Naturwissenschaftler spricht nach ihm von einer prophetischen Schau „insofern es eine Tätigkeit der intellektuellen Seele ist" (secundum quod est una operationum animae intellectivae). (80f.) Und die Prophetie bezeichnet Albert als einen Vorgang, in dem man „durch die Entrückung seines Intellekts" (per raptum intellectus sui) zum Wissen um Zukünftiges gelangt, das weder durch eine Untersuchung (inquisitio) noch durch Vernunftaufschluss (ratio) gewonnen werden kann. (83) Wenn er da auch von einem raptus spricht, so gleitet Albert nicht in einen monastisch getönten Mystizismus augustinischer Prägung ab – man könnte hier an die Viktoriner denken – sondern er bewegt sich in den Bahnen jenes neuplatonisch tingierten Peripatismus, der ihm vornehmlich aus dem Werk Avicennas nahe gebracht worden war. Seit De homine ist eine intensive Rezeption festzustellen. Die göttliche Offenbarung war von Alfarabi und Avicenna so dargestellt worden, dass sie in einer Emanation der Wesensform über die abgetrennten Substanzen, die kosmischen Intelligenzen, erfolgt und bis zum menschlichen Intellekt reicht. Nach Alfarabi bildet dieser den Abschluss der intellektuellen, in Abwärtsstufen gedachten Emanation der aus der ersten Ursache hervorgehenden Wesensform, so dass der menschliche Intellekt als zehnte Intelligenz schließlich mit dem ewig tätigen und unsterblichen intellectus agens gleichgesetzt wird, wie er in Aristoteles' De anima aufgeführt ist. Ergänzend dazu führt Albert an, es sei nötig, um die himmlische Offenbarung bestmöglich zu empfangen, die Seele zur freien Aufnahme dieser so zu disponieren, dass sich die Seelenvermögen einer tugendhaften Disziplinierung unterwerfen, um die seelische Innerlichkeit zu ordnen und in eine asketisch befähigte Haltung zu überführen. (95) Geistes- und Tugendadel gehören eng zusammen, was sich aus Platon, Aristoteles und Avicenna in unterschiedlicher Weise begründen ließ und bei Albert, Thomas von Aquin, Siger von Brabant und Dante Alighieri fortwirkte.

Schwierigkeiten sieht Albert aufziehen, wenn man, wie Avicenna und Algazel, den Intellekt von der körperbezogenen Seele des Menschen rigoros abtrennt, denn dann wird eine Seele konstruiert, die alles apriori durch sich selbst weiß, vergessend, dass es nach Aristoteles der ganze Mensch sein muss, der erkennt und aus der Erfahrung unter Einbeziehung seiner Vorstellungen Wissen erwirbt. (97) Andererseits stellt Albert ganz im Sinne des von den Arabern geprägten Prophetiemodells fest: „Die Natur und die Fähigkeit zur Prophetie hat jeder, der hinsichtlich des getrennten tätigen Intellekts vortrefflich veranlagt ist und ein gutes und vollkommenes Vorstellungsorgan erlangt hat, welches dem Intellekt dadurch dient, dass es ihm die Formen zuführt,"[4] (137) die aus der himmlischen Ursache zu ihm gelangen. Jene erlangte prophetische Einsicht bedient sich innerseelisch als Zwischenstationen des sensus communis, der imaginatio sowie der virtus formativa, die während des Schlafes die von der getrennten Intelligenz gelieferten spirituellen Formen aufnehmen und die aus der aktiven Wahrnehmung bewahrten Vorstellungen bereithalten sowie bearbeiten. Es sind die davon ablenkenden sinnlichen Leidenschaften, die dem Menschen die Veranlagung zum Empfang der himmlischen Formen verstellen. Strebt er hingegen intellektuelle Tugendhaftigkeit an, zieht sich sein Vorstellungsvermögen (imaginatio) aus der von den Leidenschaften erzeugten Unordnung zurück, und widmet er sich den hohen Wissenschaften, dann bringt der Mensch sowohl den Intellekt als auch die Vorstellungskraft in einen Zustand maximal aufnahmebereiter Reinheit, sodass er für die himmlischen Offenbarungen empfänglich ist und die weissagende Prophetie, die auch in der Zukunft Verborgenes enthüllt, zu vollziehen vermag. (139) Jene himmlischen Wesensformen, die einer entfernten Ursache entstammen und auf die Seele einwirken, unterliegen indes keiner strengen Determination, denn deren Wirken wird durch interstellare Einwirkungen sowie elementische Mischungsverhältnisse beeinflusst, so dass deren Wirksamkeit gleichsam gebrochen erscheint. Da walten nach Albert physikalische Zusammenhänge, die in ihrer natürlichen Eigenheit mitgedacht werden müssen, denn prinzipiell gilt auch hier: Was nichts berührt, wirkt auch nicht. Dieser Einwand richtet sich gegen den Astraldeterminismus, den Albert bei den Arabern am Werke sieht und der für die Wirksamkeit des freien Willens keinen Platz lässt. Diese intellektuelle Reserve spiegelt sich dann auch in seiner Auseinandersetzung mit der stoischen wie arabischen Lehre vom fatum wieder.[5] Allerdings redet Albert in De divinatione allein von rational begründeten Prophetien und scheidet aus dieser Betrachtung die Visionen und Prophetien der erhabensten Theologen (altissimos theologos) aus. (139)

Alberts intensive Beschäftigung mit der die Träume ausdeutenden Prophetie ist nicht allein damit zu erklären, dass sich der Ahnherr der Peripatetiker mit der Weissagung aus Traumgebilden bereits befasst hatte. Bezogen auf die grundsätzlichen Fragen seiner Philosophie hatte für Albert freilich stets gegolten, dass Aristoteles zu folgen ist, stimmten doch alle Peripatetiker darin überein, dass Aristoteles das Wahre gesagt habe (Aristoteles verum dixerit), da sie bekannten, dass die Natur diesen Menschen gleichsam als Richtschnur zur Wahrheit aufgestellt hat (quod natura hunc hominem posuit quasi regulam veritatis). An ihm demonstrierte sie die höchste Vollkommenheit des menschlichen Intellekts (summam intellectus humani perfectionem demonstraret). Aber, so hatte Albert in seinem De anima-Kommentar auch eingeschränkt, die Peripatetiker legen Aristoteles auf unterschiedliche Weise aus (exponunt diversimode), so wie es mit der Aussageabsicht (intentioni) eines jeden einzelnen von ihnen übereinstimmt.[6] Hier nun wird Albert kritisch anmerken, dass sich Aristoteles mit den methodischen Grundlagen der Traumdeutung viel zu wenig befasst habe (56, Anm. 129). Das allein zum Ausgangspunkt zu nehmen, wäre zu kurz gegriffen, denn die Idee, dass prophetisches Wissen vom Menschen erlangt werden kann, war im arabischen Kulturkreis fest eingewurzelt. Unter den davon geprägten Philosophen besaß die Prophetie einen einzigartigen Stellenwert, denn dem auserwählten Propheten Mohammed war es anerkanntermaßen zugekommen, die göttliche Wahrheit direkt zu offenbaren.[7] Stellte dies für den philosophisch Gebildeten eine unverrückbare Tatsache dar,[8] dann war rational zu begründen, wie es einem sterblichen Menschen möglich wird, göttlicher Wahrheit teilhaftig zu werden. Zunächst muss dazu bewiesen werden, dass die Seele eines natürlich disponierten Menschen dazu gelangen kann, ein Seelenvermögen auszubilden, das die kontingente Natur der natürlichen Seelenkräfte übersteigt, um in die Lage zu kommen, die göttliche Wahrheit zu erwerben. Insonderheit ist zu untersuchen, über welche Vollendungsstufen speziell der Intellekt verfügen muss, um die Kenntnis von jenen universal wirkenden Prinzipien erwerben und in Begriffe umsetzen zu können. Und diese Seele samt ihrer intellektuellen Möglichkeiten muss als notwendiger Teil der göttlichen Ordnung ausgewiesen sein, die den natürlichen Bestand des Weltgefüges vollständig sichert. Ein Aspekt dessen zeigt sich in der peripatetisch geprägten arabisch-jüdischen Tradition, von der die Autorin in ihrer Einleitung sagt, dass sich darin die Absicht zeige, „die aristotelische Lehre mit einer religiösen Tradition in Einklang zu bringen". (20) Aber dies ist es nicht nur, denn wie A. de Libera gezeigt hat,[9] wurde darin zugleich eben auch jene Zuversicht des glückselig Philosophierenden (fiducia felicis philosophantis) im anspruchsvollen Gleichklang mit Alfarabi, Avicenna und Averroes zu einer hochgestimmten Intellektlehre entwickelt.[10] Sie half Albert, sein Menschenbild gegen das der augustinisch geprägten Traditionalisten zu positionieren und begründete seinen Erkenntnisoptimismus, den Intellekt mit dem Göttlichen verbinden zu können. Dies mündete in die Lehre von der betrachtenden Glückseligkeit (felicitas contemplativa) im Diesseits, die er einer professionell argumentierenden Gelehrtenelite zusprach.[11]

Albert hatte den Zusammenhang von Weissagung, Prophetie und intellektueller Wesenserkenntnis, der ihm vornehmlich in den Texten Avicennas entgegentrat, durchaus präsent. Ausdruck dessen war seine grundlegende Überzeugung, dass, wie schon Aristoteles postuliert hatte, das Wesen des Menschen in seinem Intellekt besteht und der Empfang göttlicher Weisheit darauf gründet, dass im intellektuellen Seelenteil des Menschen bereits etwas Göttliches angelegt ist, das diese Anbindung im Sinne einer teleologisch eingebundenen Rückkehr – die sich gegebenenfalls auch als neuplatonisch ausdeutbare epistrophê beschreiben lässt – ermöglicht. Und eben dieser Ort allerhöchster Rationalität, der ohne gottgewollten Begnadungsakt auskommt, lässt sich ebenso philosophisch erschließen, wie sich das innerseelische Ausbilden von Träumen rational erklären lässt. Das aber kann nicht bedeuten, dass die Götter oder die kosmischen Intelligenzen in der Lage sind, unmittelbar Träume in die Seele einfließen zu lassen, (109) denn diese müssen innerseelisch gebildet werden.

Albert befasste sich mehrfach mit den diesbezüglichen Lehren arabischer Gelehrter.[12] Von Avicenna war jene dazugehörige und von allem Körperlichen abgetrennte Intellektstufe intellectus sanctus oder intellectus mundus genannt worden; Aristoteles hatte diesen nous nach Albert als intellectus divinus bezeichnet. Nur ein solch hochstehender Intellekt erhält von der dem Menschen eigenen Anstrengung zu wissen, die Erleuchtung zu Prophetien und zur richtigen Traumdeutung. Nach Albert sind es im eigentlichen Sinne die herausragenden Philosophen (excellentiores philosophi), die man als Propheten bezeichnet hat. Sokrates, so hatte es bereits Apuleius gewusst, war als der erste Prophet anzusehen, da er seinen Gott „nämlich im Geist und mit völlig verschlossenen Sinnesvermögen betrachtete" (mente sic contemplatus est omnino clausis sensibus). (141) Wenn sich derart beschaffene Menschen von den Erregungen der Sinnesvermögen losreißen (abstrahantur a motibus sensuum), oft in der Einsamkeit verweilen und sich von der Sorge um das Fleisch und die körperlichen Genüsse lösen, werden Propheten hervorgebracht (efficiuntur prophetiae). Würden sie diese asketische, nach innen gewendete Haltung nicht einnehmen, dann wäre ihre Seele von den vielfältig ablenkenden weltlichen Vorgängen besetzt und in Unordnung gehalten, so dass sie die Einwirkungen des Göttlichen (impressiones caelestium) nicht mehr erfassen kann. Hat sie sich davon zurückgenommen, nimmt sie solches wahr und verschafft dem Menschen die dem entsprechenden Vorstellungen, weil es der Seele naturgemäß zukommt, nach den körperlichen Vorstellungen zu erkennen (sub imaginibus corporalibus cognoscere). In solchen Einwirkungen des Göttlichen wurzeln jene Träume (radicantur illa somnia), die etwas von der Zukunft angeben (quae aliquid significant de futuris).[13]

Doch kehren wir von den Darlegungen des De anima-Kommentars zu unserer Schrift zurück, die ja konzipiert worden ist, um die Funktionsweise seelischer Vermögen – hier rückt das Vorstellungsvermögen (imaginatio) in den Fokus – näher auszuleuchten. Im zweiten Traktat von De divinatione widmet sich Albert, indem er die aristotelische Abhandlung De divinatione per somnum paraphrasiert, den Ursachen und Daseinsweisen von Träumen, aus denen mittels der Kunst des Traumdeutens die Weissagungen erfolgen. Albert geht an keiner Stelle auf zeitgenössische Interpreten zu diesem Thema ein, sondern betont demonstrativ seinen Anschluss an den klassischen Text des Aristoteles. Träume, so legt er Aristoteles aus, können angeeignete Ursachen (causas) der Dinge, oder Zeichen (signa) sein, die auf jene verborgenen Formen hinweisen, die man im Traum gesehen hat. (143) Am Tage gehen ja die Eindrücke von außen nach innen, des Nachts steigen die Vorstellungsgebilde im Schlaf von innen nach außen auf, um uns zu erscheinen. Albert sortiert die ungeordneten, flüchtigen und von Körperaffektionen bedingten Träume aus, um von den ungewissen (incertissima somnia) zu den gewissen Träumen vorzustoßen. Da nach Aristoteles im Traum die direkte Präsenz des Wahrnehmungsgegenstandes fehlt, ja die Wahrnehmungsvermögen als Akteure während des Schlafes inaktiv sind, wird die Wahrnehmungserscheinung aus der Vorstellungskraft heraufgeholt, denn nach Aristoteles bleiben die Wahrnehmungen als Bewegungen (kineseis) in den Sinnesorganen zurück, was auch für die inneren Sinne zutrifft. Im Wachzustand von der aktuell tätigen Wahrnehmung überdeckt, können sie – in freilich fragmentierter und somit täuschungsanfälliger Form – im Schlaf freigesetzt werden. Täuschungsanfällig sind sie deshalb, weil es dem Zentralsinn nicht möglich ist, die Vorstellung direkt auf die zutreffende Objektreferenz hin zu prüfen und zu beurteilen.[14] Erfolgt der Traum in wahrnehmbaren symbolischen Formen, so ist nach Alfarabi davon auszugehen, dass die imaginatio jene Vorstellungen vorbereitet, die die vom abgetrennten Intellekt ausgegangenen Inhalte in sinnenhafter Art und Weise wiedergeben. Geistig erfassbare Inhalte sind daher im Traum nur als zeichenhaft symbolische wiederzugeben, womit Albert übereinkommt, der erneut betont: „Die Wissenschaft der Träume ist nämlich eine natürliche Lehre und durch natürliche Prinzipien begründet, nicht göttlich in dem Sinne, dass sie allein durch göttliche Prinzipien verursacht werden."[15] (155) Aus der Erfahrung lässt sich nach Albert hinsichtlich der Menschennatur aber auch zeigen, dass es nicht in jedem Falle die Weisesten sind, die über die reichhaltigsten Träume verfügen, sondern es sind dies allermeist die geistig wenig wendigen Melancholiker, die eine natürliche Disposition dazu besitzen, da ihre Vorstellungsgebilde fest anhaften und somit vom Intellekt gut durchdrungen und somit formiert werden können. (171, 179)

Insgesamt zeugt die von S. Donati vorgelegte Übersetzung von brillanter Textkenntnis und besticht durch gelungene Auflösungen. Wie überlegt hier vorgegangen worden ist, bezeugt auch das dem Literaturverzeichnis angefügte lateinisch-deutsche Glossar der wichtigsten Termini, das eine Extralektüre durchaus lohnt. (193–201) Dennoch möchte ich zu einem allgemein zu beobachtenden Problem etwas anmerken. Aristoteles war hinsichtlich der wahrsagenden Träume davon ausgegangen – und hier bezog er sich auf eine Überlegung Demokrits –, dass von den zu erkennenden Gegenständen keine Bildchen (eidola) ausströmen, die dann aufgenommen, schließlich auch auf den Träumenden einwirken, wie dieser angenommen hatte, sondern dass dies Bewegungen sein müssen, die ausgesandt und in natürlicher Weise vermittelt werden, die dann aus der Vorstellungskraft heraus auf den Träumenden einzuwirken vermögen. Das Momentum kontaktkausaler Anregung bleibt erhalten, inhaltlich lässt sich allerdings mit dem Bildbegriff wenig anfangen. Wenn kognitiv bestimmte Erkenntnisformen in den Blick gelangen und entschieden werden soll, nach welchem Gedankenmodell dem, was man gemeinhin unter Repräsentation versteht, Ausdruck verliehen werden soll, zeigt sich das Problem, auf das hingewiesen werden soll, konkret dann, wenn bspw. phantasma zu übersetzen ist und hierfür „Vorstellungsbild" gewählt wird. Ich gebe zu bedenken, dass H. Busche mit guten Gründen bereits im Hinblick auf die von Aristoteles in De anima entwickelte Lehre hat zeigen können, dass eine solche kognitive Bildgebung, oder Bildung, aus dem unterlegten Modell vom eingesiegelten Abbild herausrutscht und im eigentlichen Sinne zum „Vorstellungsgebilde" wird.[16] Es liegen dann auch in Alberts Epistemologie nur noch sehr begrenzt Abbilder im Sinne des aristotelischen Siegelungsmodells vor, die er in genauer Entsprechung zu Aristoteles zum Einsatz bringen kann, denn in ihren jeweiligen Konstellationen stellt sich in unterschiedlicher Verschränkung damit immer auch etwas davon Gebildetes dar. Daher kann der einfache Repräsentationsgedanke nicht durchweg Geltung beanspruchen, dem eine Vorstellung von formierter Abbildlichkeit unterlegt ist, die vom fixierten Dingbegriff abgenommen wird und dessen piktorale Abgrenzung mit sich führt. Insofern scheint es mir wichtig zu sein, noch einmal genauer über den Bildbegriff und den Anteil der intentional bedingten Konstruktion nachzudenken, um ihn zutreffender in die jeweiligen Zusammenhänge einsetzen zu können. Die Aristoteleskommentatoren des arabischen Kulturkreises hatten ja sehr wohl bemerkt, dass die Vorstellung von einer piktoral verstandenen Eigenschaftsrepräsentanz auf der kognitiven Ebene zu wenig erklärt. Und ihre Skepsis hatte sich bereits zu der Gewissheit verdichtet, dass die Annahme eines Ab-Bildes, die auf der Siegelungs –, bzw. Spiegelungsidee basiert, wenigstens ergänzt, wenn nicht abgestreift werden muss. Dass da neu zu denken ist, war von Avicenna und Averroes insofern verdeutlicht worden, als jene in der Erkenntnislehre sich veranlasst sahen, der species die intentio an die Seite zu geben, die sich aufgrund ihrer nichtfiguralen Natur qua Abbild nun gar nicht mehr beschreiben ließ. Der Versuch eines tieferen Verständnisses fiel jedoch in der Einzelerklärung von Wahrnehmungsphänomenen immer wieder auf das Modell von den sich einsiegelnden Erkenntnisformen zurück, was sich in einer seltsam unaufgelösten Ambivalenz ausdrückte, die in wirkliche Nöte geriet, wenn sie erklären wollte, was eine unsinnlich existente Form, die nach hylemorphem Verständnis in jeder sensitiv gewonnenen Wahrnehmung enthalten sein soll, in ihrer kognitiv angeeigneten Art und Weise überhaupt ist. Im epistemischen Gebrauch der species-Lehre hatte sich zudem gezeigt, dass die von Einzeldingen abgenommenen Formen Universalisierungspotential aufweisen müssen, womit das im Formbegriff mitgeführte Gestaltmoment soweit verflüchtigt war, dass sich in der Verallgemeinerung die Gestaltfixierung auflöste. Unterstellt war jedoch seit Aristoteles, dass species sensibiles in dieser bestimmten-unbestimmten Doppelnatur auftreten, denn ihrer Natur nach werden sie als spezifisch besonderte Artformen angesehen, da ansonsten die enthaltenen Formen nicht abgelöst und zu species intelligibiles abstrahiert werden können. Dass sie von spiritueller Natur sein sollen, hatte in Alberts Überlegungen an die Stelle des „was" nur das „wie" gesetzt, half aber in der Sache nicht wirklich weiter.

Ein abschließendes Wort zu der angemessen ausführlichen und sorgsam strukturierten Einleitung. (9–64) Zunächst wird darin Alberts Kommentar in die Genealogie seiner Werke eingeordnet, der strukturelle Aufbau der Abhandlung besprochen, um dann den Leser mit dem philosophischen Kontext vertraut zu machen, innerhalb dessen sich die Argumentationsweise Alberts bewegt hat. In klarer Weise wird dabei die einschlägige Lehre des Aristoteles abgehandelt, wie die der arabischen und jüdischen Tradition, das theologisierende Modell der platonisch-stoischen Tradition und letztlich der wissenschaftliche Anspruch der astrologisch-astronomischen Lehre des Ptolemaios. Dieser Teil der erläuternden und texterschließenden Darlegung ist in gleicher Weise zu loben, wie die sich daran anschließende Übersicht über die herausgearbeiteten Eckpunkte, durch die sich Alberts Lehre von der Weissagung und Prophetie auszeichnet.

Insbesondere Philosophiestudenten, aber auch jene, die für Alberts philosophisches Denken Interesse zeigen, dürfen sich darüber freuen, dass in Herders so verdienstvoller Bibliothek der Philosophie des Mittelalters der nunmehr sechste Band zu Albertus Magnus in vorzüglicher Ausführung zur Verfügung steht.

Footnotes 1 Der rare Frühdruck Venedig 1517 sei hier übergangen. 2 Vgl. H. Anzulewicz, De forma resultatente in speculo. Die theologische Relevanz des Bildbegriffs und des Spiegelbildmodells in den Frühwerken des Albertus Magnus (BGPhThMA 53/1), Münster 1999, S. 178. 3 Wenn Albert sich mit den stoici befasst, so meint er nicht selten die Platoniker. Allerdings ist es nun so, dass er hier in erster Linie den stoischen Determinismus im Auge hat, wie er sich in Ciceros Abhandlung De divinatione eingearbeitet finden ließ. 4 Vgl. Albertus Magnus, De divinatione tr. 1 c. 12, S. 136: „Naturam enim et habitum prophetiae omnis ille habet qui optime dispositus in intellectu agente separato, bonum et perfectum adeptus est organum imaginationis, quod intellectui formas subministrando deservit, ..." 5 Vgl. A. Palazzo, „Albert the Great's doctrine of fate", in: L. Sturlese (Hg.), Mantik, Schicksal und Freiheit im Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 65–95, 94f.: „In terms oft he changes Albert's teaching underwent, it is only in the Physica that his approach to fate becomes more comprehensive, and where, apart from his concern for contingency, he makes an attempt to define the exact nature of fate. [...] Another original aspects of Albert's discussion is his insistence on the ways the effects of celestial causality can be counteracted and interfered with the men. In some works (Mineralia, De intellectu et intelligibili, De somno et vigilia, De animalibus) this insistence culminates in the depiction oft he performances of those special categories of men (prophets, astrologers, philosophers, and magicians) who, in different ways and to different extents, are able to predict, impede, and exploit the fatal influence exerted by the heavenly bodies." 6 Vgl. Albertus Magnus, De anima III tr. 2 c. 3, Ed. Colon. VII/1, Münster 1968, S. 182, 6–14. 7 Vgl. D. Gutas, „Avicenna: De anima (V 6). Über die Seele, über Intuition und Prophetie", in: K. Flasch (Hg.), Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. Mittelalter, Stuttgart 1998, S. 90–107; Averroes, Die Untersuchung über die Methoden der Beweise im Rahmen der religiösen Glaubenssätze 5. Kap. (259), übers. v. P. O. Schaerer, Stuttgart 2010, S. 173: „... dass es von der Klasse derjenigen, die man Gesandte und Propheten nennt, selbstevident ist, dass es sie gibt, und dass es diese Klasse von Leuten ist, die den Menschen die Gesetzesreligionen stiften, und zwar durch von Gott eingegebene Offenbarung und nicht durch menschliche Belehrung." 8 Vgl. Abu Nasr Al-Farabi, Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt V c. 15.10, übers. v. Cl. Ferrari, Stuttgart 2009, S. 90f.: „... dieser Mensch, der die Offenbarung erhält, und der allmächtige Gott gewährt ihm die Offenbarung vermittels des aktiven Intellekts, so dass das, was vom allmächtigen Gott (als Emanation) ausgegossen wird zum aktiven Intellekt, zum passiven Intellekt ausströmt mittels des erworbenen Intellekts und von da zum Imaginationsvermögen. Auf diese Weise wird dieser Mensch durch die Emanation vom aktiven Intellekt zu seinem passiven Intellekt weise, wird Philosoph und von vollkommener Intelligenz, nämlich durch seinen Intellekt, der göttliche Qualität hat. Und durch die Emanation vom aktiven Intellekt zu seinem Imaginationsvermögen wird er zum Propheten, der vor den Dingen warnt, die kommen werden, und der die Dinge verkündet, die gegenwärtig sind." 9 Vgl. A.de Libera, Denken im Mittelalter, München 2003, S. 106–109. Vgl. Albertus Magnus, De anima III tr. 3 c. 11, Ed. Colon. VII/1, Münster 1968, S. 221, 55. Vgl. J. Müller, Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus, Münster 2001, S. 359–376. Vgl. Albertus Magnus, De intellectu et intelligibili I tr. 3 c. 3, Opera omnia 9, ed. A. Borgnet, Paris 1890, Sp. 501a–501b: „... et haec vocatur intellectus sanctus sive mundus ab Avicenna, ab Aristotelis autem dicitur intellectus divinus. Et hic intellectus de studio levi prophetias accipit illuminationem et ad somniorum verissimam interpretationem." Ebd., II tr. unicus c. 11, Sp. 520a. Vgl. Albertus Magnus, De anima III tr. 1 c. 1, Ed. Colon. VII/1, Münster 1968, S. 166, 61–167, 29. Vgl. Aristoteles, De somniis c. 3 (461a 25–462a 8). Vgl. Albertus Magnus, De divinatione tr. 2 c. 4, S. 154: „Somniorum enim scientia et eruditio naturalis est et ex naturalibus causata principiis et non divina quae non nisi ex principiis causetur divinis, ..." Vgl. H. Busche, Die Seele als System. Aristoteles' Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2001, S. 57.

By Norbert Winkler

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Titel:
Kritik über Grosse & Donati (2020): De divinatione (Liber tertius de somno et vigilia), Über die Weissagung (Drittes Buch über das Schlafen und das Wachen), (lateinisch – deutsch).
Autor/in / Beteiligte Person: Winkler, Norbert
Link:
Zeitschrift: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 23 (2020), Heft 1, S. 302-312
Veröffentlichung: 2020
Medientyp: review
ISSN: 1384-6663 (print)
DOI: 10.1075/bpjam.00067.win
Schlagwort:
  • DE divinatione (Liber tertius de somno et vigilia), Uber die Weissagung (Drittes Buch uber das Schlafen und das Wachen), (lateinisch - deutsch) (Book)
  • GROSSE, Albert
  • PROPHECY
  • SLEEP
  • NONFICTION
  • Subjects: DE divinatione (Liber tertius de somno et vigilia), Uber die Weissagung (Drittes Buch uber das Schlafen und das Wachen), (lateinisch - deutsch) (Book) GROSSE, Albert PROPHECY SLEEP NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Freie Universität Berlin, 046ak2485

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